Heute nehme ich mir einmal die Freiheit, meinen Kunstbegriff radikal zu erweitern. Es soll nicht die Rede sein von Bildern oder Skulpturen, nicht von Architektur oder Bühnenaufführungen. Heute möchte ich einige Impressionen und Reflexionen über etwas anbieten, dass viele von uns tagtäglich, zumindest jedoch einmal pro Woche tun: Einkaufen. Wobei ich mich auf das Beschaffen von Lebensmitteln beschränken möchte. Das allein, will man es zur hohen Schule bringen, schon eine Kunst darstellt.
Ab in den Supermarkt, rein in die Einkaufswägen. Dabei noch munter mit den Verpackungen herumgeschmissen und zuhause dann lieblos liegengelassen, sorgfältiger weggestapelt oder gleich geöffnet und verzehrt – so sieht heutzutage die durchschnittliche Beschäftigung mit den Produkten aus, die uns unsere Lebenskraft und unseren Lebenssaft geben sollen.
Ist Ihnen dieser lieblose Umgang noch nie wirklich aufgefallen? Wenn nicht, dann beobachten Sie entweder sich selbst oder Ihre Mitmenschen im Supermarktkaufwahn. Zwar gibt es verschiedene Einkaufstypen – jene, die gezielt losmarschieren um das einzukaufen, was sie vorher schon auf einem Zettel niedergeschrieben haben oder sich im Kopf memorierten, oder jene, die nach Lust und Laune in die Regale greifen. Es gibt Menschen, die sich prinzipiell an den Sonderangeboten entlanghanteln und andere wieder, die in rauhen Mengen ihre Lieblingsprodukte kaufen – immer und immer wieder. Aber seltener kommt jene Spezies vor, die Päckchen aus Regalen holen, das Kleingedruckte aufmerksam lesen und – das Produkt dann wieder in das Regal zurückstellen.
Das sind jene, die entweder eine Lebensmittelallergie ihr Eigen nennen dürfen oder die noch gesund bewusst auf der Suche nach Inhaltsstoffen sind, die sie lieber nicht zu sich nehmen möchten. Dazu gehöre ich. Und darüber bin ich sehr froh. Allerdings hat diese Eigenschaft einen kleinen Haken: ist man damit nämlich ausgestattet, vermeidet man im Laufe der Zeit immer mehr den Gang in die großen Konsumtempel. Denn, obwohl die Regale prall gefüllt sind und die Ladeflächen ständig größer werden, schrumpft das Angebot an gesunden, naturbelassenen Lebens-Mitteln immer mehr.
Wer glaubt, dass er sich mit einem Fruchtjoghurt einer der gängigen Marken aus dem Kühlregal einen gesunden Gefallen tut, dem sei angeraten, nur einmal bei diesen kleinen, vermeintlichen Leckereien auf die Inhaltsstoffe zu achten. Ganz zu schweigen von jenen Produkten, die als Fertiggerichte – egal ob im Kühlregal oder getrocknet und auf Wasserzugabe wartend – angeboten werden. Das laute Verlesen der Zutaten führt garantiert zu einigen Zungenbrechern, ob der chemisch langen Bezeichnungen einiger Inhaltsstoffe. Probieren Sie es ruhig selbst einmal.
Ehrlich gesagt, ich esse nichts, was ich nicht halbwegs aussprechen kann und wovon ich nicht weiß, was es überhaupt ist. Gerichte mit Nummern, wie jene, die Farbstoffe angeben, esse ich schon gar nicht und das Wort naturidentisch ist eines der größten Bluffwörter der letzten Jahre, das mir schon eine leichte Gastritis verursacht, wenn ich nur daran denke. Leider – oder Gott sei Dank – habe ich kein Chemiestudium absolviert und bin deswegen nicht in der Lage, mir jene Inhaltsstoffe zu erklären, die auf einem Päckchen Suppe angegeben sind, von so komplexen Mahlzeiten wie asiatischen oder südamerikanischen Leckerbissen einmal ganz abgesehen. Obwohl viele Menschen aufgeklärt sind und darüber Bescheid wissen, dass sich ohne chemische Zusätze Lebensmittel nun einmal nur bedingt halten, schalten die meisten bei deren Beschaffung jedoch offensichtlich ihren Verstand aus. Nach dem Motto – schnell, schnell rein und wieder raus – sowohl in den Supermarkt, als auch in den Magen – nehmen sie zu sich, was sie lieber nicht zu sich nehmen sollten.
