Die Zeit der Monster
Von Michaela Preiner
Als Ibsen seinen “Volksfeind“ schrieb, wusste er noch nicht, dass sein Werk rund 150 Jahre später x-fach aktueller sein würde als zu seiner Zeit.
Die Sprache, die in der Neufassung verwendet wird, ist einfach, aktuell, beinahe schon holzschnittartig. „Halt die Klappe. Auch vor der family. Kein Wort zu den Zeitungsfritzen.“ Diese Sätze stammen von Peter Stockmann, dem Bürgermeister und zugleich Bruder von Tomas, der den Umweltskandal vertuschen möchte. Die fehlende, sprachliche Eleganz ist beabsichtigt und passt zu dem, was die Regisseurin an diesem Abend vermitteln möchte. Dies hat nur entfernt etwas mit Kunst und schon gar nicht mit Poesie zu tun. Ihr geht es um die Sichtbarmachung des verheerenden ökologischen und ökonomischen Zustands unserer Welt, um das Aufzeigen der Apathie der Massen, die lieber die Augen und Ohren vor Missständen verschließen, als sich in politische Entscheidungen einzumischen.
Die Räume, in welchen der Arzt um das Wohl der Menschen in der Kuranstalt kämpft, sind von riesenhaften Trollen, oder auch zu Riesen mutierten Gartenzwergen, bevölkert. Einer wie der andere trägt eine rote Zipfelmütze, graue Hosen und Hemden und schwarze Stiefel. Die stechend blauen Augen und das blonde Haar verweisen auf ihre nordische Herkunft. Im Laufe des Abends werden sie mit unterschiedlichen Interpretationsmöglichkeiten ausgestattet. Einmal sind sie Beschützer der Familie von Dr. Stockmann, dann wieder agieren sie hinter einer weißen Papierwand als Schattenbilder in der Rolle der Vorstandsmitglieder der Kuranstalt. Zum Schluss bilden sie das schweigende Volk, das dem „Volksfeind“ beinahe zum Verhängnis wird.
Die Arztfamilie trägt, im Gegensatz zum Bürgermeister und den Vertretern des „Volksboten“ normales Schuhwerk. Letztere gleiten den ganzen Abend in Eislaufschuhen über die mit einer Spezialmatte ausgelegten Bühne. Eine leicht fassliche Metapher, die visualisiert, dass jene, die an der Macht sind nicht nur den anderen durch ihre Wendigkeit und Schnelligkeit immer voraus sind. Auch das Schaulaufen der Eitelkeiten liegt dabei auf der Hand, das geübt sein muss und von Unkundigen nicht wirklich beherrscht wird. Nicht zuletzt macht es deutlich, dass Stockmann mit seiner Familie und auch seinem Schwiegervater Außenseiter sind, die sich nicht in die unverbindliche, verlogene Gesellschaft, die sich nach Lust und Laune dreht und wendet, eingliedern können und wollen.
Nachdem sich bis zur Pause (der Abend dauert 3 Stunden) das Geschehen zum Teil sehr langatmig entwickelt und der Funke ins Publikum nicht so recht überspringen will, wechselt die Stimmung danach erheblich. Plötzlich wird aus dem Drama eine Komödie, die mit allerlei Slapstick aufwartet und einen Teil der Figuren drastisch überzeichnet. Die Eislaufkunsteinlage des Bürgermeisters, die er waghalsig und mit einigen Ausrutschern vollführt, erhält Zwischenapplaus. Friederike Bernhardt, die im zweiten Teil des Abends mit Klavier und Elektronik inmitten der Bühne mit auftoupierter Rokoko-Frisur agiert, schuf dazu eine illustrative Musik, die jedes einzelne Wort des Volksvertreters rhythmisch bestens unterfüttert.
Es sind Regieeinfälle wie diese, oder aber auch eine veritable Publikumsbeschimpfung, die Joachim Meyerhoff vom Stapel lässt, welche die Inszenierung von anderen abhebt. Als er mit einer Ansprache vor dem stummen Zwergriesenvolk, die sowohl den Intellekt als auch Emotionen anspricht, scheitert, wird er von diesem sogar von der Bühne verdrängt. Bevor er dort die Zuseherinnen und Zuseher als apathische Arschlöcher, die immer den Falschen applaudieren würden, beschimpft, zitiert er noch den marxistischen Philosophen Antonio Gramsci. „Die alte Welt liegt im Sterben. Die neue ist noch nicht geboren: Es ist die Zeit der Monster.“
In seiner hitzigen Ansprache, in der er auch darauf verweist, dass H.C. Strache, der einst im Burgtheater anlässlich der Heldenplatz-Premiere von Thomas Bernhardt seinem Unmut lautstark freien Lauf ließ, heute in der Regierung sitzt, provoziert er am Premierenabend das Publikum bis zu Gegenreaktionen. Deutlich spürbar wird dabei eine unsichtbare Linie zwischen den jungen und den älteren Zusehenden. Während die einen so etwas wie einen Hoffnungsschimmer am Horizont erkennen und sich auch verbal beteiligen und zumindest ein diffuses Gefühl bekommen, dass die Welt doch veränderbar sei, steht ein Teil der Älteren der Provokation sprachlos gegenüber.
Jette Steckel bricht auch mit der Vorbereitung auf die allerletzte Szene. Mehrfach meint man, diese zu erleben und ist verwundert, dass der Vorhang doch noch nicht fällt und es immer noch weitergeht. Bislang sah man im Theater zwar jede Menge Dystopien und auch die Kapitalismuskritik wurde und wird in vielen Facetten durchgespielt. Selten jedoch sind es Anleitungen für eine bessere Zukunft, die geboten werden. Ignaz Kirchner als Gerber und Lederfabrikant tut dies jedoch unerwartet. Der Großvater der Arztkinder erklärt sich bereit, Umweltauflagen einzuhalten und kauft in einer Baisse die Kuranstalt-Aktien für seine Familie und sich selbst auf. Selbstverständlich mit dem Hintergedanken, nach einer geglückten Sanierung mit einem halb erpressten „Sanierungskredit“ von der Bank, die Aktien in ungeahnte Höhen schnellen zu lassen.
Die Hoffnung, die Steckel damit transportiert, dass die Besitzer von akkumuliertem Kapital in naher Zukunft so handeln, wie dies der alte Gerber tut, könnte sich als reines Eiapopeia herausstellen. Die bisherige Entwicklung zeigt diesen Trend nämlich nicht auf. Aber es wäre blauäugig zu denken, die freie Marktwirtschaft würde sich in den nächsten Jahren zugunsten eines anderen Systems schlagartig global verändern. Wenn der Kapitalist seine Rendite in sozial erwünschte Projekte einsetzt, kann es den Menschen egal sein, ob er Kapitalist ist oder nicht. Dies ist die letzte Botschaft, die Dr. Stockmann seiner Familie und dem Publikum mit auf den Weg gibt.
Die beeindruckenden Videoproduktionen am Schluss, die Naturkatastrophen drastisch vor Augen führen und der Text von Walter Benjamin über den „Angelus Novus“ Paul Klees, vorgetragen vom jungen Chefredakteur des Volksboten, zeigen jedoch, dass auch Steckel von der Idee, dass der Markt sich zugunsten der Allgemeinheit entwickeln würde, nicht wirklich überzeugt ist.