Ich hasse das Theater, ich hasse den Beruf des Schauspielers, ich hasse das Leid, das er hervorbringt. Ich lebe von Hoffnungen, die sich nicht erfüllen, von kleinen Rollen, die mir wie Brosamen zugeworfen werden und wenn ich einen großen Auftritt habe, dann gebe ich alles. Ich verleugne mich und spiele Theater, bis zum Umfallen. Ich singe oder tanze und zeige der Welt alles, nur nicht, wer ich wirklich bin.
Zusammengefasst liest sich die inhaltliche Ebene des Stückes Venizke dramatisch und eher abschreckend für ein Publikum, das einen unterhaltsamen Theaterabend genießen möchte. Dass dies dennoch möglich wird, ist zum großen Teil dem Tanz sowie einer schauspielerischen Leistung geschuldet, die zeigen, warum in diesem speziellen Fall auch heute noch Theater gemacht werden kann und soll.
Furios redet sich gleich zu Beginn des Stückes Benny Claessens nach und nach in Rage und kotzt sprecherisch all seine Wut über nicht gehaltene Produzentenversprechen, großtuerisches Theatergetue und verlogene Schauspieler über den Bühnengraben. Seine voluminöse Erscheinung steckt in einem zu kleinen T-Shirt und einer zerrissenen Jogginghose und bietet den allerschärfsten Kontrast zur zarten Gestalt Ans Van den Eedes, die sich, nur mit leichter Unterwäsche bekleidet, in devoten Haltungen einem imaginären Fotoshooting stellt. Alle Fragen, um die dieses Stück kreisen, wirft er schon in diesem ersten, brillant gespielten Monolog auf. Pendelnd zwischen Tragik und Komik in all den tiefsten und höchsten Ausformungen, zeigt der junge Mann den Wahnsinn und die Tragik auf, die durch das Theater hervorgerufen werden. Claessens stellt in diesem Stück das Gegengewicht – im wahrsten Sinn des Wortes, bei einiges über hundert Kilogramm Körpermasse – zu den artifiziell agierenden Tänzerinnen und Francois Brice, dem einzigen männlichen Tänzer dar. Er bringt in die Scheinwelt der Bühne ein Stück Realität; einen Menschen, der uns tag-täglich auf der Straße begegnet, ob im Bus, vor der Supermarktkasse oder an der Frittenbude. Und er stellt auch, als sich schließlich alle Protagonisten auf der Bühne befinden, diese mit ihren wirklichen Namen und familiären Hintergründen vor. Das irritiert und klärt zugleich. Es zeigt, dass hier gespielt werden soll, was auch gelebt wird, und, dieses Konzept geht glaubhaft auf.
Wie ein Handlungsstrang ohne Handlung setzen sich in Folge Chansons oder auch Pophits zwischen die kurzen Texte, untermalt von Choreographien, die jeweils aus der Entstehungszeit der Musik stammen könnten. Es beginnt mit „Paris s´eveille“ von Jacques Dutronc, einem Klassiker des französischen Chansons, fährt fort mit Dalidas „mourir sur scene“, energisch getanzt von Sylvia Camarda – die an diesem Abend noch mehrere Proben ihres herausragenden Tanzkönnens zeigte – und endet, nach einigen anderen, mit der traurigen Gestalt von Amy Winehouse. Ihr werden plötzlich jeweils einige Takte der zuvor gespielten Lieder auf ihre brav, den fremden Texten folgenden Lippen gelegt, allein ihr verzweifelter Gesichtsausdruck zeigt, dass ihre Darbietung nur die Vorführung eines Dressuraktes ist, dem sie sich unterworfen hat.
