Ein Mythos auf Reisen

Atemberaubendes Theater vom Feinsten, ohne Abzugspunkte. Packend, beeindruckend, mythisch, witzig, tiefgründig, verboten, verwerflich – grandios. All diese Attribute sind aufzuzählen, wenn es um die Beschreibung der neuen Inszenierung des australischen „Back to Back Theatre“ geht. Eingeladen von den Wiener Festwochen, zeigt die Truppe mit 5 Schauspielern, wovon 3 davon eine geistige Behinderung haben, was großes, zeitgenössisches Theater ist und auch, was es kann.

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Die Zugsezene aus Ganesh vs Third Reich (Photo: Jeff Busby)

Ganesh Versus the Third Reich“ arbeitet mit verschiedenen Spielebenen, die sich wechselweise überschneiden und oft die Frage nach Realität oder Theaterspiel aufwerfen. Ganesha, einer der höchsten Hindu-Götter mit Elephantenkopf gilt als Segensbringer und ist in jedem indischen Haushalt als kleine Skulptur zu finden. Poesie, Musik und Tanz, aber auch die Wissenschaften im Allgemeinen sind seine Domäne – man könnte ihn beinahe als Pendent zur griechischen Göttin Athene ansehen. Ganesha spielt bei den Hindus heute noch eine große Rolle, Athene hingegen hat ihren Status mit der Christianisierung längst verloren. Rita Halabarec, Mitglied des „Back to Back Theatre“ schuf den Ausgangspunkt zu diesem Theaterabend. Sie war es, die Hunderte von Zeichnungen der indischen Gottheit anfertigte, manches Mal waren es bis zu 40 Blätter am Tag. Gleichzeitig entwickelte ein anderes Ensemblemitglied der Schauspielkompanie, die bereits seit 25 Jahren besteht, eine Art Neonazifigur. Bruce Gladwin, der künstlerische Direktor, der das Ensemble seit 1999 leitet, kam die Idee Nazis UND Ganesha ui googeln und stieß dabei auf Geschichten, die davon berichten, dass die Nazis den Hindus die Swastika gestohlen hätten.

Rund um diese Idee erarbeitete die Gruppe die Geschichte von Ganesha, der von Parvati, seiner Mutter nach Europa geschickt wird, um die Swastika – die von den Nazis modifiziert als Hakenkreuz Verwendung findet – zurückzuholen. Wenn dies nicht gelänge, stünde der Untergang der Welt bevor, denn Shiva, Ganeshas Vater, würde diese vor Zorn zerstören.
Und so macht sich Ganesha – dargestellt von Brian Tilley – auf die Reise nach Europa kurz vor Ende des 2. Weltkrieges. Dabei versetzt er gleich zu Beginn Dr. Mengele und einen Aufseher im Konzentrationslager Auschwitz in Angst und Schrecken und paralysiert beide kurzerhand mit seiner Allmacht. Tilley, der mit einer bunten, indischen Pluderhose und einem gewaltigen Elefantenschädel kostümiert ist, trägt ganz gottgemäß seine körperliche Opulenz ungeniert zur Schau, es gilt ja auch nicht einen Schönheitswettbewerb zu gewinnen, sondern Macht darzustellen. Nachdem er seine ersten Gegner kurz Schach Matt gesetzt hat, trifft er auf Levi, einen jungen Juden, dem Simon Laherty umwerfend seine Gestalt und Stimme leiht. Levi, im krassen Gegensatz zu Ganesha klein und schmächtig in gestreifter, jüdischer Sträflingshose, erklärt Ganesha, dass er Glück gehabt hätte, denn als geistig Behinderter erregte er großes Interesse bei Dr. Mengele und trotz aller körperlicher Qualen, die ihm bei Experimenten zugefügt wurden, besäße er doch einige Privilegien.

Ganesha gelingt es, Levi davon zu überzeugen, ihn nach Berlin zu begleiten, wo er Hitler aufsuchen müsse. Und so macht sich dieser mit seinem göttlichen Beschützer auf die Reise. Seine Familie – Eltern, Schwestern und Tanten – hat er alle im Lager verloren aber Ganesha muss ihn dennoch erst davon überzeugen, dass es nicht gegen seinen Glauben verstößt, wenn er sich ihm anschließt. So ungleich das Paar auch ist – so bedingen sie sich doch gegenseitig. Ganesha beschützt Levi, den schwachen Juden und Levi verleiht Ganesha durch seinen Glauben an ihn Lebensenergie.

Alice Fleming, die für das Bühnenbild verantwortlich zeichnet, gelingt an dieser Stelle ein Geniestreich. Ihre bodenlangen, durchsichtigen Plastikvorhänge, die bis dahin scherenschnittartig schon allerlei Raum illusionistisch darstellten, verwandeln sich nun in ein Zugabteil, in welchem Ganesha, Levi und ein Mitreisender Platz nehmen. Dahinter zieht – auf Basis eines Schwarz-Weiß-Trickfilmes – ein Gebirgspanorama vorbei, welches von den Reisenden jedoch gar nicht beachtet wird. Zu sehr ist Levi damit beschäftigt, seinem Gegenüber, einem fahrenden Händler, Rede und Antwort bezüglich seiner Freundin in Berlin zu stehen. David Woods, als Nylon-Strümpfeverkäufer klagt ihm dabei sein Leid, von allen als Jude angesehen zu werden, und bohrt unwissend tief in Levis Seelenwunden, indem er nach Größe und Gewicht seiner weiblichen Verwandten fragt. Diese Augenblicke – schwankend zwischen größter Komik, tiefster Tragik und knisterndster Spannung – gehören zu jenen, die man als große Theatermomente bezeichnet und als solche tatsächlich Spuren in der Erinnerung hinterlassen. Nicht unbeteiligt an diesen starken Emotionen ist Jóhann Jóhannson, der Komponist, der für die musikalische Unterlegung der Szenen verantwortlich zeichnet. Jede einzelne koloriert er ganz individuell und angepasst an die jeweilige Stimmung – und unterlegt sie mit mythisch-indischen Klängen bis hin zu Heavy-Metal-Rock. Dieser kommt zum Einsatz, als die Schauspieler, der Autor und der Regisseur sich in die Haare geraten. Denn, und das macht den zusätzlichen Reiz des Abends aus, das Stück verbleibt nicht allein in der Nacherzählung der fiktiven mythischen Geschichte, sondern wechselt dazwischen immer wieder zu seiner szenischen Entstehung während der ersten Proben.

