Eine Seelenschau, die Gänsehaut hinterlässt

Eine Seelenschau, die Gänsehaut hinterlässt

Aurelia Gruber

Foto: ( Barbara Pálffy )

27.

Februar 2023

Gerhard Werdeker inszeniert Ingmar Bergmanns „Herbstsonate“ mit Bravour und Herzblut im Theater Spielraum.

Ingmar Bergmann ist allen Cineasten ein Begriff. Seine „Herbstsonate“, die 1978 in die Kinos kam, war mit Ingrid Bergmann und Liv Ullmann in den Hauptrollen genial besetzt und ist allen, die den Film gesehen haben, noch Jahrzehnte danach in Erinnerung. Es war nicht allein die Geschichte an sich, die fesselte. Ein Drama, in dem die psychologischen Hintergründe einer Mutter-Tochter-Beziehung offengelegt wurde. Es war auch das Setting, angesiedelt im Norden Europas und die Kameraführung mit vielen Close-ups, die den Film einzigartig machten.

„Als ich den Film gesehen habe, wusste ich, dass ich die Geschichte unbedingt auch auf die Bühne bringen wollte“, O-Ton von Gerhard Werdeker. Dass die Geschichte der Pianistin Charlotte Andergast, die ihre beiden Töchter über lange Strecken allein bei ihrem Vater ließ, um ihrer Karriere nachzugehen, auch nach 45 Jahren noch fesselt, zeigt, dass Bergmann mit den Konflikten eine zeitlose Materie aufgegriffen hat. Ende der 70er-Jahre von vielen noch als Affront gegenüber dem 5. Christlichen Gebot „Du sollst Vater und Mutter ehren“ empfunden, bietet es heute viele Momente, in welchen sich Menschen wiederfinden können, die von ihren Eltern in ihrer Kindheit nicht die Liebe erfuhren, die sie sich gewünscht haben.

Werdeker arbeitet mit einem reduzierten Bühnenbild von Raoul Rettberg, in dem ein Tisch mit Sesseln, eine große, rote Kiste und leicht gebogene Wandfragmente ausreichen, um das Pfarrhaus, aber auch den Friedhof der kleinen Gemeinde, in der Eva mit ihrem Mann Viktor leben, darzustellen. Wie immer, wenn Werdeker Regie führt, gibt es nichts, was unabsichtlich auf der Bühne positioniert ist. Über dem Setting hängt eine weiße, runde Tafel hoch in der Luft, mit der Zeichnung der typischen Cello-Schall-Löcher. Diese Tafel, aber auch ein blauer Ball, so wird sich bald zeigen, fungieren als Platzhalter zweier Menschen, die in der Fassung von Werdeker nicht gezeigt werden, dennoch aber für das Geschehen bestimmend sind.


Der blaue Ball steht als Symbol für den Sohn von Eva, der im hauseigenen Brunnen im Alter von vier Jahren ertrank. Die runde Tafel mit der Cello-Assoziation hingegen für Leonardo, den Partner von Charlotte, Evas Mutter. Der ebenfalls verstorbene Cellist hatte nicht nur großen Einfluss auf die Pianistin, sondern auch auf ihre kranke Tochter Helena, die in Werdekers Fassung nur erwähnt, aber nicht gezeigt wird. Die Reduktion auf drei Personen tut der Handlung keinen Abbruch, ganz im Gegenteil. Sie konzentriert diese auf die wesentlichsten Ereignisse, die sich Mutter und Tochter wechselweise erzählen und vorhalten. Überdies evoziert die Absenz der kranken Helena noch zusätzliche Gänsehaut, denn alles, was an Grauen nicht sichtbar, sondern nur im Kopfkino abgeht, wird meistens noch schlimmer empfunden, als wenn dieses halb realistisch vorexerziert wird.

Brigitte West in der Mutterrolle und Dana Proetsch als ihre Tochter spielen sich innerhalb kurzer Zeit in einen Furor, der seinesgleichen sucht. Nicht nur, dass jede einzelne Mimik, jede einzelne Geste bei beiden sitzt. Sie schaffen es, das Publikum so mitzureißen, dass es die Umgebung des Theaters komplett vergessen kann. In ihrem Spiel stimmt absolut alles. Der Ton der erhitzten Gemüter ebenso wie das zunehmende Sprachtempo. Die theatralischen, ausufernden Bewegungen der Mutter genauso, wie das Erschrecken der Tochter vor ihrer eigenen Courage. West wechselt innerhalb weniger Augenblicke so schnell zwischen Trauer, Selbstdisziplin und Selbstmitleid, dass einem Hören und Sehen vergehen kann. Proetsch hingegen erscheint über lange Strecken hinweg ihrer Mutter charakterlich überlegen. Erst, als sich das Dilemma der Double Bind Erziehung stärker zeigt, verliert auch sie ihre Beherrschung und bricht aus der bis dahin reflektieren Frauenrolle aus. Anna Pollack zeigt in der Kostümwahl auch deutlich den charakterlichen Unterschied zwischen Mutter, die häufige Kleiderwechsel hat, und ihrer Tochter. Bei dieser wird der Wechsel zum nächtlichen Outfit allein in der veränderten Sockenwahl deutlich.

Christian Kohlhofer agiert in der Rolle des Ehemannes von Eva, wie auch im Film, zum Teil als Erzähler. Ganz zu Beginn spricht er direkt von der ersten Publikumsreihe aus und lässt sich nicht, während die beiden Frauen immer hitziger agieren, von deren seelischen Turbulenzen mitreißen.

In einer atemberaubend schönen Szene gelang es Werdeker, Eva ohne Klavier ihrer Mutter die Prélude No. 2 von Frédéric Chopin vorzuspielen. Wie diese danach ihre Interpretation zu Gehör bringt – ebenfalls ohne Instrument – ist mehr als sehenswert. Allein wegen dieses Aktes lohnt es sich, sich die Herbstsonate im Theater Spielraum anzusehen. Alle, die einen Theaterabend erleben möchten, der alles beinhaltet, was gutes Theater ausmacht, sollten sich diesen in der Kaiserstraße nicht entgehen lassen.

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