Wenn man etwas macht, dann muss man es ordentlich machen
02. November 2023
Am 31. Oktober 2023 fand anlässlich des 85. Geburtstages von Hermann Nitsch im Musikverein ein Konzert unter dem Titel „Nitsch und seine Musik“ statt. Michaela Preiner sprach im Vorfeld mit dem Dirigenten Patrick Hahn.
Michaela Preiner
Porträt Dirigent Patrick Hahn
Foto: (Gerhard Donauer | C&G Pictures)

Der Dirigent, Pianist und Komponist wurde 1995 in Graz geboren und hat sich als einer der vielseitigsten Künstler seiner Generation etabliert. Seit der Spielzeit 2021/22 ist er Generalmusikdirektor der Wuppertaler Bühnen und Sinfonieorchester GmbH und damit jüngster GMD im deutschsprachigen Raum. Er arbeitet regelmäßig mit Orchestern wie den Münchner Philharmonikern, den Klangkörpern des Bayerischen Rundfunks und den Wiener Symphonikern sowie mit Festivals und Opernhäusern in ganz Europa und Asien zusammen. Auch das Tonkünstler-Orchester Niederösterreich hat er schon mehrfach geleitet. Überdies ist er Erster Gastdirigent des Münchner Rundfunkorchesters.

MICHAELA PREINER
Sind Sie jemals bei einem Orgien-Mysterien-Theater gewesen?

Patrick Hahn
Ich war einmal dabei und zwar in diesem Sommer, also erst vor ein paar Monaten. Da wurde ein Tag vom Sechs-Tagesspiel aufgeführt, der dritte Tag als Tag des Dionysos, Gott des Weins, der Freude und der Ekstase. Das war schon spannend, weil ich nun auch die Musik in einem ganz anderen Licht sehe und höre. Nach so einem Besuch merkt man, wofür die Musik ursprünglich konzipiert war. Und in diesem Rahmen funktioniert sie natürlich auch besonders gut. Es war faszinierend, das einmal live zu erleben, nachdem ich immer nur Aufzeichnungen gesehen und Erzählungen gehört hatte.

MICHAELA PREINER
Glauben Sie, dass die Musik im Konzertsaal genauso funktionieren kann?

Patrick Hahn
Ich glaube, dass es ganz anders funktionieren wird. Wie gesagt, man spürt, dass die Musik für dieses Open-Air-Spektakel geschrieben wurde und nicht für das reine Hörerlebnis Aber wenn man ein wenig im Kopf hat, was im Orgien Mysterien Theater passiert ist und wenn man sich ein bisschen darauf einlässt, dass es kaum Melodie gibt oder große Bewegung, sondern der Orchestersatz aus langen, gezogenen Akkorden besteht, dann kann das schon auch einen schönen Effekt im Konzertsaal haben. Im Musikverein wird das Orchester riesig und die Aufführung ein spektakuläres Ereignis sein.

MICHAELA PREINER
Hermann Nitsch hat ja selber einmal in einem Interview gesagt, diese Musik sei nicht für den Konzertsaal gedacht. Das war sein O-Ton.

Patrick Hahn
Er hat sich aber ein bisschen revidiert, glaube ich. Als ich ihn kennenlernte, habe ich ihn nach seinen Kompositionen gefragt, weil ich wusste, dass er auch komponierte, seine Werke aber nie im Konzertsaal anzutreffen waren, außer den wenigen Aufführungen, die er selbst in Mistelbach organisiert hat. Ich habe ihn gefragt, ob es Stücke gibt, die nicht so lang sind. Daraufhin hat er mir jene Sinfonien gegeben, die ja drei Stunden und länger dauern und eine riesige Besetzung haben. Und er sagte ganz charmant: „Ich bin zu alt, um mich als Komponist Schritt für Schritt etablieren zu können. Entweder man spielt eines meiner großen Werke, oder man lässt es eben.“ Später hat er sich schon gewünscht, dass seine Sinfonien konzertant gespielt werden, auch wenn er sie eigentlich nicht für den Konzertsaal geschrieben und konzipiert hatte.

MICHAELA PREINER
Wie lange dauert das Stück?

Patrick Hahn
Die Spieldauer beträgt ungefähr 40 Minuten, das ist ein bisschen variabel. Zwar schrieb Nitsch exakte Minutenangaben in seine Partituren, aber man darf sich schon ein wenig Freiheit nehmen, wie man das ausgestaltet, weil man die Länge dem Aufführungsort anpassen muss. Zum Beispiel schreibt Nitsch Cluster, die über mehrere Minuten scheinbar unbewegt ausgehalten werden. So etwas kann man ganz behutsam verkürzen, um den Bogen zu halten, der im Konzertsaal ein anderer ist als bei einer Aktion im Freien.

