Hamlet, Shakespeares Prinz aus Dänemark, wandelt auf der Bühne des Volkstheaters als junge, intelligente Frau durch die Zeiten. Die aus Brasilien stammende Regisseurin Christiane Jatahy, die sich sowohl im Theater als auch im Film-Genre bereits einen Namen gemacht hat, leuchtet das Drama mit einem starken, weiblichen Fokus neu aus.
Clotilde Hesme ist es zu verdanken, dass Hamlets Gedankenwelt, trotz heftigster Zeit-Mäanderungen, verständlich wird. Die Regisseurin, die zugleich ein beeindruckendes Bühnenbild schuf, in welchem sich das Live-Ensemble gekonnt mit filmischen Einspielungen vermischt, sieht Hamlet weiblich und besetzt diese Rolle mit Hesme mehr als ideal. In stylishem, schwarzem Hosen-Outfit pocht sie in ihrer androgynen Erscheinung auf ihre Weiblichkeit, ohne dass diese jedoch im weiteren Geschehen weitere Auswirkungen hätte. Ob sie oder er – die Trauer, die Wut und der Wille nach Gerechtigkeit bleibt gleich, egal welches Geschlecht diese Gefühle durchlebt, diese Botschaft kommt in Jatahy’s Rollenüberschreibung gut zum Ausdruck.
Hamlet stülpt ihren Schmerz und ihre Wut über den Mord an ihrem Vater so radikal über ihre Familie, dass in dieser letztlich kein Stein auf dem anderen bleibt. Furios, grandios, intensiv, verletzlich und verletzend zugleich ist diese junge Frau, die sich in ihrem unerbittlichen Aufbrausen dennoch mehrfach die für sie wichtigste Frage stellt: Muss man, um gerecht zu sein, grausam sein? Mit ihren emotionalen Ausbrüchen hält sie der verkommenen Schicki-Micki-Gesellschaft um sie herum nicht nur einen Spiegel vor. Sie klagt an und bedroht, sie ist unverzeihlich, in letzter Konsequenz aber auch gegen sich selbst.
Ophelia, Isabel Abreu, scheint ob ihrer zarten Gestalt von Beginn an höchst gefährdet. Umso überraschender argumentiert sie mehrfach, dass das auferlegte Rollenbild der leidenden Frau für sie nun ausgedient hat und sie nicht länger Opfer sein wird. Zu oft sei sie in den letzten Jahrhunderten schon gestorben, jetzt sei genug damit, postuliert sie selbstbewusst die Neuinterpretation ihrer Rolle. In Abreu vereinigen sich auf besondere Weise zugleich Kraft sowie eine höchst ätherische Ausstrahlung. Wie Hamlet ist auch sie nicht weiter gewillt, die Gesellschaft, wie sie ist, zu akzeptieren. Die Einzige, der nicht bewusst ist, dass die Generation nach ihr die Welt anders aufstellen möchte, als das Patriarchat es bislang tat, ist Gertrude, Hamlets Mutter.
Servane Ducorps spielt eine matronenhafte Ehefrau und vor allem Königin, deren Ehemann gerade verstorben ist. Sie kann und will sich offenbar nichts anderes vorstellen, als weiter in dieser Rolle zu agieren, auch wenn sie dies nun an der Seite ihres ehemaligen Schwagers tun muss. Man merkt, dass die Regisseurin mit Gertrude die wenigsten Berührungspunkte hat, denn sie bleibt in ihren Motivationen, bis auf jene des Statuserhaltes, blass und kann sowohl Hamlet als auch Ophelia weder emotional noch intellektuell das Wasser reichen.
Tom Adjibi (Güldenstern), David Houri (Rosenkranz), Tonan Quito (Polonius), Matthieu Sampeur (Claudius) und Loïc Corbery, der raffiniert zu Beginn geisterhaft in einem Video als Hamlets Vater eingespielt wird, bilden das männliche Ensemble. Sie alle durchschauen nicht, dass sie zwar nach wie vor an der Macht sitzen, diese aber in einer Art und Weise ausüben, die jeglichen Sinn für Moral vermissen lässt. Diese Männergesellschaft agiert wie eh und je: An die Macht kommen und an der Macht bleiben, koste es, was es wolle und seien es auch tausende Menschenleben. Einspielungen von kriegerischen Aktionen, wie sie derzeit in der Ukraine stattfinden, und bekannte Bilder aus jüngsten Überschwemmungskatastrophen sowie die Location selbst – ein großes Wohnzimmer mit offener Nobel-Küchenzeile und einem Blick durch imposante Glasfenster in den angrenzenden Garten mit altem Baumbestand, auch sie verorten Shakespeares Tragödie in unsere Zeit.
