Walter Heun ist eine Institution in Sachen zeitgenössischer Tanz. Seit der Spielzeit 2009/10 leitet er mit einem, wie er sagt, „wunderbaren Team“ das Tanzquartier, das nun nach insgesamt 15 Jahren im Museumsquartier dort selbst nun endlich auch mit einem Logo sichtbar geworden ist. „Kennen Sie den Buchbinder Wanninger?“, stellt er im Gespräch diesbezüglich die Frage in den Raum, womit klar ist, dass die Bemühungen um die Anbringung eines sichtbaren Logos im Museumsquartier nicht nur eine unendliche Geschichte, sondern eine absurde Langzeitepisode in seinem beruflichen Werdegang darstellt.
Man müsste meinen, dass Walter Heun sich bereits mitten in seiner Umorientierungsphase befindet. Verlässt er doch mit Ende der Saison das Haus, das zeitgenössischen Tanz vor allem auch mit einem theoretischen Unterbau bedenkt und abbildet.
Eigentlich habe ich mir gedacht, ich kann das letzte Jahr auschillen lassen. Aber das Gegenteil ist der Fall!
Das hat auch damit zu tun, dass Heun die Präsidentschaft des European Dance House Network (EDHN) übernommen hat, in der Meinung, es handle sich dort um einen Repräsentationsjob. Zumindest erzählt er diese Variante im Interview. Wer ihn aber näher kennt, weiß, dass das so nicht ganz stimmen kann, denn Heun ist einer, der erstens in jedem Job, den er bisher innehatte, intensiv über seine Aufgaben nachdachte und zweitens etwas bewegen will. Nur einfach repräsentieren geht bei ihm nicht.
Das Netzwerk hat vor drei Jahren eine EU-Förderung bekommen, nun muss der Antrag für die nächsten drei Jahre eingereicht werden. „Brutal viel Arbeit“ heißt das im Heun-Diktum. Aber selbstreflektierend wie er ist, weiß er, dass er sich den Präsidialjob selbst erschwert hat, denn anstelle eines 2-seitigen Positionspapieres gab er ein 7-seitiges Konzept ab, wie das Netzwerk als politische Kraft in Europa positioniert werden könne.
Dass diese Aufgabe neben viel Arbeit aber auch schöne Seiten hat, wird deutlich, als er, sichtlich dankbar, über seine Besuche in den Bürgermeisterämtern von Marseille oder Helsinki berichtet.
Jean-Claude Gaudin ist seit 22 Jahren als Bürgermeister in Marseille im Amt. Er ist sozusagen der Michael Häupl von Marseille. So jemandem einmal nahe zu sein, mit ihm auf Augenhöhe sprechen zu dürfen, war sehr schön. Oder auch das Gespräch mit der Vizebürgermeisterin in Helsinki in ihrem Büro, das stattfand, um ihr nahezubringen, dass sie für das dortige Tanzhaus doppelt so viel braucht, als sie bislang etatisiert hatte, war toll. Dabei hat sie mir die Pläne für das neue Guggenheim-Museum gezeigt und die Baustelle von ihrem Fenster aus erklärt. Das sind Momente, in denen man sich denkt: Da darf man schon ein privilegiertes Leben führen.
Heun gelang in den letzten Monaten auch der Coup, bei „Creative Europe“, dem Rahmenprogramm der Europäischen Kommission für die Unterstützung der Kulturbranche und des audiovisuellen Sektors mit zehn Mitgliedern des EDHN vorstellig zu werden und den Verantwortlichen die Realität, Sorgen und Nöte der europäischen Tanzszene vorzustellen.
Das zeigt nicht nur seinen hohen Vernetzungsgrad, sondern auch die internationale Anerkennung, die er im Bereich des zeitgenössischen Tanzes genießt.
Die Arbeit und Aufgaben im Tanzquartier erklärt er wider Erwarten gar nicht aus einer philosophischen Meta-Ebene, sondern sehr pragmatisch.
Wir positionieren uns im Tanzquartier politisch eher in grundsätzlichen Fragen. Wie kann unser Zusammenleben funktionieren? Wie können wir zusammen sein? Wenn man die 10 Gebote der christlichen Religion oder auch anderer hernimmt, oder die Grundgesetze, dann steht immer dasselbe drin: Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem anderen zu. Da steht drin, dass man dem anderen nicht etwas wegnehmen soll und die Freiheit des einen auch immer die Freiheit des anderen ist. Diese grundlegenden Prinzipien sollte man, wenn man in Frieden leben will, tunlichst einhalten, egal welcher politischen Couleur man angehört. Wenn man sich das Geschehen in Amerika ansieht, dann bemerkt man, dass man zwar eine Wahl gewinnen kann, sein Volk gewinnt man damit aber noch lange nicht, wenn man mit Mitteln agiert, die zutiefst undemokratisch und unmenschlich sind.