Aber hier gibt es offenkundige Parallelen, was das Lebensmitteleinkaufen und den Kunstkonsum betreffen. Je mundgerechter präsentiert, je mehr beworben, umso erfolgreicher. Auf den Inhalt schauen oder diesen gar hinterfragen, ist für die meisten von uns pure Zeitverschwendung. Dass man sich mit solchen Konsumgewohnheiten aber auch um die herrlichsten Genüsse im Leben bringt, ist nur den Wenigsten bekannt. Wenn ich Kunst richtig verstehen möchte, dann genügt es nicht, sich der Sache oberflächlich zu nähern, sie zu konsumieren und wieder zu vergessen. „Kennertum“ ist hier gefragt, und das ist nur zu erreichen, wenn ich tatsächlich auch viel „kenne“. Erst durch die intensive Auseinandersetzung mit einem Thema wird es mir möglich, Zusammenhänge zu erkennen und Verlgeiche zu stellen. Wie schön das Gefühl ist, im Laufe der Jahre immer tiefer in diese Kennerschaft einzutauchen, versteht nur, wer sich selbst auch einem bestimmten Thema lebenslang verschrieben hat. Egal ob in der Kunst oder in einer anderen Thematik. Kein Meister ist vom Himmel gefallen, und das gilt sowohl beim Einkauf und auch dem anschließenden Kochen, als auch in der Kunst.
Einkaufen, nach hoher Schule, bedeutet für mich, sich bewusst machen, was mir und meiner Familie gut tut, was die Jahreszeit gerade hergibt und was regionale Lebensmittelhändler und -erzeuger gerade anbieten. Nicht, welches Sonderangebot von den Lebensmittelriesen unter die Menschheit gebracht werden soll oder welche vermeintlichen diätischen Musts in Form von gesunden Produkten mit Vitamin- und Ballastzusatzstoffen mir in den Regalen und zuvor in der Printwerbung offeriert werden. Vergleichbar ist dies auch mit einem sinnvollen Kunstgenuss. Dazu zähle ich nicht den Gang ins Kino zur Vorführung eines Hollywoodschinkens, dessen Produktionskosten eingespielt werden müssen oder der Besuch eines „Musicals“, welches über Jahre hinweg auf großen Bühnen einem großen Publikum vor Augen und Ohren gebracht wird. Gewiss, auch das kann ab und zu erbaulich wirken, aber es käme wohl niemandem in den Sinn, sich danach als „Kenner“ der Materie zu titulieren. Das Angebot an Kunst ist heute jedoch – vergleichbar mit den Produkten auf dem Gebiet der Lebensmittel – so groß geworden, dass schon eine gehörige Portion Selektismus notwendig ist, um sich das herauszusuchen, womit man sich wirklich beschäftigen möchte. Genauso, wie es notwendig ist, eine Selektion von Kunstgenuss vorzunehmen, ohne restlos überfordert und übersättigt zu werden, ist es notwendig, sich bewusst zu machen, was man eigentlich isst und was einem gut tut und was nicht.
Mein Nachbar betreibt einen kleinen Lebensmittelladen mit einer kleinen Auswahl an Bioobst und Gemüse, einer größeren Auswahl an Weißgebäck und einer noch größeren Auswahl an griechischen Vorspeisen. Er hat 7 Tage von 9.30 bis 21:30 geöffnet und arbeitet, abwechselnd mit seinem Sohn, im Zweischichtbetrieb. Wie herrlich, am Sonntag für einen ungeplanten Brunch rasch kleine Köstlichkeiten von ihm zu holen, abends noch schnell eine Schachtel Eier und Milch, oder was immer gerade im Haushalt ausgegangen ist. Bewusst lasse ich das eine oder andere im Supermarkt, so der mich überhaupt zu Gesicht bekommt, liegen, um meinen Nachbarn durch einen Einkauf zu unterstützen. Denn wenn ich es nicht mache, und viele andere auch nicht, dann wird es ihn bald nicht mehr geben – und mit der Schließung seines kleinen Ladens würde auch ein riesiges Stück Lebensqualität wegfallen.
Samstags geht es auf den Wochenmarkt, auf einen von zweien in meiner Stadt. Auf den wesentlich kleineren, überschaubareren, da er nur regionale und Bioprodukte anbietet. Vielmehr nicht „er“ sondern die Erzeuger derselben, direkt ab Hof, sozusagen. Es ist schön zu sehen, wie sich ein altes 68er-Kollektiv mit der Produktion von Vollkornbrot offensichtlich große Mühe gibt und den ultimativen Erfolg dennoch mit seiner Schaf- und Ziegenkäseproduktion einfährt. Es ist schön zu sehen, wie Äpfel im Laufe einer Saison immer kleiner und schrumpliger werden, sind sie doch nicht chemisch behandelt und gelagert, sondern dürfen ruhig ihrem natürlichen Ende entgegenwelken. Es tut gut mitzubekommen, wie die Menschen, die kleine Anbauflächen betreiben, von ihren Produkten leben können, stolz auf diese sind und fröhlich ihre Stammkundschaft begrüßen, sich nach dem Befinden erkundigen oder einfach über das Wetter herziehen, das ohnehin nie passt.
