Die Wiener Festwochen brachten mit dem Gerichtsstück „Please, continue (Hamlet)“ im Odeon ein gar nicht mehr so neues Format zur Aufführung. Wer ein Gerichtstheaterstück erwartete, wie man es aus dem Nachmittagsprogramm deutscher Fernsehsender kennt, wurde nicht enttäuscht. Der einzige Unterschied zum Fernsehformat lag in der Dauer der Aufführung, die mit 3 Stunden die Fernsehprozesse bei Weitem übertraf. Hingegen mussten all jene, die eine theatralische Hamletinszenierung erhofften, ihre Erwartungshaltung sehr schnell korrigieren. Ganz wie bei den Fernsehsendungen waren alle Beteiligten auch Personen, welche die Berufe, die sie auf der Bühne verkörperten, tatsächlich auch im realen Leben ausüben. Nur der Beschuldigte selbst, Hamlet, sowie Ophelia, seine immer noch verehrte Ex-Freundin und Gertrude, die Mutter Hamlets, wurden von Schauspielern und Schauspielerinnen dargestellt. Das Konzept verlangt, dass nicht nur die Geschworenen, die aus dem Publikum rekrutiert werden, sondern auch alle anderen Prozessbeteiligten – bis auf die drei genannten Schauspielrollen – täglich neu besetzt werden.
Der Staatsanwalt, Mag. Matthias Purkhart, legte Hamlet den Mord an Polonius zur Last und ermöglichte damit den Mordprozess. Bei den Hochzeitsfeierlichkeiten von Hamlets Mutter, die nur zwei Monate nach dem Tod seines Vaters, dessen Bruder ehelichte, soll Hamlet den in einem Billyregal, welches durch einen Vorhang verhängt war, versteckten Polonius, mit einem gezielten Stich ins Herz getötet haben. In der Verhandlung behaupteten sowohl Hamlet als auch seine Mutter – von Susi Stach herausragend dargestellt – dass dies ein Unfall gewesen sei. Hamlet hätte gedacht, hinter dem Vorhang befände sich eine Ratte, die er mit einem gezielten Stich töten wollte. Die Idee zum Theaterstück hatten Yan Duyvendalk und Roger Bernat, als sie die Protokolle der Guantanamo-Häftlinge lasen. Ihnen erschien es als „obszön“, so Yan Duyvendalk beim Publikumsgespräch, das Geschen 1:1 auf die Bühne zu bringen. Auch der Fall eines jungen Mannes aus Marseille war zwar eine gute Vorlage, allerdings wollten sie den Prozessverlauf nicht wahrheitsgetreu auf der Bühne umsetzen. Ihr Ziel war es vielmehr, aufzuzeigen, dass die Rechtsprechung in einen bestimmten Rechtsrahmen eingebunden, aber vor allem auch höchst subjektiv ist und damit keine exakte Wissenschaft darstellt. Diese Idee ist das eigentlich Spannende an diesem Projekt und hätte sicherlich das Potenzial, eine Diskussion über die unterschiedlichen Rechtssysteme, deren Ideen und Implikationen, hervorzurufen. Mehr als deutlich wurde das auch beim anschließenden Publikumsgespräch. Denn der Richter dieses Abends, Mag. Friedrich Forsthuber, Präsident des Landesgerichts für Strafsachen in Wien, sprach seine Bedenken gegenüber einem Geschworenengericht sehr deutlich aus.
