Béla Bufe, Ensemblemitglied bei den Schlüterwerken, inszenierte seine erste Bühnenarbeit im Brick5. „Nowhere Man“ gibt einen Einblick in die Motivation von Spielenden und Spielen.
Schscht, still, Achtung! Das Publikum lenkt seine Aufmerksamkeit weg von der Bühnenmitte, die dieses Mal im großen Raum im Erdgeschoß angelegt ist, hin zur Treppe, die im Brick5 in den ersten Stock führt. Vier Frauen schleichen sich von dort herunter, zischen sich gegenseitig an und landen schließlich mitten unter den Zuschauerinnen und Zuschauern. Sie blicken reihum und finden nach und nach in die Geschichte. Oder sind sie dort schon von Anfang an? Béla Bufe inszenierte unter dem Label der Schlüterwerke sein erstes Bühnenstück. „Nowhere Man“ ist es betitelt, wie der bekannte Beatles-Hit aus dem Jahr 1965. Später wird er auch tatsächlich angestimmt und so lange vorgetragen, bis er sich in einer Kakophonie verläuft. Der Songtext könnte programmatisch für all jene stehen, die sich dem Vergnügen von Computerspielen hingeben. „He´s a real nowhere man sitting in his nowhereland making all his nowhereplans for nobody“.
„Ein Affentheater über die Leidenschaft für die Welten der Fantasie“ ist dieses Capriccio – wie man auf der Homepage der Schlüterwerke lesen kann – untertitelt. Und es dreht sich um jene Besessenheit, von der eine mittlerweile eine riesige Industrie, die weltweit verstreut ist, lebt. Und das prächtig. Computerspiele faszinieren Béla Bufe immens und so kam er auf die Idee, sich näher mit diesem Phänomen auseinanderzusetzen.
Wer sind die Menschen, die Computerspiele spielen? Welche Motivationen haben sie? Wie ist ein Computerspiel aufgebaut? Kann man davon süchtig werden? Diese Fragen stehen im Zentrum des Geschehens, das, man glaubt es kaum, ganz ohne Bildschirme und Computer auf der Bühne auskommt. Nicht einmal ein läppisches Video wird an eine Wand projiziert. Das hat seinen dramaturgischen Grund. Denn Bufe führt das Publikum mitten in sein fiktives Spiel. Er lässt es zwar nicht mitspielen, aber sich ganz nah am Geschehen fühlen. Doch worum geht es in dem Spiel? Alle Beteiligten leben in der „weißen Welt“ und sind auf der Suche nach dem Dämon, den sie bekämpfen sollen. Zu den vier Frauen kommt rasch auch ein Mann dazu, der sich erst einmal bewähren muss, um aufgenommen zu werden.
Wer nun der Dämon ist und gegen wen die Truppe kämpfen muss, ist lange nicht wirklich klar. Immer wieder kommt es zu Tanzeinlagen, in welchen alle, bis auf Ingala Fontagne, sich auf die Suche nach dem Bösewicht machen. Dabei schlängeln sie sich durch Labyrinthe, lauern hinter Ecken oder erwarten mit vor Angst geweiteten Augen das Böse in jeder Sekunde. Tempo, Tempo ist hier angesagt, so wie auch in jenen Spielabschnitten, in welchen die Spielenden ihre Reaktion bemühen müssen. Bei der darauffolgenden Entspannungsphase versammeln sich alle in der Mitte des Raumes und legen sich auf den Boden um zu schlafen. Eine blutrote Rauminstallation aus Fäden, die vom Boden bis unter die Decke gezogen werden, bildet den Mittelpunkt des Geschehens und markiert einen futuristischen Raum. Aber lässt auch Assoziationen zu den von den Nornen gewebten Schicksalsfäden zu. Mythologie steht bei der neuen Generation von Computerspielen hoch im Kurs. Egal, woher man sich diese borgt oder auch zurechtbiegt. Denn es geht nicht darum, historische Stoffe eins zu eins in ein Spiel zu übertragen. Vielmehr werden einzelne Versatzstücke entnommen und zu einem neuen Ganzen zusammengefügt. Fontagne untermalt die Tanzszenen stimmgewaltig mit einem französischen Chanson und feuert dabei den Trupp von außen beständig an.
Woher aber kommen jene Figuren, die hier das Spiel bestimmen? Wie erklärt sich ihr innerer, sozialer Zusammenhalt? Das will freilich erst hinterfragt werden und gelingt bis auf eine Ausnahme. Andrea Köhler verweigert sich dem allgemeinen Seelenstriptease vehement und wird dafür sogleich als Außenseiterin und als Nowhere-Frau abgestempelt. Der Text oszilliert an dieser Stelle extrem zwischen den Figuren, die sich im Spiel befinden, aber zugleich auch als Spielende gedeutet werden können. Ein Zuhause, in dem es gewalttätig zugeht, kann man zwar oft nicht physisch, aber zumindest psychisch verlassen. Ein Spiel bietet dafür die niedrigste mögliche Fluchtschwelle. Sich beweisen, in einen Wettkampf zu treten, auch diese Variante wird durchexerziert aber es wird auch klar, dass das Spiel, der Raum, der virtuelle Ort für viele eine reale Welt ist, ohne die sie gar nicht mehr leben möchten.
Das Geschehen ist, wenn man von Videogames nicht viel oder gar keine Ahnung hat, nicht leicht zu verstehen. Wüsste man nicht um das Thema, es bliebe sicherlich gänzlich rätselhaft. Bufe inszeniert in großen Teilen sehr abstrakt, setzt Szenen an Szenen, level an level würde man im Spieljargon sagen, ohne jedoch Erklärungen beizusteuern. Klar und deutlich werden jedoch die Ränkespiele erkennbar. Wie in großen Dramen wechselt im Minutentakt der Beschuldigte, von dem man meint, dass er der Dämon sei. Das Ende markiert nicht nur jenes des Spiels selbst. Sichtbar am Boden zerstört hockt Andrea Köhler und will nicht wahrhaben, dass man, ohne ihr Einverständnis, ihre weiße Welt zerstört hat. Sie stimmt den „Cold song“ von Henry Purcell mit großem Volumen an, der vielen nur in der Fassung von Klaus Nomi bekannt sein dürfte. Sie ist ein ausdrucksstarkes Sinnbild nicht nur für einen Spielverlust, sondern für den Verlust der Sinnhaftigkeit ihres Lebens, das sie sich in der virtuellen Welt neu aufgebaut hat. Purcells Arie stammt aus der Oper „King Arthur“, einer dramatischen Vorlage, die ihrerseits in vielen Abwandlungen zum Inhalt von Computerspielen wurde.
Ingala Fontagne, Andrea Köhler, Stephanie Schmiderer, Katharina Weinhuber und Florian Hackspiel agieren in grau-schwarzen Kostümen von Christina Hirt, die einzig dem Mann mit einer höheren Hierarchie versehen. Ein Theaterabend mit feinen Zwischentönen, ganz abseits von virtuellen Welten, die eigentlich sein Inhalt sind.