Die Regisseurin verlangt viel von ihrem Ensemble, aber auch genauso viel von ihrem Publikum. Ohne das Original zu kennen, wird sich die eine oder der andere an so mancher Stelle mit dem Fortgang des Geschehens schwertun. Kundige jedoch dürfen sich an vielen neuen szenischen Uminterpretationen erfreuen. Dass der Text sprachlich zum größten Teil in seinem originalen Diktum bleibt, erzeugt sowohl Spannung als auch einen Brückenschlag über die Jahrhunderte hinweg. In Französisch und Portugiesisch vorgetragen und in Deutsch und Englisch übertitelt, bekommt er dennoch neue, interessante und bislang nicht gehörte Nuancen. Kurzweil bieten musikalische Einlagen, sowohl von Gertrude, als auch Hamlet. Hits von Sinéad O’Connor, Nina Simone oder Gilbert Bécaud untermauern das Gesagte mit Show-Atmosphäre und zugleich so manchem Augenzwinkern. Dass sich Hamlet an einer Stelle auch ein Wortspiel mit Omelette, dem Gericht aus aufgeschlagenen Eiern, gefallen lassen muss, gehört auch zum zeitgeistigen Witz, der an manchen Stellen die Tragik übertönt. Dies passiert auch immer, wenn Hamlet ihre Stimme wie Dark Vador erklingen lässt, sehr zum Entsetzen ihrer Familie, aber zum Gaudium des Publikums.
Die aktuell übliche Referenz, im Theater auf das Theater selbst zu verweisen, auch sie fehlt bei Christiane Jatahy nicht. Der Einfall, Hamlets Familie und ihre Freunde Güldenstern und Rosenkranz auf der Bühne in ihrem goldenen Käfig als Schauspieltruppe auftreten zu lassen, ist amüsant. Trotz der vielen ungewöhnlichen Regieeinfälle oder besser wegen dieser Vielzahl springt der Funke des emotionalen Eingebundenseins nicht wirklich aufs Publikum über. Das Gefühl, dass sich die Regisseurin, wie man in Österreich sagt – zu sehr zerfranst hat – kommt nicht erst am Schluss auf. Zu oft schwingen laut Meta-Ebenen mit, die vom Geschehen selbst ablenken und damit verhindern, dass einem das Schicksal der Menschen auch wirklich nahe geht.
Aber es gibt auch temporäre Ausnahmen. Clotilde Hesme, Isabel Abreu und in einem seiner letzten Auftritte auch Matthieu Sampeur als Polonius berühren mit ihrem intensiven Spiel dennoch. Letztgenannter überzeugt mit seinem aufbrausenden, fast schon körperlichen Angriff auf Hamlet, in dem deutlich wird, dass er dem Scharfsinn der Jugend und deren Forderung nach Wahrheit und Gerechtigkeit nichts entgegensetzen kann. Vielmehr flößt ihm dieser eine Angst ein, der er sich nicht mehr erwehren kann.
Die Koproduktion mit dem Odéon–Théâtre de l’Europe aus Paris hinterlässt trotz aller Kritik, die man an der Regie anbringen kann, eine neue Sicht auf Shakespeares Tragödie. Nicht nur eine berechtigt weiblichere. Vielmehr zeigt Jatahy zwingend logisch, dass Hamlet eine Figur ist, die trotz höchster Reflexionsfähigkeit ihren inneren Trieben nicht entkommen kann, ja diese sogar bewusst gegen sich und die Gesellschaft einsetzt, einsetzen muss.
Das Publikum bedankte sich mit adäquatem Applaus: nicht überschwänglich, aber auch nicht geizend.
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