Karoline zieht in aller Kürze messerscharf Bilanz: „Du bist zu schwer für mich“, liefert sie als Erklärung ihrer beider Unvereinbarkeit und klopft sich dabei lachend auf ihren Bauch. Die Aussage, die bei Horvath die gänzlich unterschiedlichen Charaktere des Paares beschreibt, wird durch Stefanie Reinspergers Geste und ihr anschließendes, herzliches Lachen ins Physische gedreht. Sind doch sowohl sie als auch ihr Freund (Rainer Galke) keine sogenannten „Schmalpickten“. Kasimirs schlechte Laune hält seine Freundin jedoch nicht davon ab, sich allein auf der Achterbahn zu vergnügen. Dort trifft sie einen jungen Mann mit dem sprechenden Namen Schürzinger, einen Zuschneider, zu dem sie sich rasch hingezogen fühlt.
Reinsperger und Galke als widersprüchliches Liebespaar
Reinsperger scheint die Rolle der Karoline auf den Leib geschrieben zu sein. Sie interpretiert die junge Frau mit einer überschäumenden Portion Lebensgier. Je mehr sich Kasimir zurückzieht, umso heftiger geht sie in die Offensive und demonstriert dabei nicht nur ihre unbändige Lebensfreude, sondern versucht dabei auch ihre Unabhängigkeit zu demonstrieren. Rainer Galke verkörpert als Kasimir das genaue Gegenstück. Er gibt sich introvertiert und hockt, während er selbst keinen Auftritt hat, permanent am Bühnenrand und blickt dabei ins Publikum. Als „Zaungast“ des Geschehens, das sich rund um ihn herum abspielt, macht er sich offenkundig seinen eigenen Reim auf die Zu- und Umstände, ist dabei aber unfähig, aktiv in die Handlung einzugreifen.
Horvath belebt das Stück noch mit weiteren Charakteren, die nicht nur zur Handlung, sondern auch zur gesellschaftlichen Kritik dieses Stücks beitragen wie den Merkl Franz (bei Kaspar Lochers Brutalaktionen reagiert das Publikum angeekelt bis geschockt) und seine Erna (Birgit Stöger).
Merkl ist ein brutaler Krimineller, seine ihm hörige Freundin arbeitslos. Die höchst einfältige, aber herzensgute Frau wird von ihm ständig missbraucht, körperlich und verbal. Dabei verteidigt sie sich nie, wird dadurch aber jedes Mal noch unglücklicher, ja sogar melancholischer. Doch ist sie es, die bis zum Schluss sowohl eine Träumerin bleibt, als auch eine scharfe Beobachterin der Vorkommnisse um sie herum ist.
Wunderbar der Regieeinfall, ihre „rauchende Tasche“ am Ende des Stückes an Karoline weiterzugeben und damit die Umkehrung der Rollen zu demonstrieren. Stöger wandelt apathisch und teilweise wie in Trance durch das Stück, hilflos und weitsichtig zugleich und findet völlig unverhofft schließlich mit Kasimir ihr Glück.
Auch die Intelligenz beugt sich dem schnöden Mammon
Kommerzienrat Rauch (Michael Abendroth) und Landgerichtsdirektor Speer (Lukas Holzhausen) sind im Gegensatz zu allen anderen Figuren des Stückes am oberen Ende der Einkommensspirale angesiedelt. Kommentare wie: „Ein Mädchen ohne Popo ist kein Mädchen“, gehören wie selbstverständlich zum Repertoire der beiden in die Jahre gekommenen Freunde, die sich von ihrem Besuch beim Oktoberfest nicht nur ein Besäufnis, sondern auch Frauenbekanntschaften erhoffen.
Besonders die Go-Go Girls Maria und Ellie haben es ihnen angetan. Diese rezitieren während ihrer Auftritte einen höchst philosophischen Text des französischen Künstlers Guy Debord (1931-1994), in welchem der Begriff des „Spektakels“ zu erklären versucht wird. Ihre Charaktere stehen in krassem Gegensatz zu jenen von Karoline und Erna, die in ihrer Bodenständigkeit keinerlei intellektuellen Anflüge erkennen lassen. Doch hält sie schlussendlich auch ihr Intellekt nicht davon ab, sich gegen Geld mit dem alten Speer einzulassen.
Inmitten des Geschehens agiert der Zirkusdirektor (Thomas Frank), der mit einem Abnormitätenkabinett seine Kundschaft anlocken möchte. Anders als es der Originaltext vorgibt, agieren weder Zwerge, Fettleibige noch siamesische Zwillinge sichtbar auf der Bühne. Vielmehr verschwindet die spektakelsüchtige Gesellschaft mithilfe einer Treppe im Untergrund um sich dort, fernab vom Publikum, den Reizen des Abnormen hinzugeben.
Horvath beschrieb mit den Abnormitäten nicht nur die Menschen, die als Zirkustiere benutzt werden, sondern auch das Unmenschliche der Gesellschaft sowie jedes einzelnen an sich. Seine Gesellschaft ist keine solidarische, sondern eine nach Macht gierende. Jeder – bis auf Erna – benutzt die Beziehungen zu seinen Mitmenschen für seine eigenen Zwecke. Sie ist es auch, die eine tiefe, humanistische Aussage trifft: „Die Menschen wären gar nicht schlecht, wenn es ihnen nicht schlecht gehen tät.“ Eine Behauptung, die jedoch von vielen Horvath´schen Charakteren widerlegt wird.
Eine höchst wandelbare Drehbühne
Bühnenbild und Licht (Ramallah Aubrecht und Paul Grilj)sind tragende Säulen der Inszenierung. Dabei dient die rundum mit elektrischen Lämpchen verkleidete Drehbühne einmal als Karussell, dann wieder als Zirkus, Hochschaubahn und Spiegellabyrinth, markiert im übertragenen Sinn aber auch ein Gefängnis, in dem sich – bis auf Kasimir – nach und nach alle einfinden. Dabei agieren sie in einem Teufelskreis aus Lügen, falschen Versprechungen und List.
Sartres Zitat: „L’enfer, c’est les autres“ – „Die Hölle, das sind die anderen“, gibt das Leiden der Figuren in dieser Konstellation adäquat wieder. Der geschickte Einsatz von Live-Filmaufnahmen und die Projektion auf eine Leinwand über dem Bühnengeschehen lenkt die Aufmerksamkeit des Publikums ganz im Sinne des zitierten „Spektakelbegriffes“ weg von den Schauspielerinnen und hin zu ihrer reinen Projektion. Der Herzdurchschuss, der auf Schürzingers historischem Oberleutnant-Kostüm bei seinem letzten Auftritt mit Karoline sichtbar ist, macht klar, dass seelische Blessuren der Preis von Selbstverleugnung und der Gier nach sozialem Aufstieg auf Kosten anderer sind.
Die zeitgeistige Inszenierung von Philipp Preuss macht auch die Aktualität des Stückes deutlich und zeigt einmal mehr die Scharfsichtigkeit mit der Ödön von Horváths seine Charaktere so zeitlos anlegte.
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