Mit dem Format „scores“ wurde unter seiner Ägide ein weit über die Grenzen Österreichs hinaus beachtetes Festival geschaffen, das in diesem Jahr den Titel „Out of border, out of order“ trug und so etwas wie eine Zusammenfassung der vergangenen Jahre im Tanzquartier bedeutete. Dabei waren internationale Künstlerinnen und Künstler in Wien zu Gast, die, zum Angreifen nahe, dem Wiener Publikum ein Kennenlernen „des Fremden, des Anderen“ ermöglichten.
Wenn Menschen, die sich immer über „die Anderen, die Fremden“ aufregen, vielleicht einmal ein paar von den “Anderen“, den „Fremden“ kennenlernen würden, dann würden sie feststellen, dass es unheimlich viele Gemeinsamkeiten gibt. Unsere ganze westliche Kultur ist aus dem Nahen Osten, über das persische Reich nach Griechenland, über Alexandria in den Mittelmeerraum gekommen. Wie kann man so vergesslich sein, sich jetzt hinstellen und sagen: Die wollen wir nicht haben?
Obwohl Heun nur mehr einige Monate im Haus bleibt, hat er Visionen, was er hier in Zukunft machen würde.
Mit einer längeren Perspektive hätte ich vielleicht dafür gesorgt, dass der Tanz in die Regionen geht, in Orte, die sich scheinbar von der Globalisierung ausgegrenzt fühlen, in denen die Menschen unbestimmte Ängste vor dem Fremden haben, obwohl sie es eigentlich nicht kennen. Deswegen können sie auch solche Ängste haben. Wenn sie einmal miterleben würden, was ich im März oder April bei der Vorbereitung unserer letzten scores-Ausgabe in Beirut erlebt habe, würde das anders aussehen. Da saßen wir abends in einem Cafe und einer der arabischen Musiker packte sein Schlaginstrument aus, der nächste nahm seine Oud (arabische Kurzhalslaute), eine iranische Tänzerin kam dazu und plötzlich tanzten Menschen aus 50 Nationen miteinander. Da stellte ich mir die Frage: „Wo ist eigentlich das Problem?“ Wenn so etwas oder so etwas Ähnliches mehr Menschen miterleben könnten, dann würden sich die Ängste vielleicht mehr legen. Deswegen würde ich zukünftige Tanzaktivitäten auch in die Regionen verlagern. Man könnte dort mit verschiedenen Formen der Tanzvermittlung arbeiten, damit da die Leute einfach die Qualität von Begegnungen mit den anderen, die im Tanzen liegt, mitbekommen.
Und da das Tanzquartier, wie Heun sagt, dann doch ein wenig subversiv ist, würde er dem Publikum dort den ein oder anderen Künstler aus einem anderen Kulturkreis unterjubeln, den er sehr fremd findet. Die Brücke würde er über ortsansässige Künstler schlagen.
Dann ist halt da einer dabei, den sie nicht kennen, aber ganz nett finden und hinterher im Gespräch vielleicht rausfinden: „Ach, der ist ja gar nicht von da!“ Man muss irgendwie die Brücke schlagen. Es fühlen sich wahnsinnig viele Menschen von dem politischen System ausgegrenzt, das hat man in Amerika ganz deutlich gemerkt. Die gesellschaftliche Spaltung erinnert an die Zeit vor den großen Kriegen. Und das ohne wirkliche Not. In den 20er Jahren war Weltwirtschaftskrise, die Gesellschaft polarisiert. Damals hatten die Leute wirkliche Not, Hunger gelitten. Da sind wir weit davon entfernt. Aber vielleicht ist es jetzt so, weil wir in den sozialen Medien nur mehr mit den Leuten kommunizieren, die ohnehin der gleichen Meinung wie wir sind. Dadurch verfestigt sich diese Meinung und es gibt keinen journalistischen Filter, keine ausgewogene Berichterstattung mehr.
Das erste Mission-Statement des Tanzquartier-Chefs und seinem Team betraf die Gastfreundschaft, der sich der Intendant bis heute verpflichtet fühlt. Auf die Frage, worauf der Kurator, Tanzproduzent und -veranstalter, Institutsleiter, Networker eigentlich stolz sei, führt er neben dem Vorantreiben der künstlerischen Forschung und Theorie am Haus, zu dem sich auch ein gesellschafspolitischer Aspekt gesellte, das Feeling an. Jenes Gefühl, welches das Publikum des Tanzquartiers immer wieder einmal feststellen lässt: „Bei euch ist es wahnsinnig nett.“ Womit sich der Bogen zur Idee der gelebten Gastfreundschaft wieder schließt.