Die so angebotenen Produkte sind Lebens-mittel im wahrsten Sinne des Wortes. Sie ermöglichen das Leben jener, die sich um deren Anbau und Produktion kümmern und sie spenden Leben jenen, welche sie verzehren. Es stimmt schlichtweg nicht, dass sich Menschen mit einem kleinen Portemonnaie diese Produkte nicht leisten könnten. Auch mein Portemonnaie ist nicht prall gefüllt, aber ich laufe zu Fuß einkaufen, mit meinem kleinen Einkaufswagen, den ich hinter mir herziehe und brauche so weder Auto noch dazugehöriges Benzin. Ich kaufe nur soviel ein, wie mein Mann und ich, oder gegebenenfalls unser Besuch, innerhalb der nächsten Tage verzehren können, und ich verarbeite alle Lebensmittel in meiner Küche selbst, und, schenke ich den Bekochten Glauben, das auch sehr gut. Ich brauche für meinen Mann und mich am Tag im Schnitt 10 Euro für Lebensmittel und bestreite damit Frühstück, Mittag- und Abendessen. (Feiertage ausgenommen, da gönnen wir uns öfter teurere Produkte) Was ich hier nicht einrechne, ist die Zeit der Lebensmittelbeschaffung und jene des Kochens. Aber das machen die anderen auch nicht.
Mittlerweilen ist es schon so weit gekommen, dass die nächste Generation, also meine Kinder und meine Nichten und Neffen uns liebend gerne besuchen, alleine wegen des frisch gekochten Essens. Das freut mich zwar riesig, lässt aber auch Rückschlüsse zu, was sie sonst tagtäglich zu sich nehmen. Da ich der Meinung bin, dass Erwachsene und ältere Menschen Vorbild für die Jugend sein sollten, nehme ich auch alle immer zu meinen Einkaufstouren mit. Zu Fuß, oder mit der Straßenbahn, versteht sich. Tratsche mit den Händlerinnen und Händlern, frage nach bestimmten Zutaten die ich nicht sehe, die man mir aber fast immer gerne besorgt, verändere ad hoc den Kochplan für die kommenden Tage, wenn es etwas Frisches gibt, das gerade im Überfluss angeboten wird, oder auch etwas ganz Besonderes, dass nur alle heiligen Zeiten einmal den Weg zum Verkaufsstand findet, und freue mich dann zuhause über die Maßen, all die frischen Lebensmittel auszupacken, noch einmal zu begutachten und je nach Anforderung dann zu verstauen. Dass meine jungen Begleiterinnen und Begleiter sich das eine oder andere aussuchen und mitnehmen dürfen, das sie verlockend anlacht, versteht sich von selbst. Ich kann Ihnen meine Freude an diesem Geschehen ja nur dann vermitteln, wenn sie selbst auch Freude daran haben.
Es ist zur Kunst geworden, das bewusste Einkaufen. So wie es eine Kunst ist, Gerichte auf das Köstlichste zuzubereiten. So wie es eine Kunst ist, Achtung vor der Arbeit all jener zu haben, die sich mit der Produktion beschäftigen. Es ist zur Kunst geworden, mit dem kleinen Lebensmittelhändler von Nebenan einen kurzen Tratsch zu halten, so wie es zur Kunst geworden ist, bewusst auf eine supergünstige Großpackung Karotten zu verzichten und lieber nur zwei Stück beim Biohändler einzukaufen, die zwar teurer sind, dafür aber im Kühlschrank auch nicht vergammeln, ob der Übermenge. Es ist eine Kunst, Vielfalt auf den Tisch zu bringen und sich und den Seinen damit eine Freude zu bereiten. Und Kunst tut mir immer gut – egal in welcher Form und ich glaube, nicht nur mir.
Bonjour,
Was die Esskultur betrifft, so bin ich sicher, dass wir darüber stundenlang diskutieren könnten.
Während die ersten Menschen noch aßen, weil sie sich ernähren mussten, so hat sich das wohl radikal geändert. Das Essen als Ersatz für Liebe und Aufmerksamkeit ist einer der hervorragendsten Faktoren in unserer Zeit. Entscheidungen treffen wir ja oft „aus dem Bauch“ heraus. Essen hält „Leib und Seele“ zusammen. Manche Menschen haben Essstörungen.
Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es kaum fettleibige Menschen. Wenn ich Milch beim Milchmann holen sollte, so nahm ich die Milchkanne. Keine Plastikflasche, kein Auto für Transport. Die Milch kam auch aus der Region.
Heute weiß ich, dass Büsumer Krabben nach Hamburg kommen, von wo sie nach Marokko fliegen, gepult werden und zurückfliegen. Niemand will sie mehr pulen, oder doch? Also fliegen die Krabben nach Marokko, weil sonst die Nebenkosten für Pul-Jobs viel zu hoch wären. Ja, Leute, erklärt mir doch mal, warum die Krabben trotz Marokko noch so teuer sind? Wir könnten also Jobs schaffen.
Ich komme nochmal auf die Nachkriegsjahre zurück. Hähnchen war ein Sonntagsgericht. Bonbons kauften wir in einem Paket mit „5 Stück“. Unser Spielzeug war einfach: Puppen für Mädchen und Fußball für Jungs.
Ohne in Nostalgie verfallen zu wollen, Irgendwie fehlt mir die Einfachheit der Dinge.
Herzliche Grüße,
Karin
Liebe Michaela, ich finde Deinen Vergleich sehr spannend und treffend. Beim Kochen spricht man von Kochkunst. Diese Anerkennung, ist ohne weiteres in heutiger Zeit auf das Einkaufen übertragbar – da stimme ich Dir voll und ganz zu. Vor allem eben auch, da sich die Rahmenbedingungen des Warenangebots so dermaßen verändert haben, dass es ein Anlass ist, das Einkaufen neu zu bewerten. Und auch weil es ebenso wichtig ist wie das Kochen: Gerade bei dem Homecooking, einer Küche, die mit weniger Zutaten auskommt, offenbart sich die Qualität besonders stark. Da gibt es weniger Gewürze und vor allem Glutamat, die über mäßige Qualität hinwegtäuscht.
Schöner Artikel von Dir! Dankeschön! (Twittere ich gleich mal!)
Liebe Valentina, danke für deinen Kommentar und das Lob! 😉 Ich habe heute morgen einen Artikel über das Milchangebot in Frankreich gelesen und war entsetzt. Nur mehr 1% kommt von Kühen, die biologisch gehalten werden. Und der größte Milchlieferant der Welt ist Indien. Nur – davon steht auf keiner Packung etwas. Hier ist es tatsächlich eine Kunst, sich noch köstlich und gesund zu ernähren.
Das ist interessant. Ich habe vor 1-2 Jahren den dokumentarischen Roman von Michael Booth – Sacre Cordon Bleu gelesen. Er widmet sich sehr ausgiebig der Frage, warum sich Bio in Frankreich nicht durchsetzt, obgleich der Einsatz von Pestiziden im europäischen Vergleich spitze ist usw. — Indien – unglaublich!
Hallo Michaela,
schön, dass ich deinen Artikel beim Stöbern gefunden habe. Ich betrachtete mich als Exot, weil ich nur natürliche Produkte zum Essen verwende… Es gibt also doch noch mehr „Kunstesser“ auf unserem schönen Planeten. Die Kunst mit heimischen Produkten, ein schmackhaftes Mahl zu zelebrieren ist für mich ein Bedürfnis geworden. Darum lebe ich temporär in Marokko. Dort gehe ich zum Souk, fasse das Obst und das Gemüse an, um die Qualität zu prüfen. Lege das ausgewählte in eine Schlüssel und reiche es dem Bauern. Ein paar arabische Floskeln, frage nach dem Preis und bin glücklich. Die Kunst mit Augen, Nase und den Hände das Nahrungsmittel auszuwählen, ist ein sinnliches Bedürfnis für mich geworden. Leider kommt die Lebensmittelindustrie in Siebenmeilenstiefeln zum Mahgreb. Tütensuppen und Konsorten stapeln sich im Supermarkt. Ich werde aber weiterhin zu „meinen“ kleinen hanouts einkaufen gehen.
Hallo Monika! Einen herzlichen Gruß nach Marokko. Auch wenn es schwierig ist, nicht mit dem Strom zu schwimmen und sich als Exot zu fühlen – das Leben ist ein schöneres und freieres und – gesünderes, wenn man an das Essen denkt. Ich feue mich, dass meine Gedanken auch in so weiter Entfernung Resonanz finden und wünsche Dir weiterhin viel Spaß beim kunstvollen Einkaufen.