MICHAELA PREINER
Wie groß ist denn das Ensemble insgesamt?

Patrick Hahn
Allein im Orchester auf der Bühne werden 112 Leute spielen. Hinzu kommt die Blaskapelle mit etwa 45 Personen.

MICHAELA PREINER
Es sind ja unterschiedliche Ensembles am Podium. Wie gestalten sich da die Proben?

Patrick Hahn
Es sind zwei Ensembles: Das Tonkünstler-Orchester und die Blaskapelle, die separat vom Orchester agiert. Die Kapelle bekommt von mir Zeichen zum Start und spielt dann ihren eigenen Part. Das ist wie bei den Aktionen in Prinzendorf, wo das Orchester im Schloss angeordnet ist und zwischendurch eine Blaskapelle marschiert, die etwas ganz anderes spielt.

MICHAELA PREINER
Ja, das denke ich mir, dass das eine Herausforderung ist. Ich bin schon gespannt, weil ich glaube, dass Nitsch mit seiner Musik und auch mit seinem Orgien-Mysterien-Spiel eine sehr starke Intention hatte. Das heißt, dass er wollte, dass das, was gezeigt wird und das, was man hört, was man riecht, in den Menschen etwas bewirken, dass es etwas auslösen solle. Wie war denn das, als Sie teilgenommen haben? Waren Sie ein bisschen außen vor, weil Sie sich eher auf das konzentriert haben, was musikalisch abgeht? Oder haben Sie sich gesagt: „Was geschieht, geschieht und was bei mir und mit mir passiert, passiert.“

Patrick Hahn
Ich habe versucht, das Geschehen ganz unvoreingenommen auf mich wirken zu lassen. Ich kannte Hermann Nitschs Bilder und seine Aktionen aus den Aufnahmen, aber ich war vorher nie live dabei gewesen und konnte mir nicht wirklich vorstellen, wie sich das anfühlt. Und es war faszinierend! Ein bisschen so, dass man fast nicht hinschauen will, aber auch nicht wegschauen kann, wenn da zum Beispiel Eingeweide herumgetragen werden. Es riecht auch einigermaßen intensiv, wenn man in der Nähe ist. Und dann diese Musik dazu, die teilweise ja total karikiert: Wenn die Kapelle einen fröhlichen Marsch spielt, gleichzeitig werden Eingeweide präsentiert und man sieht Menschen mit dem Blut und so weiter, passt das vordergründig nicht zusammen. Andererseits ist es auch wieder die totale Unterstützung dieser dissonanten, lärmenden Klänge im Hauptgeschehen. Ich kann es gar nicht in Worte fassen, was das in mir ausgelöst hat, auf alle Fälle ein Spektrum an Emotionen. Es war ein erstaunlicher, interessanter Nachmittag!

MICHAELA PREINER
Wie Sie sagen, besteht zwischen der Aktion und der Musik eine Diskrepanz. Zwischen dem abstoßenden Geschehen und den zum Teil fröhlichen Klängen. Haben Sie mit Nitsch darüber gesprochen?

Patrick Hahn
Für ihn war das eigentlich nichts Abstoßendes. Für ihn war das alles eine Einheit mit der Natur, dieses Orgiastische und das Exzentrische Insofern war dann auch die Blasmusik gar nicht so weit weg. Für ihn gehört alles zusammen und zum Lauf des Lebens: wie wir mit Tieren umgehen, mit Exzess, mit Alkohol, mit Rausch, diesen Dingen.

MICHAELA PREINER
Ist es für Sie schwierig gewesen, sich in die Partitur einzulesen? Nitsch hat ja seine eigene Partitursprache erfunden und auf Millimeterpapier niedergeschrieben.

Patrick Hahn
Die größte Schwierigkeit war tatsächlich die organisatorische Aufbereitung, weil, wie Sie richtig sagen, seine Noten auf Millimeterpapier stehen. Denn Nitsch schrieb nur hin: „strahlendes C-Dur, fünf Minuten“ und dann „tiefe Klänge, bedrohliche Klänge, vier Minuten“ und „Jetzt hohe Streicher, schrill“. Das sind eigentlich verbale Anweisungen, das kann man einem Orchester so nicht vorlegen. Denn die Ausführenden sagen ja: „Ein C-Dur-Dreiklang, gut, da haben wir drei verschiedene Töne, die wir uns aussuchen können, in sieben verschiedenen Oktaven. Wer spielt jetzt was?“ Deswegen muss man die Angaben zumindest ein wenig definieren. Von dieser Sinfonie gibt es eine Aufführungseinrichtung von Peter Jan Mathé, der das Material schon in Richtung konventionelle Notation transkribiert hat. Aber auch diese Einrichtung kann man nicht einfach hinlegen, sondern muss sich mit den Musikerinnen und Musikern vieles ausmachen, vor allem die Handzeichen. Da hatten wir in den Proben viel zu sprechen und zu überlegen, was passiert und in welcher Reihenfolge. Vieles ist auch improvisatorisch, wenn es zum Beispiel heißt: „Ländlermelodie, frei und danach irgendwie kanonisch“.

