Das Außen und das Innen passen nicht zusammen

Was veranlasst einen blutjungen Regisseur für sein Vordiplom am Max Reinhardt Seminar den „Lenz“ von Georg Büchner auf die Bühne zu bringen? Und zwar so, dass man „aber hallo!“ dazusagen muss?

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Lenz © Lukas Maul/lukasmaul.at

„In den Lenz kann ich mich sehr gut hineinversetzen. Seine Situation, außerhalb der Gesellschaft zu stehen, kann ich nachempfinden“, erklärte Simon Dworaczek auf unsere Nachfrage. Tatsächlich ist es nicht ungewöhnlich, dass sich junge Leute an schwierigen Themen abarbeiten. Die Frage nach dem Sinn des Lebens, nach den Ordnungsmechanismen und die Suche nach der eigenen Position bestimmen oft vor allem Gedanken von jungen Intellektuellen. Ein Stück auszusuchen, das aber zuallererst einmal dramatisiert werden muss, ist dann schon etwas ungewöhnlicher. Denn Büchner schrieb über den Dichter Jakob Michael Reinhold Lenz, eine reale Figur, die sich in Straßburg in die selbe Frau verliebt hatte wie Johann Wolfgang von Goethe, kein Drama, sondern eine nicht einmal allzu lange Erzählung.

Dworaczek hat sich den Lenz auf eine ganz besondere Weise angeeignet. Insgesamt 30 Fassungen hat er erarbeitet, wie er im Gespräch ebenfalls wissen ließ. Ob es tatsächlich so viele benötigt hätte, kann nicht beurteilt werden, dass die Endfassung jedoch funktioniert, und zwar richtig gut, das schon.

Die Inszenierung lebt neben der Figur des Lenz, der langsam seinen Verstand verliert und intensiv von Manuel Ossenkopf gespielt wird, von jener des Pfarrers Oberlin (Simon Harlan), von seinem Freund Kaufmann (Tony Marossek), sowie von zwei Mägden (Clara Schulze-Wegener und Maria Lisa Huber). Sie alle treten aber nicht nur als Charaktere auf, sondern verkörpern auch gewisse Mächte. Marossek, ausstaffiert mit einem hohen Zylinder, Gehrock und Plateauschuhen, trägt einen mit Plüsch überzogenen Spazierstock mit sich herum. Ganz zu Beginn verkörpert er auch den Tod, den Dworaczek schon kurz nach dem Beginn des Spiels seinem Lenz angedeihen lässt. Dadurch wirkt all das, was danach kommt, wie eine Rückblende.

Büchner erzählt zwar von mehreren Suizidversuchen, lässt seinen Lenz aber schlussendlich am Leben. „Er schien ganz vernünftig, sprach mit den Leuten; er tat alles wie es die andern taten, es war aber eine entsetzliche Leere in ihm, er fühlte keine Angst mehr, kein Verlangen; sein Dasein war ihm eine notwendige Last. – So lebte er hin.“ Auch diese letzten Sätze kommen in Dworaczeks Fassung vor, sodass das Publikum sich aussuchen darf, was es mit dem Tod der Hauptfigur am Anfang der Inszenierung auf sich hat. Er könnte sowohl als realer, finaler Akt interpretiert werden. Nimmt man aber Büchner beim Wort, so steht das Erhängen von Lenz, das er sich selbst zufügt, vielmehr für eine Verabschiedung des Wunsches, ein anderes, unabhängiges Leben zu führen und sich den gesellschaftlichen Konventionen zu ergeben. Das Außen, das mit dem Inneren nicht zusammenpasst, siegt zwar am Schluss, hinterlässt aber einen verheerten, beinahe leblosen Seelenzustand.

