Pierre Meunier machte es dem Publikum des TNS (Theatre National de Strasbourg) nicht leicht und schon gar nicht den Kritikern, die über sein neuestes Stück „Im Herzen der Unordnung“ schreiben sollen. Denn, über einen so komplexen Text zu schreiben, den er selbst mit Verve und Tiefgang zugleich auf die Bühne bringt, müsste man diesen eigentlich vorliegen haben.
Dann könnte man jedes einzelne Wortspiel, jeden Gedanken nachvollziehen und analysieren. Man könnte die philosophischen Ansätze und deren Karikierung in gewählte Worte fassen und sich auf Gedankenspiele einlassen, die Meunier sonder Zahl anregt. Man könnte sich über das Phänomen der Zeit, jenes der Gravitation oder auch über die Sinnhaftig- und Sinnlosigkeit wissenschaftlicher Forschung auslassen. Aber auch das Publikum hat den Text Meuniers nicht vorliegen und folgt ihm nur lauschend 1 Stunde 20 Minuten.
Zur Verdeutlichung seiner Ideen hat er sich einige kleine, aber umso effektvollere Requisiten zusammengebastelt, die veranschaulichen, was mit Worten nur umständlich auszudrücken ist. Zu Beginn lässt er den Inhalt von vier Eimern – kinderkopfgroße Steine – durch die Zuschauerreihen wandern, um daraus anschließend auf einem kleinen Tisch einen Haufen zu bilden. Der Haufen – der Mittelpunkt, oder das Herz der Unordnung, gibt Anlass, eine Gedankenkette zu spinnen, die ihren Ausgangspunkt in der Frage hat, ob dieser Haufen nun der Beginn eines Gewölbes oder der Verfall desselben sein könnte. Quasi im Rückwärtsmarsch durchläuft Meunier die philosophischen Strömungen des Abendlandes. Er „heideggert“ zu Beginn, wenn er sich umständlich über das Sein auslässt, er streift den Idealismus, wenn er ein und dasselbe Phänomen von verschiedenen Erklärungsmustern aus zu betrachten versucht und landet schließlich beim Vorsokratiker Heraklit. Dieser, ganz in den Anblick des Steinehaufens versunken – wie zu Beginn des Abends ein kleiner Junge, der sich bei einer Besichtigungstour Neuschwansteins von seinen Eltern entfernte, hinterließ uns das Satzfragment: „Ein Schutthaufen hingeworfen nichts sonst: die schönste Weltordnung“. Meunier gelingt es, alleine über den Doppelpunkt in diesem Satz eine Fragen- und Assoziationskette aufzubauen, die eine ganze Reihe Jahrtausende alter Fragen der Philosophie streift.
So sehr Meunier mit der Sprache jongliert – er vergisst dennoch nicht, schöne, einprägsame Bilder mitzuliefern und dem Publikum zu präsentieren. Bilder von schweren Steinen und schwerelosen Spiralen. Von Steinen, die nebeneinander an Spiralen baumeln, den Herzschlag imitieren oder ein Steineballett aufführen. Er enthüllt ein Spiralenklanginstrument, das er umständlich anzuschlagen beginnt und karikiert darin zeitgenössische E-Musik genauso, wie den naturwissenschaftlichen Betrieb in seiner Erzählung vom Besuch eines Forschungslabors. So sitzt das Publikum die ganze Vorstellung über auf einer Gefühlschaukel . Die schwingt sich hoch hinauf in philosophische Gedankengänge, die sich mit dem Phänomen der Wahrnehmung befassen, um nach Erreichen des Scheitelpunktes sich wieder rasant herabzulassen – in die Niederungen des alltäglichen Lebens. In diesem versucht Meunier verzweifelt, hüpfend der Schwerkraft zu entfliehen um sich schließlich zu trösten: „Mein Vater trug Schuppen, mein Sohn wird Flügel tragen.“
Flügel verlieh auch dieser Abend, denn es fiel uns wie Schuppen von den Augen, dass wir tagein, tagaus mit Denken beschäftigt sind, aber uns eigentlich nie richtige Gedanken machen.
Meunier, der Autor und Schauspieler vom „Herzen der Unordnung“ führte das Stück am 17. und 18. Dezember in deutscher Sprache im TNS in Straßburg auf.
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