Ein prallvoll gefüllter Sack Theater. Angefüllt bis oben hin, nein mehr noch – so angefüllt, dass er aus allen Nähten zu platzen droht. Seinen Inhalt kann man nur dann wirklich genießen, wenn man ihn Stück für Stück entleert und dabei jedes einzelne Päckchen entschnürt vor sich hinlegt und naiv bestaunt.
Es bedarf eines einfachen, bildlichen Vergleiches wie diesem, um „Les naufragés du fol espoir (aurores), das letzte Stück des Théâtre du Soleil unter der Leitung von Ariane Mnouchkine zusammenzufassen und auf den Punkt zu bringen. Der Titel „Schiffbruch mit verrückter Hoffnung – Morgenröte“ ist nicht nur in Anlehnung an ein kleines Bistro entstanden, in welchem sich Arbeitende und Intellektuelle in Paris im Jahre 1914 treffen. Vielmehr ist jedes einzelne Wort darin Programm für den Theaterabend. In komprimierter Form gibt er wieder, was zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Welt bewegte. Der 1. Weltkrieg klopfte an die Haustüre Europas und dessen Bewohner öffneten ihm Tür und Tor, ohne zu wissen, welche Katastrophe über sie hereinbrechen würde. Das Schiff, auf dem Menschen hoffnungsvoll in eine neue Zukunft fuhren, erlitt Schiffbruch und jene, die überlebten, waren genötigt, auf neuem Terrain mit neuen Ideen und neuer Anstrengung ein neues Leben zu beginnen.
Angesiedelt in der Halle A der Wiener Messe hat das Théâtre du Soleil, angelockt von den Wiener Festwochen, sein Bühnenuniversum aufgebaut. Die Holzcontainerwand, die als Begrenzung zum Foyer dient, macht klar, dass hier nicht mit Requisiten gespart wird. Die einsehbaren Umkleideräumlichkeiten, nur durch feine, weiße Spitzenvorhänge vom vorbeischlendernden Publikum abgetrennt, bieten nicht nur die Möglichkeit, dem Ensemble bei den Vorbereitungen sowie beim Abschminken und Umziehen zuzusehen. Vielmehr schwingt durch sie gleichzeitig die Botschaft mit: Achtung, hier beginnt das Theater. Zumindest für die Zuseherinnen und Zuseher. Für die Schauspielerinnen und Schauspieler jedoch sind diese temporären Räume ein Stück Heimat. Das in den 70er Jahren gegründete Theaterkollektiv hat keine Berührungsängste. Es beherbergt keine Rampensäue und Bühnendiven, sondern vermittelt vom ersten Augenblick an den Eindruck, dass hier Menschen an der Arbeit sind, die einen Auftrag verspüren. Ein Auftrag am Theater endet schnell mit pädagogischen Belehrungen. Und tatsächlich kommt Mnouchkines Arbeit nicht ohne dieselben aus. Aber sie schafft es zumindest, ihren Welterklärungsmodellen pralles Bühnenleben einzuhauchen, welches den erhobenen Zeigefinger gut kaschiert.
Dabei kommen ihr in dieser Produktion mehrere Umstände zu Hilfe. Erstens ein posthum entdecktes, unvollendetes Stück von Jules Verne – in welchem er eine Entdeckungsreise zu den Magellan Straße beschreibt und zweitens die Rahmenerzählungen, dazukomponiert von Hélène Cixous, die von Vernes Basis ausgehend ein kunstvolles Ganzes zaubert, das ineinander verschlungen so viele Ebenen anbietet, dass einem bei ihrer Erkundung schier schwindelig werden kann. Mnouchkines Truppe agiert dabei im immer reizvollen Spiel im Spiel. Im Konkreten wird das Publikum Zeuge einer Stummfilmproduktion, die über die Bühne geht und in der der Versuch unternommen wird, neben der Vern´schen Entdeckungsreise ans Ende der Welt eine weitere vorzuführen: Eine Entdeckungsreise in eine Zukunft, in der es Menschen gelingt, einen Staat zu errichten, der keine Geschichte hat und keine Monumente und deswegen, ganz Terra incognita, die theoretische Möglichkeit der tatsächlich gelebten Trias der Französischen Revolution bietet: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit.
