Was wäre, wenn die rechte Regierung in Ungarn die Schrauben bezüglich freier Meinungsäußerung noch mehr anzöge als sie es jetzt schon tut? Was wäre, wenn die Menschen sich in unserem Nachbarland wieder auf die Flucht machten? Was hätten unsere westlich geprägten Lebensentwürfe, unser Demokratieverständnis einem autoritären System entgegenzustellen und gibt es einen Ausweg aus einem faschistoiden Gefüge?
Im Akademietheater läuft bis 25. Juni noch in wenigen Vorstellungen „Eiswind / Hideg szelek“ von Árpád Schilling und Éva Zabezsinszkij. Der ungarische Regisseur wurde in Frankreich 2008 zum „Chevalier de l’Ordre des Arts et Lettres“ ernannt und erhielt 2009 den Europäischen Theaterpreis für Neue Realitäten im Theater. In „Eiswind / Hideg szelek“ lässt er Ilona (Lilla Sárosdi), eine junge Ungarin aus ihrem Land flüchten. Sie kommt über die Vermittlung einer Freundin, in eine einsame, abgelegene, österreichische Berghütte und trifft dort auf Frank (Falk Rockstroh), einen abgeklärten Akademiker, der seiner Jugendzeit nachtrauert und der eine Grabrede, bei der er das saturierte Establishment seiner Freunde anprangerte, als mutige Tat für sich proklamiert.
Das psychologische Kammerspiel kommt mit nur einem Bühnenbild aus – der Außen- und zugleich auch Innenansicht einer schicken Alpenherberge (Bühne Juli Balázs) und gerät erst richtig in Fahrt, als sowohl János (Zsolt Nagy), der Mann von Ilona, als auch Judith (Alexandra Henkel), die Frau von Franck, auftauchen. Sie kommt in Begleitung ihres Sohnes Felix (Martin Vischer), der drogenabhängig ist und sich seiner Mutter komplett unterordnet. Schilling lässt in dieser Konstellation zwei Welten aufeinandertreffen. Eine österreichische Familie, in der die Mutter eine erfolgreiche Geschäftsfrau ist, der Vater eine universitäre Karriere hinter sich hat und der Sohn als wohlstandsverwahrlost bezeichnet werden kann, prallt auf den autoritären Polizisten János, der als Patriarch seinen Sohn Levente (András Lukács) in ein Gymnasium für nationale Verteidigung steckte. Der ernste Junge wird via Skype kontaktiert und darf seine Deutschkenntnisse in einem Gespräch mit seinen Eltern und den Gastgebern der Berghütte erproben. Ilona gibt auf die Frage, welchen Beruf sie ausübe schlicht „Pipi“ an. Der deutschen Sprache wenig mächtig, bezeichnet sie so ihren verhassten Job bei der Polizei, bei dem sie den Urin von Jugendlichen in der Schule auf Drogenmissbrauch überprüfen muss.
Das klug geführte Spiel geizt nicht mit Stereotypen. So ist János ein brutaler Schläger, der keine Widerrede duldet und sich von seiner Frau, die ihn verlassen hat, in seiner Ehre gekränkt fühlt. Frank hingegen ist ein jammernder Alt-68er, der sich über seinen Wohlstand beklagt, Judith eine taffe Endvierzigerin, die ihren Mann anherrscht, er solle den Mund halten, wenn sie miteinander sprächen und Ilona eine eingeschüchterte Frau, die weder das politische System in Ungarn mehr erträgt, noch ihre Rolle als unterdrückte Ehefrau und Mutter und deshalb ihr Zuhause verlässt, um noch einmal von vorne anzufangen.