Die beiden Mägde, die von Schulze-Wegener und Huber in vielerlei Schattierungen gespielt werden, fungieren nicht nur als Erzählerinnen. Sie treten dämonisch auf, wie jene Stimmen, die Lenz in seinem Kopf vernimmt. Sie agieren auch als alte Frau und auch als jenes junge Mädchen, das Lenz nach dessen Tod wieder zum Leben erwecken möchte. Und sie verkörpern jenes Volk, das dümmlich und devot des Pfarrers Predigten vernehmen, zugleich aber Lenz jene Sicherheit und jenen Halt vermitteln, den er in seiner Familie vermisst. Simon Harlan darf in der Rolle des geduldigen Oberlin, der Lenz aufgenommen hat, ohne zu wissen, wer er denn nun genau sei und warum er denn bei ihm Zuflucht suche, jene Machtordnung repräsentieren, die sich nach den Revolutionen in Frankreich und Deutschland langsam aber beständig aufzulösen begann. Zwar legt er Lenz nahe, sich Gott anzuvertrauen. Dieser ist aber nicht mehr imstande, diese vermeintlich höhere Macht anzuerkennen. Das unheimliche Lachen von Lenz, als er durch den Tod des Mädchens an der Problematik der Theodizee zerbricht, macht klar, dass der Graben zwischen Glauben und Überzeugung ein viel zu großer ist.

Ossenkopf gibt den jungen Mann, der sich im Grunde mit jeder Faser seines Körpers gegen die Gesellschaft auflehnt, brillant. Er verirrt sich dabei gleich zu Beginn in einen Singsang über seine verflossene Liebe, er verlässt an einer Stelle die Bühne, um von Oberlin mit Vogelgezwitscher wieder zurückgeholt zu werden. Er lehnt sich gegen den Tod des Mädchens auf, um am Ende schließlich doch gänzlich zu kapitulieren. Im letzten Bild hängt er an imaginären Fäden wie von einer Marionette und grinst dümmlich ins Publikum. Ein tolles Bild für die Metapher eines fremdbestimmten Lebens.

Lenz © Lukas Maul / lukasmaul.at

Lenz © Lukas Maul / lukasmaul.at

Großen Anteil am Gelingen der Inszenierung hat Johanna Ralser, die das Bühnenbild und die Kostüme gestaltete. Die schwarz-weißen, unregelmäßig gestrichenen Wände verbergen geschickt Tony Marossek und Simon Harlan, die, wenn sie nicht spielen, sich in ihren ebenso schwarz-weiß gehaltenen Outfits einfach in die Ecken stellen, um dort beinahe unsichtbar zu werden. Die beiden Mägde hingegen stecken in weißen Waschweiberkleidern mit weißen Strümpfen und Flügelhauben. Oberlin tritt in einer hoch geschlossenen Soutane auf. Im Gegenzug zu Lenz, der barfuß geht, trägt auch er, wie Kaufmann, Plateauschuhe. Ein kleiner Hinweis auf das Ursprüngliche, Ungezwungene von Lenz, das gegen das Kultivierte, Normierte und gesellschaftlich Erwünschte auftritt.

Der Boden, zu Beginn hat es den Anschein, als würden alle in einer Art Morast waten, oder zumindest in einem abgestorbenen Sumpf, aus dem kein Leben mehr zu erwarten ist, dieser Boden verwandelt sich durch eine feine Lichttechnik bald in ein rotes Blütenmeer. Es ist Lenz, der sich darin wie selbstverständlich bewegt, sich im vollen Lebensrausch mit all seinen Sinnen spürt. Im Gegensatz zu den Frauen, die mit Strohbesen beständig versuchen, den Boden von den Blättern zu befreien.

Simon Dworaczek gelang ein intensiver, cleverer Theaterabend, der Lust macht, mehr von diesem jungen Regisseur zu sehen. Auf seine Abschlussarbeit darf man gespannt sein.  Die Latte hat er sich jedenfalls selbst sehr hoch gelegt.

Weitere Termine auf der Homepage des Max Reinhardt Seminars.

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