Hamlet wurde an diesem Abend, dem zweiten Aufführungstag, freigesprochen, am Abend vorher war er wegen fahrlässiger Tötung zu einer bedingten Haftstraße von 10 Monaten verurteilt worden. An diesen beiden sehr unterschiedlichen Urteilen ist schon erkennbar, wie subjektiv diese vor allem von Geschworenen getroffen werden. Vieles hängt von der Strategie der Staatsanwaltschaft und der Verteidigung ab. Thiemo Strutzenberger, der Hamlet in der von ihm gewohnten erstklassigen schauspielerischen Leistung darstellte, machte im Publikumsgespräch auch deutlich, dass sein Auftreten als Angeklagter natürlich auch Einfluss auf die Geschworenen nimmt. Wenn er seine Geschichte der Ratten überzeugend präsentiere und keinen Zweifel aufkommen lasse, dass diese Geschichte wahr sein könne, dann sei alleine das schon eine gute Voraussetzung für einen Freispruch. Diese unterschiedlichen – letztlich psychologischen Faktoren – wären für das Publikum noch viel deutlicher erkennbar, wenn es mehrere Vorstellungen sehen könnte. Erst dann könnte man selbst erleben, wie sich die eigene Meinung und Sichtweise und die aller Prozessbeteiligten je nach Zusammensetzung verändern kann. Wenn man nicht ein ausgesprochen leidenschaftlicher Prozessbeobachtertyp ist, kann an diesem Abend leicht Langeweile aufkommen. Wohnt man doch einer eher faden Gerichtsverhandlung bei, die ihren vorgeschriebenen Gang geht. Man lauscht den Plädoyers der Staatsanwaltschaft und der Verteidigung, man folgt den Befragungen von Zeugen und Zeuginnen und man erlebt die Präsentation von Sachverständigengutachen.
Das eigentlich Spannende des Abends war überraschenderweise das Publikumsgespräch. Zwar waren es aufgrund des vorgegebenen kurzen Zeitfensters von 30 Minuten nur wenige Fragen, die gestellt und beantwortet werden konnten, aber es wurde dabei auch der Standpunkt des Richters von ihm persönlich noch kundgetan. Dieser machte klar, dass er persönlich einen Schuldspruch gefällt hätte, da er die Schuld Hamlets für erwiesen ansah. Die genaue Erläuterung, woran er erkannt hatte, dass der Angeklagte tatsächlich Polonius töten wollte, blieb aber leider aus.
Die konstruierte Rattengeschichte überzeugte zwar wenig, aber auch die Argumentation des Staatsanwaltes, der kein Motiv für den Mord vorweisen konnte, blieb bis zum Schluss dürftig. Warum hätte Hamlet Polonius töten sollen, den Vater seiner immer noch geliebten Ex-Freundin, den er zwar für dumm, aber immerhin für nett hielt? Dieses fehlende Motiv nutzte die Rechtsanwältin Mag.a Kathrin Ehrbar in ihrem Plädoyer, um den Freispruch ihres Mandanten zu erreichen. Sie riskierte viel, gewann mit dieser Strategie jedoch alles. Interessant dabei war, dass die Anwältin im Publikumsgespräch bekannte, dass sie sich die Forderung nach einem Freispruch in einem realen Prozess sehr gut überlegt hätte. Wenn sich, wie es aber an diesem Abend der Fall war, ein Staatsanwalt nicht einmal die Mühe macht, ein Motiv zu konstruieren, dann muss er damit rechnen, dass dies eine Rechtsanwältin, gerade in einem Geschworenenprozess, als Steilvorlage empfinden muss. An diesem Punkt wird deutlich, wie sehr hier auch das Bewusstsein „nur Theater zu spielen“ die Entscheidungen der Akteurinnen und Akteure mitbestimmte.
Erschreckend ist, dass jedoch allzu oft auch bei realen Strafprozessen das Wahrscheinliche als das Wahre und das Unwahrscheinliche als das Falsche angenommen wird. Weil eine Argumentation so schön logisch klingt, muss sie auch logisch sein, vor allem dann, wenn sich darin die Meinung oder Auffassung der jeweiligen Entscheidungsträger widerspiegelt. Der Rechtsgrundsatz „in dubio pro reo“ wird zu oft leichtfertig übergangen, weil das Logische und Erwartbare keine Zweifel kennt. Die Bevölkerung überfordert die Justiz allerdings auch häufig, indem sie Gerechtigkeit erwartet, wo es doch nur um die Rechtsprechung geht.