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Der Genickschuss (Photo: Nurith Wagner-Strauss)

Dabei wird man Zeuge, wie die Schauspieler immer stärker versuchen, sich gegen einen Regisseur aufzulehnen, der, nachdem er erfolglos tief in die Motivationsschublade gegriffen hat – „Ich danke Euch für Eure konstruktiven Beiträge!“ – zum Manipulator und Diktator avanciert. Man ist geneigt, an dieser Stelle, wie an vielen anderen, einzugreifen und sich auf die Seite der Machtlosen zu stellen, vergisst dabei aber zugleich, dass es sich hier um eine exemplarische Situation handelt, die aufzeigt, dass eine Machtposition ein Oben und ein Unten produziert. Und diese nicht abhängig davon ist, ob die Menschen behindert sind oder nicht. Legionen von Schauspielerinnen und Schauspielern können hier Zeugnis ablegen, von Situationen, in welchen sie den Machtspielen ihrer Direktoren und Regisseure hilflos ausgeliefert waren und die Reihe des Machtmissbrauchs lässt sich beliebig erweitern. Ärzte und Patienten, Lehrer und Schüler, Eltern und Kinder und, und, und. Wenn Scott Price – das Enfant terrible der Aufführung – immer wieder betont, dass es gar nicht zulässig sei, seinen Kollegen Mark Deans die Rolle eines weiteren Juden im Lager spielen zu lassen, da dieser gar nicht wissen könne, was ein Jude oder ein Konzentrationslager ist, dann ist das Stück an einem Punkt angelangt, an welchem jene ethisch-moralischen Probleme angesprochen werden, die an der Zusammenarbeit mit geistig behinderten Menschen immer auftauchen. Und die sich das Publikum während der Aufführung auch immer wieder fragt. Ob – wie hier in der Theaterarbeit – oder bei den bildenden Künstlern in Gugging: Der Balanceakt entlang der schmalen Grenze zwischen der Unterstützung der Talente und deren Ausbeutung scheint immer gegeben. Doch man könnte sich auch fragen: Ist dies bei Kreativen, die keine geistigen Defizite aufweisen nicht auch so? Dass diese offen ausgesprochene Infragestellung dennoch nicht moralinsauer daherkommt, sondern ebenfalls zu mehreren Highlights des Abends mutiert, ist den komödiantischen Talenten aller Beteiligten zuzuschreiben. Und auch dem tiefgründigen Text, der immer dort Lachsalven auslöst, wo er mit herrschenden Konventionen bricht. Das Hin- und Herschieben von Rollen – „er kann doch nicht Hitler spielen, er spielt doch schon den Juden!“ – oder das vergebliche Bemühen, Scott beizubringen, dass er nach einem Genickschuss natürlich fallen und seine theatralischen Rotationsbewegungen vergessen muss, durchbrechen alle natürlichen Schamgrenzen – und sind dennoch niemals peinlich. Atemberaubend schon, weil die ausgesprochenen Tabubrüche uns neue Horizonte aufzeigen und unser Denken auf neue Gleise leiten, die in bislang ungedachtes Land führen.

Hitler – alias der frühere Jude Levi – alias Simon Laherty steigt im Showdwon mit Ganesha punktegleich aus. Zwar reißt er sich eine Armbinde mit dem Hakenkreuz vom Ärmel, um dem Elefantengott das Symbol zu überreichen. Aber er geht mit einer zweiten Armbinde, die unter der ersten zum Vorschein kommt, mit den Worten von der Bühne: Dieses Symbol wird immer mit mir verbunden sein. Ein Brandenburger Tor, das jeden Moment umzukippen droht und eine gedämpfte Beleuchtung evozieren gelungen die Untergangsstimmung im Führerbunker. David Woods als gescheiterter Regisseur und Mark Deans – der mit ihm schier bis in die Unendlichkeit Verstecken spielt – lassen den Abend im letzten Auftritt beinahe tränendrüsenerweiternd ausklingen.

Dass geistige Behinderte grandiose Schauspieler sein können und es viel mehr davon geben sollte, sodass sie durch starke Präsenz vielleicht auch einmal aus ihrer Freak-Rolle fallen, ist sicher ein Wunschdenken. Dass der Umgang mit geistig Behinderten offenbar ganz anders sein kann als in vielen Einrichtungen dieser Erde Praxis, ist ein Aha-Erlebnis, das Auswirkungen auf das Publikum nach sich ziehen kann. Und das ist diesem wunderbaren Theaterabend zu verdanken. Mehr muss Theater nicht beweisen. Fazit: „Ganesh Versus the Third Reich“ ist packend, beeindruckend, mythisch, witzig, tiefgründig, verboten, verwerflich – grandios.

GANESH VERSUS THE THIRD REICH: Promo from Back to Back Theatre on Vimeo.

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