Bis dies aber soweit ist, darf man eintauchen in eine Zeit, in der bahnbrechende Entdeckungen wie die Nutzung der Elektrizität, die ersten Flugzeuge, ein langsam den Kontinent umspannendes Eisenbahnnetz, sowie die Erfindung des Kinematographen den Zauber der Epoche bestimmen. Wissend, dass sich dadurch die Welt rasant verändern wird, möchten die Menschen an all diesen Entwicklungen nicht nur teilhaben, sondern sie nun auch für ihre eigenen Zwecke nützen. Und so beschließen das Geschwisterpaar LaPallette – Jean und Gabrielle – gemeinsam mit Tommaso abseits der bereits etablierten Filmgesellschaft „Pathé“ einen, heute würde man sagen, Programmfilm zu drehen. Einen Film, in welchem das Prinzip der Gleichheit und Brüderlichkeit vorherrscht und alle Freunde und Mitarbeiter der Filmemacher zu Wort kommen dürfen. Das In-Szene-Setzen des Filmes geschieht vor dem Hintergrund von Meldungen aus der zeitgenössischen Politik. Vor allem die Bemühungen der französischen Sozialisten Jean Jaurès und Aristide Briand die sozialistische Internationale zu vereinigen und gegen den drohenden Krieg aufzutreten, verbreiten sich, genauso wie die Geschehnisse rund um die Ermordung des Österreichischen Thronfolgers, in Windeseile.
Es ist sicher kein Zufall, dass in Mnouchkines Stück ausgerechnet eine Textvorlage von Jules Verne eine große Rolle spielt. Der Schriftsteller hatte Aristide Briand als jungen Mann kennengelernt und, von ihm beeindruckt, ihm in seinem Roman „Zwei Jahre Ferien“ ein literarisches Denkmal gesetzt. Allein dieser kleine Hinweis verdeutlicht, dass der Abend, beginnt man einmal, sich über die Aufführung hinaus mit deren Hintergründen zu beschäftigen, eine wahre Flut von Informationen bereithält. Informationen, die das Zeitgeschehen erhellen und die Möglichkeit bereithalten, viel tiefer in den damaligen Zeitgeist einzutauchen als es durch die herkömmlichen, nationalen historischen Überlieferungen, die die meisten von uns zum Großteil aus unserer Schulzeit rekrutieren, möglich ist.
Aber das Théâtre du Soleil wäre nicht, was es ist, käme zu all dieser Informationsflut nicht noch eine überdimensionierte Portion sinnlicher Erfahrung dazu. Und so erscheinen alle Mitwirkenden in wunderbaren, historisch einwandfreien Kostümen. Ganz dem Beginn des Stummfilms verpflichtet, sind Kleider, Mäntel, Schuhe, Westen, Hosen, Schürzen, Kappen und Hüte hauptsächlich im Grau-Weiß-Schwarz-Spektrum angesiedelt. Einzig die großen, gemalten Tableaus, die als Kulissen dienen, verbreiten ein wenig Farbe. Windmaschinen und künstlicher Schnee, der durch riesige Siebe von der Decke rieseln darf, gehören ebenso zum Illusionsapparat wie weiße Stoffbahnen, die szenenweise den gesamten Bühnenboden bedecken, um so das Eis oder zugefrorene Seen und Flüsse in der südlichen Hemisphäre darzustellen.