Spannend wäre es gewesen, wie die Beteiligten reagiert hätten, wenn das Gesetz, auf dessen Grundlage sie jemanden verurteilen sollen, ein Gesetz gewesen wäre, das mit den Grundsätzen der Menschenrechte oder der demokratischen Grundordnung nicht mehr vereinbar ist. Nehmen wir zum Beispiel die Nürnberger Rassengesetze oder in jüngster Zeit die Gesetze zur Behandlung Homosexueller in Russland. Wäre eine Verurteilung von Pussy Riot unter Anwendung dieser Gesetzte in Österreich möglich gewesen? Ein solcher Fall hätte sicher mehr emotionalisiert. Aber tatsächlich muss man keine anderen Rechtssysteme und Gesetze bemühen, um Gerichtsverhandlungen zu finden, die auf manipulierten und nicht hinreichend objektiv geprüften Fakten basierten. Wie konnte ein Tierschützerprozess, wie jener in Wiener Neustadt, überhaupt geführt werden und warum ist es trotzdem ein gutes Zeichen für einen Rechtsstaat, dass die Ersturteile infrage gestellt werden konnten und wurden und dieser Prozess neu geführt werden musste? Das sind Fragen, die ein solches Theater weitaus mehr gerechtfertigt und auch eine Bereicherung für das Publikum dargestellt hätten als die an den Haaren herbeigezogene Hamletneuinterpretation. So blieb die grundsätzlich interessante Idee in der Ausführung weit hinter den darin enthaltenen Potenzialen zurück.
Sicher, wie schon eingangs erwähnt, kamen all jene auf ihre Kosten, die von Gerichtssendungsformaten im Fernsehen unterhalten werden. An diesem Abend wurde ihnen eine solche sogar live in Theaterform präsentiert. Wer jedoch eine kritische Auseinandersetzung mit dem Rechtsstaat erwartet hatte, der musste sehr viel Denkarbeit und Vorwissen mitbringen, damit es überhaupt möglich wurde, die fragile Struktur eines Rechtssystems und dessen Gefahren zu erkennen. Eines wurde auf alle Fälle allen klar: Dass bei Geschworenenprozessen die alte Weisheit „vor dem Richter und auf hoher See sind wir allein in Gottes Hand“, auch heute noch zutrifft. Deswegen ist das Ressentiment, dass der Richter gegenüber Geschworenenverfahren äußerte, sehr gut nachvollziehbar. Wie lange wird es dauern, bis diese Art der Rechtsprechung abgeschafft wird? Denn gerade bei einem Geschworenenprozess besteht immer die Gefahr, dass das sogenannte „gesunde Rechtsempfinden“, das nicht mit dem rechtlichen Rahmen identisch sein muss, das Urteil letztlich sehr stark beeinflusst. Als Beobachter kann man jedoch hinzufügen, dass Berufsrichterinnen und Berufsrichter im Gegensatz dazu gelernt haben sollen, ihren Emotionen nicht zu folgen, sondern die Anforderungen des Gesetzgebers und der Strafprozessordnung strikt einzuhalten. Dass auch Richterinnen und Richter nur Menschen sind, und schon deshalb die Urteile immer auch eine subjektive, persönliche Note enthalten, lässt sich leider mit keiner bekannten Methode ausschließen. Umso mehr sollte ihnen jedoch ihre Verantwortung bei jedem richterlichen Spruch bewusst sein und ihr Bemühen um Objektivität an vorderster Stelle stehen.
Das große Manko des Abends ist, dass, wie bereits erwähnt, das Publikum nur einer Gerichtsverhandlung beiwohnen kann. Das Verlesen der zuvor gesprochenen Urteile kann die persönlichen Eindrücke nicht ersetzen, die nur aus der direkten Verfolgung eines Prozesses gewonnen werden. An dieser Stelle wären jene Mittel gefragt, die gutes Theater für gewöhnlich bereithält: Eine intelligente Regie, mit der es möglich wird, die unterschiedlichen subjektiven Entscheidungen mehrerer Prozessverläufe an einem Abend auf der Bühne sichtbar zu machen.