Alles ist Dressur, alles ist Gewalt, alles ist Drama, alles ist ganz, ganz schrecklich, was sich am Theater abspielt, glaubt man den Aussagen der Schauspieler/Tänzer, die von ihren schlimmen Erfahrungen und ihrer immensen Einsamkeit nacheinander erzählen. Und man beginnt selbst, sie langsam zu verdammen, diese Guckkastenbühne, die plötzlich als nichts anderes erscheint, als der verlängerte Arm von Produzenten und Direktoren, von Regisseuren und Intendanten, die den Akteuren bis in das kleinste Wimpernzucken vorschreiben, was auf der Bühne zu geschehen hat. Lara Barsacq zeigt dies überdeutlich in einer Szene, in der Benny Claessens ihr im Sekundentakt neue darstellerische Aufgaben diktiert, die sie willenlos, wie hunderte Male zuvor schon geprobt, ausführt. Sie ist fröhlich, verfällt in tiefe Trauer, fährt lustig mit ihrem Auto und kommt bei einem entsetzlichen Verkehrsunfall ums Leben. Alles tut sie, nur um auf der Bühne ihren Erfolg zu feiern, bis zur absoluten Selbstaufgabe.
Die ekstatische Tanzszene von Francois Brice, die untermalt ist von Anschuldigungen, die man über ihn von Erzählungen einer Party gehört hat, machen klar, mit welchem Etikett junge, attraktive Schauspieler versehen werden. Das angeblich ungezügelte, alles, was sich ihm in den Weg stellt fickende Sexmonster zerbricht, getroffen von den spitzen Pfeilen der Vorwürfe, ohne sich wehren zu können in einer zuckenden, fallenden und sich stets wieder aufrichtenden Tanzperformance. Unbeeindruckt sehen ihm die anderen Protagonistinnen dabei zu, ja ziehen offenbar selbst größten Lustgewinn aus ihren zerstörerischen Verleumdungstiraden.
Ilse de Koe, der die Rolle der depressivsten aller depressiven Schauspielerinnen zufällt, lamentiert lange über ihr Schicksal und heult mehr als einmal ins Mikrophon, dass es ihr selbst nicht gelingt, ihrem Leben ein Ende zu setzen, sodass man schon sagen möchte: ist gut, Mädchen – hol dir einen Psychologen, aber es kommt anders. Zwar kommt der Psychologe tatsächlich, wiederum in Form des Schwabbelmonsters Claessen, der mit ruhiger Stimme und Körperkontakt versucht, die Krise seiner Kollegin zu stoppen, was ihm auch tatsächlich gelingt. Um dann jedoch, in der nächsten Sekunde, völlig unerwartet und von peitschenden, musikalischen Rhythmen unterlegt, de Koe zu ersticken. Ein dramatischer Augenblick, dessen hervorgerufene Betroffenheit jedoch nicht lange währt, denn Claessen gelingt es in einer sofortigen Verteidigungsrede sich nicht nur von Schuld freizusprechen, sondern zum Schluss auch noch als das Opfer selbst hinzustellen.
Seinem Zusammenbruch, bei dem er bauchlings auf der Bühne liegen bleibt, folgt eine der schönsten Tanzszenen des Abends. Wiederum ist es die athletische Sylvia Camarda, die tanzt, als würde es keine natürlichen, physischen Barrieren für ihren Körper geben. In klassischen Posen und schwarzem Tutu agiert sie sitzend, stehend und liegend auf dem massigen Leib von Claessen, der wie ein Fels in der Bühnenbrandung erratisch am Boden liegen bleibt. Hier, in diesem Moment wird deutlich, dass es nicht stimmt, dass Theater etwas ist, was sich überlebt hat. Hier sieht man glasklar, dass es Momente wie diese sind, voll Lyrik und Zartheit, voll unübertroffener, nie zuvor gesehener Bilder, die Theater und den Tanz nach wie vor rechtfertigen.
Pole sud – ein Veranstaltungszentrum, wie der Name schon sagt, im Süden von Straßburg – hat sich mit dem Stück Venizke der Produktion Campo / ExVictoria unter der Leitung von Ben Benaouisse und Lies Pauwels ein zeitgenössisches Stück auf die Bühne geholt, das aufgrund der schauspielerischen Leistung Benny Claessens sowie der tänzerischen der gesamten Truppe deutlich macht, dass Theater und Tanz auch heute noch fesseln können. Eine einfühlsame Choreographie, eine stimmige Regie und – nicht zuletzt – ein gescheiter und streckenweise auch witziger Text tragen dazu bei, dass das Stück ein Erfolg ist. Wenngleich es auch einige ratlose Gesichter im Publikum gab
Hier ein Eindruck des Stückes auf Youtube:
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