Immer nach Mitternacht

Immer nach Mitternacht

Michaela Preiner

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11.

April 2010

Zeitgenössisches Tanztheater in historischer Dekoration – das funktioniert? Ja, es funktioniert, zumindest bei der Companie „Toujours après minuit“, die mit ihrer Inszenierung „genre oblique“ im Pôle-Sud in Straßburg zu Gast war. „Genre oblique“, zu Deutsch „ganz schön schräg“ – zeitgenössisches Tanz-Theater im wahrsten Sinne des Wortes – basiert auf der seelischen Erforschung der historischen Figur Johanna […]
genre oblique

CIE Toujours après minuit "Genre oblique" (c) Brigitte Eymann

Zeitgenössisches Tanztheater in historischer Dekoration – das funktioniert? Ja, es funktioniert, zumindest bei der Companie „Toujours après minuit“, die mit ihrer Inszenierung „genre oblique“ im Pôle-Sud in Straßburg zu Gast war.

„Genre oblique“, zu Deutsch „ganz schön schräg“ – zeitgenössisches Tanz-Theater im wahrsten Sinne des Wortes – basiert auf der seelischen Erforschung der historischen Figur Johanna I. , Königin von Kastilien und Aragon, auch „Johanna die Wahnsinnige“ genannt. Diese tragische Figur war zeitlebens in Machtkämpfe innerhalb ihrer eigenen Familie verwickelt und verbrachte 46 Jahre in Gefangenschaft. Roser Montlló Guberna und Brigitte Seth nahmen sich des Stoffes an und schufen einen Abend, der hinterfragt, ob Wahnsinn und Anderssein Phänomene sind, die sich nur in wechselseitiger Wirkung mit der Gesellschaft artikulieren können. Und die untersuchen, ob es gelingt, sich gegen gesellschaftliche Konventionen zu stemmen, ohne zum Außenseiter zu werden.  Eins gleich vorweg: Individuum und Gesellschaft bedingen einander, beeinflussen einander, zum Guten wie auch zum Schlechten. Die kurzen Textpassagen, die Johanna aber auch anderen Protagonisten und Tänzerinnen und Tänzern in den Mund gelegt werden kreisen um das Thema Liebe, Familie, Konventionen, Selbstdarstellung und Freiheit eines Einzelnen. „Freundschaft ist schwer – Freundschaft kostet am meisten“ so umschreibt Johanna die Last, die auf ihr liegt und sie verrückt werden lässt. In immer wiederkehrenden zarten Laufschritten entlang ihrer dicken Kerkermauern zeigt sie, dass Einsamkeit und Verstoßenheit zwar verrückt machen können, aber auch Momente des Glücks und des Witzes beinhalten.

Das Kleidchen-Wechsle-Dich-Spiel, in dem er roséfarbige Unterrock Johannas kurz hintereinander auch noch andere Tänzer und Tänzerinnen kleidet, ist nur der Auftakt zu einer ständigen Verwischung der Grenzen von Individuum und Masse. Die militärischen Manteluniformen, die dennoch Männer in Frauenstiefeln und auch umgekehrt kleiden, versinnbildlichen eine straff organisierte Masse. Eine gelenkte Macht, an die es dennoch leichter ist sich anzuschließen, als gegen ihren Druck aufzutreten. Aber gerade die kleinen den einzelnen Geschlechtern „falsch“ zugeordneten Attribute wie die Frauenstiefeln an den Männerbeinen deuten an, dass auch hinter jedem noch so uniformierten Menschen ein Individuum steckt.

Die solistischen Tanzeinlagen abseits von den martialischen, gleichgeschalteten Schrittfolgen der gesamten Truppe, sind es, die berühren, und in die Poesie des  Einzelnen  blicken lassen. Dery Fazio, Rodolphe Fouillot, Roser Montlló Guberna, Jordi Ros, Brigitte Seth und jean-Baptiste Veyret-Logerias wechseln zwischen Tanz- und Sprachdarbietungen, zwischen Gruppenchoreographien und Einzelperformances. Immer wieder ist es die Familie, die Rolle in der Familie, die hinterfragt wird. „Ich möchte aufstehen, wann ich möchte, schlafen gehen, wann ich möchte, essen was ich möchte“ – schon in diesen so einfachen und logischen Sätzen verbirgt sich die Tragik des gesellschaftlich normierten Lebens, das wir beinahe alle – meist nicht weiter hinterfragt – leben. Jean-Pierre Drouet, der die Trommeln bedient und der Trompeter Geoffroy Tamisier – auch sie schlüpfen in unterschiedliche Rollen, die sie durch ihre Musik wunderbar ausdrücken. Ob Marschrhythmen oder jazzige Improviation, ob Schläge in der Vorbereitung zum Gericht oder als musikalische Stimulanz eines persönlichen Körperausdrucks – die beiden Musiker sind ebenso eingespannt in die Ambivalenz, die das Leben uns allen immer wieder aufzeigt.

Das Zusammenfinden in Liebe – aus dem Gefühl der Einsamkeit – auch dieses Thema wird behandelt, aber nur als notwendiger Teilaspekt eines größeren Ganzen verstanden. Die Familie, die Macht, die Gesellschaft besitzt andere Qualitäten als der einzelne Mensch, seine Nöte, seine Gefühle und seine Wünsche. „Genre oblique“ – auf den ersten Blick historisch – stellt Fragen, die in ihrer Aktualität brennender nicht sein könnten.

Dieser Artikel ist auch verfügbar auf: Französisch