MICHAELA PREINER
Ja, gut, aber was heißt das jetzt genau?

Patrick Hahn:
Die Musikerinnen und Musiker wollen wissen, was sie wann genau spielen sollen Damit hängen sehr viele Fragen zusammen. Natürlich gab es auch weiterhin Improviation, aber auch die braucht definierte Grundregeln. Das war der größte Aufwand in den Proben.

MICHAELA PREINER
Da stellt sich ja auch die Frage nach Original, oder nicht?

Patrick Hahn
Die Frage stellt sich immer wieder, wenn Komponisten Volksweisen einbauen. Ich finde nicht, dass die Musik deswegen weniger originär oder originell ist, denn so etwas gab es immer schon. Die Frage ist eher, was man damit erreichen will, ohne das Rad neu zu erfinden. Nitsch hat das Rad insofern neu definiert, als er seine Musik auf diese unkonventionelle Art und Weise aufs Wesentliche reduziert. Diese Drei-Stunden-Sinfonie passt ja auf 30 Seiten. Und nicht einmal die bräuchte man unbedingt, denn es ist ein sehr reduziertes Material, auf dessen Basis das Orchester quasi improvisiert.

MICHAELA PREINER
Ich habe eine abschließende Frage. Warum sind Sie eigentlich Dirigent geworden? Was waren Ihre Beweggründe? Was war die antreibende Kraft?

Patrick Hahn
Schon als Kind habe ich gern Musik gemacht, im Volksschulchor, auf der Blockflöte, im Knabenchor. Irgendwie war ich, obwohl meine Eltern keine Musiker sind, total fasziniert davon. Ich habe im Knabenchor gesungen und Klavier gelernt und hatte so viel Spaß, dass ich wusste, ich wollte etwas mit Musik machen. Meine Eltern haben das glücklicherweise unterstützt. Und ich hatte immer super Pädagoginnen und Pädagogen um mich, die mich gelenkt und gefördert haben. Mit zwölf Jahren habe ich eine Kurzoper geschrieben und auch selbst dirigiert, da stand ich das erste Mal vor dem Orchester. Das war ein sehr beeindruckendes, nachhaltiges Erlebnis für mich! Anschließend habe ich im Knabenchor dem Chorleiter assistiert, Proben geleitet und dann in meiner Heimatgemeinde einen Chor übernommen.

MICHAELA PREINER
Aber Sie sind schon eigentlich auch ein richtiger Durchstarter, oder? Sie sind ja mit einer unglaublichen Genauigkeit an Ihrer Geschichte drangeblieben, sonst wären Sie jetzt nicht das, was Sie jetzt sind, oder?

Patrick Hahn
Wenn man etwas macht, dann muss man es ordentlich machen. Vor allem muss man es wirklich wollen. Als Dirigent reist man extrem viel. Am häufigsten bin ich jetzt in Wuppertal, wo ich als Generalmusikdirektor etwa die Hälfte meiner Zeit verbringe. Ansonsten bin ich eine oder zwei Wochen dort und eine Woche da. Damit muss man umgehen können und es mit voller Freude und Überzeugung machen, sonst verliert man den Spaß daran und es wird nicht funktionieren, nicht zuletzt, weil die Konkurrenz groß ist.

MICHAELA PREINER
Hatten Sie irgendein Vorbild, von dem Sie sagen, der dirigiert so, wie ich mir das vorstelle? Oder ist Ihre eigene Art zu dirigieren natürlich gewachsen?

Patrick Hahn
Viele Dirigentinnen und Dirigenten finde ich faszinierend und toll. Ich versuche, mir von jeder und jedem das Beste anzueignen. Wenn ich eine Person als Vorbild nennen würde, dann wäre das Kirill Petrenko, bei dem ich in München viel assistiert und den ich dabei sehr gut kennengelernt habe. Er ist in seiner Art und Weise der totale Gegenentwurf zu den meisten Dirigenten, weil er nur an seiner Musik interessiert ist. Er gibt kaum Interviews und ist ein sehr zurückgezogener Mensch, bedingungslos in der Musik. In unserer gemeinsamen Zeit habe ich viel gelernt.

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Webseite Patrick Hahn
Konzertkritik: Nitsch und seine Musik