Ein Tanzhaus kann als Idee für eine offene Gesellschaft gesehen werden. Wenn ich mir vorstelle, eine Gesellschaft würde so arbeiten wie wir es im Tanzquartier tun, dann gäbe es weniger Probleme mit der Integration und Inklusion von anderen. Darauf bin ich stolz. Aber ich weiß auch um die Verantwortung um das Haus. Was das Tanzquartier macht, wird auf der ganzen Welt wahrgenommen. Wenn Politiker nachdenken: „Was machen wir mit dem Haus in Zukunft?“, müssen sie wissen: Das ist nicht nur ein lokales Bespieltheater, für ein lokales Publikum, das man im Grätzel befriedigen muss. Das TQW ist ein international positioniertes Haus, für das man Verantwortung trägt, die weit über Wien hinaus geht. Es wurde über 15 Jahre aufgebaut, dementsprechend weitsichtig muss man damit auch umgehen.
Wir haben ja seit 2001 eine ganz neue Generation von Choreografen national und international mit aufgebaut. Ian Kaler, den wir in allen Produktionen von sehr frühem Beginn an koproduziert haben. Deutinger/Navaridas, Loose Collective, Nadaproductions, Jefta van Dinther, Noé Soulier, Mette Ingvartsen, Laurent Chetouane uvm. Dann kommen noch die strukturbildenen Maßnahmen dazu, die auch der Szene die Möglichkeit boten, sich weiterzuentwickeln. Dazu gehört das Format „FEEDBACK“, als Plattform für internationale Veranstalter, die sich über die hiesige Szene informieren wollen, die heute großen Zuspruch hat und international wahrgenommen wird. Der Aufbau der Mediathek, die Digitalisierung sämtlicher Aufzeichnungen, die seit 2001 im TQW gemacht wurden, die Plattform für österreichische Künstler – Open Space Austria, dann INTPA, die Vermittlungsplattform und natürlich die Mitgründung und Tätigkeit im European Dancehouse Network.
Walter Heun ist ein überzeugter Anhänger von life long learning.
Ich begreife meine Rolle im Tanz als ein permanentes Forschen und Erweitern meines eigenen Wahrnehmungsspektrums oder der Möglichkeiten, wie ich mich mit Kunst und der Welt auseinandersetzen kann. Der Tanz ist da ein extrem gutes Medium, um mit sich voranzukommen. Insofern habe ich das Gefühl, ich lerne ständig was dazu.
Und als ob die Leitung eines Hauses nicht Denksport genug wäre, gelingt ihm auch noch eine Neudefinition des zeitgenössischen Tanzes.
Die Philosophie der Zukunft muss in ihrer Zeit immer unzeitgemäß sein, sagte Nietzsche in seinen „unzeitgemäßen Betrachtungen“. Das gilt genauso für den zeitgenössischen Tanz. Auch er muss in seiner Zeit immer unzeitgemäß sein. Er ist nicht zeitgenössisch, weil er den Trend der Zeit aufgreift, sondern er ist unzeitgemäß, weil er sich mit den zukünftigen Möglichkeiten von Tanz beschäftigt. Wenn man konsequent sein will, müsste man immer von dem unzeitgemäßen Tanz sprechen, statt von zeitgenössischem.
Noch ist seine eigene berufliche Zukunft im Moment ungewiss, aber ein Wunsch steht ganz oben auf seiner Liste:
Ich wünsche mir einfach mehr Zeit. Ich habe mich für keine anderen Häuser beworben, die ausgeschrieben waren. Sie haben mich nicht gereizt. Ich möchte in Ruhe auch wieder mehr lesen. Ich war überrascht, als mich einige Kollegen in der Leitung der Stadsschouwburg in Amsterdam gesehen haben. Eine der wenigen Sachen, die mich gereizt hätten, wenn es nicht schon an Sasha Waltz vergeben wäre, wäre das Staatsballett Berlin gewesen. So ein Ballettensemble mit 90 bis 100 Tänzern zu nehmen und verschiedene Ensemblearbeit zu machen und voranzutreiben, hätte mich gereizt. Ich habe fünf Jahre als Spartenchef am Luzerner Theater gearbeitet und habe die Position eines Ballett-Direktors bezogen und die Sparte in ein Choreographisches Zentrum umgewandelt. Und den Etat, der fürs Ballett da war, habe ich genutzt, um in Koproduktion mit Residence-Modellen mit zeitgenössischen Choreografen zu arbeiten und sie kozuproduzieren. Das wäre ein Modell, das würde ich gerne noch einmal als Intendant probieren. Vielleicht auch für andere Sparten. Was mir auch Spaß macht, ist, Performance im Kunstkontext zu kuratieren.
Um dann ganz sportlich abschließend hinzuzufügen:
„Schaun mer mal!“, wie der Franz Beckenbauer immer so schön gesagt hat.