Zur großen Überraschung ist es nicht ein Mann, sondern Gabrielle, welche die Kameraarbeit übernimmt. Als Emanze der ersten Stunde könnte man sie bezeichnen, aber tatsächlich ist es nicht nur ihr unbändiger Wille, bei der Entstehung des Filmes eine tragende Rolle zu spielen, sondern ihre besonders ruhige Hand, die sie für diese Arbeit überhaupt erst befähigt. Diese war gefragt, um die Kurbel der Kamera so gleichmäßig wie nur möglich zu drehen, um das Geschehen bei der Projektion des Filmes nicht durch verschiedene Tempi unglaubwürdig erscheinen zu lassen. So kurbelt sich Gabrielle den gesamten Abend unermüdlich durch das Geschehen. Umrahmt von vielerlei helfenden Händen, die Wind entstehen, Rock- und Sakkoschöße flattern, aber auch falsche Möwen durch die Szenerie fliegen lassen. Das Zusehen bei all diesem geschäftigen Treiben ist vor allem eines: lustvoll. Neben dem opulenten Augenfutter rufen die musikalischen Interventionen von Jean-Jacques Lemêtre einen herrlichen Ohrenkitzel hervor. Von Mnouchkine wieder einmal mit der Musikwahl beauftragt, lässt er – ganz im Sinne von Wagners Leitmotiv-Idee – dessen Rheingold just in jenen Momenten erklingen, in welchen die Protagonisten reihenweise an den Verlockungen des Goldrausches sterben. Kapitalismuskritik anno 1914 – und dennoch ist es schier unmöglich, Parallelen zum Hier und Jetzt außer Acht zu lassen.
Am besten funktioniert diese unterschwellige Verbindung zum Heute in jener Szene, in welcher die Überlebenden des Schiffbruches sich daran machen, ihre große Idee für den neuen Staat zu formulieren. Neben der Laizität ist die Gleichheit der Geschlechter unabdingbar, die Abschaffung der Todesstrafe genauso ein Anliegen wie die Einbeziehung der indigenen Urbevölkerung in die politischen Instanzen. Nebeneinander an der Reeling aufgereiht, entwerfen die Männer und Frauen, dem Tod entkommen, eine Zukunft, in der es sich zu leben und für die es sich auch heute wieder oder noch immer zu kämpfen lohnt. Unterlegt mit der Musik aus La Traviata von Giuseppe Verdi, schwingt viel Pathos mit, sodass eines klar ist: Hier wird von einem Traum gesprochen, von einer Welt, die wir offenbar gar nicht imstande sind, tatsächlich zu errichten. Diese Szene bietet nicht die einzige theatralische Überhöhung des Abends. Aber eingedenk der starken Gestik, die beim Stummfilm das gesprochene Wort ersetzen muss, erscheinen diese Stilmittel beinahe natürlich, zumindest aber nachvollziehbar. So prallvoll das Geschehen mit Bühenauf- und Abgängen, mit Personenwechseln und Kulissengeschiebe ist, so ist es dennoch diese eine Szene, die in der Replik gesehen als Fels in der komödiantischen Brandung fungiert und die sich ins Gedächtnis eingegraben hat.
Die Morgenröte – die ganz schamhaft als Anhängsel im Titel vorkommt, sie steht wohl für all jene Hoffnungen, welche die Menschen vor 100 Jahren genauso wie heute veranlassen immer und immer wieder von Neuem dort zu beginnen, wo ihr Bemühen schon verloren schien. Sei es im persönlichen Lebenskampf oder im kollektiven. Und dass in Frankreich zwischen 1987 und 1914 eine Zeitschrift ihren Namen trug „L´aurore“ – in welcher Emile Zola seinen bekannten Appell „Ich klage an“ im Zusammenhang mit der Affäre Dreyfus veröffentlichte und danach aus Frankreich fliehen musste – auch das erweist sich nicht als Zufall.
Le théâtre du soleil hat – das ist offenkundig – nichts an seiner Attraktivität verloren, ganz im Gegenteil: Angesichts der derzeitigen Entwicklungen in Europa, sowohl der politischen als auch der wirtschaftlichen, ist Theater wie dieses unabdingbar. Schön, dass das Wiener Publikum kurz vor Beendigung dieser Produktion noch die Gelegenheit bekam, sie ohne weite Anreise genießen zu können.