Ein aufkommender Sturm nötigt die so unterschiedlichen Charaktere eine Nacht gemeinsam in der Hütte zu verbringen. Mehr als das, ein nachts umgestürzter Baum verhindert, dass sie am nächsten Tag wieder abreisen können und so treten im Zusammensein auf engstem Raum nach und nach die Bruchlinien der sozio-kulturellen Unterschiede offen zutage. Treibende Kraft einer in Tod und Zerstörung endenden Entwicklung ist János, der mit seinem autoritären Gehabe keinen Widerpart findet und meint, das Leben der Österreicher, vor allem das von Judith, gehörig umkrempeln zu müssen. Nicht ganz glaubwürdig lassen sich Frank und sein Sohn Felix im Verlauf des Geschehens dazu hinreißen, dass János seine Frau als Wolfs-Köder im Garten festbindet, um die Tiere, wenn sie ihr Blut geleckt hätten, mit einem Gewehr abknallen zu können. Judith wird genötigt, die gefesselte Ilona in die Hand zu schneiden, rächt sich jedoch am Ende des Stückes auf ihre eigene Art und Weise. Sohn und Vater sind durch eine List am Dach der Hütte gefangen, auf der Felix schließlich noch einen Vatermord begeht. Dramaturgisch lässt sich dies nur durch den zweimaligen Hinweis im Stück erklären, bei welchem Janós den jungen Mann mit Hamlet anredet, wobei das Agieren von Felix eher einem Ödipus-Komplex geschuldet ist.
Das Stück, das in seiner Kulmination von Mord und Totschlag geprägt ist, weist jedoch wesentlich mehr Ebenen auf, als die dramatisch erzählte. Es kolportiert die Idee eines faschistoiden Ungarn, in dem schon die Jungen auf die Verteidigung ihres Vaterlandes gedrillt werden. Es zeigt die Einstellung eines nicht unerheblichen Teiles von ungarischen Männern, dass die Frau dem Mann untertan zu sein hat. Es macht deutlich, dass es für die Akzeptanz in einer rigiden Gesellschaft notwendig ist, die sozialen Rahmenbedingungen unbedingt einzuhalten. So wird die streng reglementierte Sozialisierung, die Janós mehrfach von der Polizei, für die er arbeitet, anspricht, auch gegen den Willen von Familienmitgliedern beinhart durchgezogen.
Ein wichtiger Bestandteil einer faschistoiden Gesellschaft sind Feindbilder, ohne die eine Mobilisierung des Mobs nicht funktioniert. Im Stück sind dies die „Wölfe“, von denen permanent gesprochen wird, die aber kein einziges Mal tatsächlich auch bedrohlich auftreten. Vielmehr füttert an einer Stelle Ilona ein scheues Wesen, das keinerlei Anstalten macht, anzugreifen. Ohne diese Feindbilder gäbe es keine Projektionsflächen, gegen wen oder was eigentlich gekämpft werden muss und sei es, wie in diesem Stück, schließlich auch nur die eigene Ehefrau.
Es ist das enorme, intensive Spiel, das alle auf der Bühne zeigen, das die Metaebene des Stücks erst in der Reflexionsphase bewusst werden lässt. „Eiswind / Hideg szelek“ ist eine Metapher für ein zeitgeistiges Geschehen in Europa, das sich lieber abschottet als sich mit kulturellen Phänomenen Andersdenkender auseinanderzusetzen. Es ist eine Mahnung und ein Exempel zugleich, wie faschistische Strukturen aufgebaut sind und wie sie angewendet werden. Die Namen der Beteiligten sind nicht zufällig gewählt – János und Ilona kommen in dem ungarischen Nationalepos „Held János“ von Sándor Petöfi vor, in dem die beiden Liebenden erst nach ihrem Tod zusammenfinden. Und dass Judith jene biblische Gestalt war, die in der kunsthistorischen Überlieferung mit der Trophäe, dem Haupt des Holofernes abgebildet ist, auch das ist kein Zufall.
Árpád Schilling und Éva Zabezsinszkij riskieren mit ihrer schonungslosen Zurschaustellung von Macht und Widerstand viel. Es geht ihnen nicht um ein Theater, das als Freizeitvergnügen konsumiert werden kann. Die Abscheu gegen Gewalt, die Hinterfragung von patriarchalischen Strukturen aber auch die Erkenntnis, dass Bevölkerungsschichten, die wir für immun gegen demagogische Agitation erachten, sich leicht verführen und unterwerfen lassen, all das bekommt man mit auf den Nachhauseweg. Und das ist nicht gerade wenig.
HINWEIS: Unsere Empfehlung: Unbedingt das Programmheft kaufen – es beinhaltet eine Reihe von Texten, die sich mit der aktuellen europäischen und im speziellen auch ungarischen Verfasstheit beschäftigen.
Weitere Termine auf der Homepage des Burgtheater.