Wer kennt Anna Achmatowa? Jene russische Schriftstellerin, die unter der Stalinära Berufsverbot hatte, aber dennoch in ihrem Land nie vergessen wurde? Jene Frau, die Modigliani in wunderbaren Zeichnungen, die weltberühmt wurden, festhielt? Im Alter durfte sie ihre Rehabilitation erleben und gilt heute als eine der wichtigsten Autorinnen der russischen Avantgarde. Dem Team um Erwin Piplits ist es zu verdanken, dass die Bekanntheit von Achmatowa nun auch in Wien steigt.
Die neue Produktion des Serapions Ensembles mit dem Titel „…am Abend der Avantgarde“ taucht tief in die Gedankenwelt von Achmatowa ein. Diese wird gleich von zwei Schauspielerinnen dargestellt: Ivana Rauchmann überzeugt als hübsche, sympathische, junge Frau, die versucht, ihren Platz in der Gesellschaft zu finden, ohne ihre Inspiration verraten zu müssen. Zuletzt trat sie in Wien mit einigen eigenen Regiearbeiten auf. Sandra Rato da Trindade gibt ihr Alter Ego, ihre innere Stimme, die mit Kraft und Vehemenz die Notwendigkeit der eigenen Kreativität verteidigt.
Das Bühnenbild, das Mirjam Salzer gemeinsam mit Piplits gestaltete, lebt von überraschenden und abwechslungsreichen Einfällen. Da wird eine durchsichtige Plastikhaut zu einer Überlebensblase, ein weißes Metallbett zu einem Traumvehikel. Rauchmann erscheint in einer Szene über allen auf einer hoch aufgerichteten, metallenen Treppe und darf mit lyrischem Ausdruck ein ganz zartes Lied anstimmen, dessen Zauber man sich nicht entziehen kann. An einer anderen Stelle wird ein überdimensionales Papierblatt mit Brandflecken plötzlich zu einem Flugobjekt. Und wieder ein anderes Mal erscheint das Ensemble beeindruckend als „usbekische Raben“, die gurrend und hüpfend die Bühne bevölkern.
Ganz zu Beginn der über zweistündigen Aufführung wird durch ein Sturmbrausen eine Szene in einem Ballsaal eröffnet. An deren Ende erschießt sich coram publico ein Mann. Der raue Wind, der schon wenige Jahre nach der Oktoberrevolution für die Intellektuellen und Kunstschaffenden in Russland zu wehen begann, war ein existenzbedrohender. Das wird in der Produktion von Beginn an vermittelt. Das Tribunal, dem Achmatowa bald vorgestellt wird, besteht in der Inszenierung aus einer Horde überzeichneter männlicher und weiblicher Apparatschiks, denen die junge Frau hilflos ausgeliefert ist. Ihrer Inspiration verdankt sie schließlich ihr Überleben. Das Schwanken, die eigene Kreativität als Lebenselixier anzuerkennen, zugleich aber auch als jenes Element erkennen zu müssen, das der gleich geschalteten Gesellschaft im stalinistischen Russland immer wieder bedrohlich entgegentritt, bestimmt den Abend durchgehend.
Es sind die inneren Konflikte, denen Piplits auf ganz spezielle, beinahe traumwandlerische Art und Weise nachspürt. Rauchmann spricht immer wieder den selben Satz: „Du wirst das sein, wovor ich immer Angst hatte, aber ohne dich kann ich nicht sein“ und lässt dabei in einer Doppeldeutigkeit offen, ob es sich dabei um die Liebe zu einem Menschen, oder zu ihrer schriftstellerischen Eingebung handelt. Ihre Begabung bedeutet für sie in diesem gnadenlosen, politischen System Fluch und Segen zugleich.
Die Texte, die zu hören sind, sind Gedichte von Achmatowa und kreisen um Liebe, Angst, Widerstand, Hoffnung und Trauer. Als Rauchmann an einem Seil befestigt zuerst durch die Lüfte schweben darf, schlussendlich aber in sich zusammengesackt zu Boden gelegt wird, wähnt man sich am Ende der Vorstellung, wird aber durch eine sehr launige Überleitung, die zwei „Wiener Bühnenarbeiter“ übernehmen, in die letzte Szene geleitet. In dieser macht sich das Ensemble mit Achmatowa in einem Zugabteil auf eine Reise ins Ungewisse. Die Landschaft, die via Projektion an dem Zugfenster vorbeizieht, zeigt, dass es eine weite Reise ist. Die Menschen, die mit der Schriftstellerin Platz genommen haben, beginnen zu streiten, zu singen, ein Fest zu feiern. Nur Achmatowa nimmt an alledem nicht teil. Apathisch liegt sie auf einer Bank, ohne dem bunten und lauten Treiben zu folgen. Ausgelassensein können die anderen, ihr Lebensweg ist ein einsamer, wenngleich auch selbstbestimmter.
Eine Lichtregie, die mehr mit dem Dunkel als mit Licht selbst spielt und eine weibliche Gestalt, die klagend russische Litaneien vorträgt (Ana Grigalashvili), verstärken die düstere Grundstimmung, die das Leben der Schriftstellerin bestimmten. Ihren Ehemann verlor sie in der Gefangenschaft und musste über 15 Jahre um ihren Sohn bangen, der zum Tode verurteilt, in einem Lager eingesperrt war.
Warum sich die Zug-Szene wie ein Epilog an das Geschehen anschließt, ist nicht wirklich klar zu deuten. Die Dramaturgie hätte hier ein wenig nachschärfen können. Der Abend selbst ist, bis auf eine Länge, dennoch sehenswert und animiert, sich mit Ana Achmatowa intensiver auseinanderzusetzen.
Termine auf der Website des Odeon Theaters.