90 Minuten pure Emotionen

Von Michaela Preiner

Am Ende eines kleinen Dorfes (Foto: Christian Mair)
21.
August 2017
Theater
Anna Maria Krassnigg inszenierte „Am Ende eines kleinen Dorfes“ von Marie von Ebner-Eschenbach am Thalhof in Reichenau.
Ein zutiefst humanistisches Werk, das trotz seines Entstehungsdatums 1894 aus psychologischer Sicht nach wie vor aktuell ist. Sich aus dem eigenen, unverschuldeten Lebenssumpf zu erheben, noch dazu als junge Frau, dazu gehört auch 2017 noch jede Menge Mut und Charakter.

Hoch emotional, poetisch, packend, leise und kraftvoll zugleich, so präsentiert sich DAS Theaterereignis des Sommers 2017 in Niederösterreich – und darüber hinaus.

Sommertheater, wie es über Jahrzehnte in Österreich praktiziert wird, soll die Menschen erheitern, ihnen einen schönen Abend in ihrem Feriendomizil bescheren, oder sie aus der nächst größeren Stadt anlocken, um das theatrale Sommerloch in den Hauptstädten zu kompensieren. Klingende Festivalnamen, die diese Anforderungen erfüllen, blitzen an vielerlei verschiedenen Orten auf. Dabei trifft man sich zu kleineren und größeren gesellschaftlichen Ereignissen, um davor und danach ein wenig zu plaudern, um zu sehen und gesehen zu werden.

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Jens Ole Schmieder, Doina Weber,Petra Gstein „Am Ende eines kleinen Dorfes“ (Foto: Christian Mair)

Anna Maria Krassnigg geht eigene Wege

Anna Maria Krassnigg war noch nie eine Mainstream-Kulturschaffende. Bei all ihren Inszenierungen folgte sie stets nur ihrem eigenen Kulturkompass, der ihr eine ganz bestimmte Richtung vorgibt: Theater zu machen, das unterhält und eine hohe, literarische Qualität aufweist. Egal ob mit Arbeiten von Anna Poloni oder jungen Dramatikern, wie unlängst „Glaube, Liebe, Zuckerwatte“ von Mario Wurmitzer. Sie hebt aber auch immer wieder aus den Tiefen des Vergessenwordenseins versunkene Schätze aus der Literaturgeschichte, die von ihr für die Bühne wieder aufpoliert werden. So vorgezeigt mit den „Kindern von Wien“ oder der „Hochstaplernovelle“. Auch ihre neueste Regiearbeit, die derzeit noch mit wenigen Vorstellungen am Thalhof in Reichenau an der Rax gezeigt wird, greift einen Text auf, der in Vergessenheit geraten ist. Im Original heißt er „Die Totenwacht“ und stammt von der Autorin Marie von Ebner-Eschenbach. Sie wird als die bekannteste und erfolgreichste Schriftstellerin ihrer Zeit im deutschsprachigen Raum angesehen. „Krambambuli“, ihre wohl berühmteste Erzählung, in der die Treue eines Hundes kein Auge trocken lässt, brachte es zu bisher insgesamt fünf! Verfilmungen.

Nicht von ungefähr hat sich Krassnigg Ebner-Eschenbach für „ihren“ Thalhof vorgenommen, war sie doch auch eine jener literarischen Berühmtheiten, die einst im Hause der Familie Waissnix, Besitzer des Thalhofs bis vor wenigen Jahren, eine Sommerfrische verbrachte. Seit 2015 ist Krassnigg aufgrund einer Einladung des jetzigen Eigentümers, Josef Rath, in dem historisch aufgeladenen Haus Intendantin für ihre sommerlichen Festspiele, die sie unter ihrem Theaterlabel Salon5 abhält. Dabei verlässt sie sich ganz auf die Kombination von Geschichte und Gegenwart, verknüpft Vergangenes mit Heutigem und zieht jede Menge Publikum in die so vorbildlich wieder in Stand gesetzte Location. Und schert sich keinen Deut darum, was und wie Sommertheater nach landläufiger Meinung zu sein hat.

Im ehemaligen Speisesaal des einst als Kurhotel geführten Hauses, der heute wieder in seiner ursprünglichen Pracht glänzen darf, finden die Theatervorführungen am Thalhof statt. Nicht hinter zugezogenen, dicken Vorhängen, sondern mit Blick ins Tal nach Reichenau. Es ist eine Kulisse, die Krassnigg ganz bewusst auch in ihre Inszenierungen einbaut und die bislang noch nie ihre Wirkung verfehlt hat.

Der klug gewählte Titel „Am Ende eines kleinen Dorfes“, der das Publikum nicht von Haus aus verschreckt, wie es „Die Totenwacht“ vielleicht tun würde, kann zugleich als Synonym für den Thalhof selbst angesehen werden. Tatsächlich liegt er am Ende des kleinen Dorfes, genauer gesagt, über ihm. Ist er doch das letzte Haus in Reichenau, hinter dem sich nur mehr die prachtvolle Kulisse der Bergwelt erhebt.

Die Bühne besteht aus einigen, den Raum quer ausfüllenden Stufen, die mit einem weißen, Kunststoffgeflecht ausgelegt sind. Einige Fensterrahmen, mit zum Teil beinahe blinden Fensterscheiben, eine Wiege, eine kleine Kommode, ein Sessel, ein Nachttischchen, ein altes Spinnrad und jede Menge braune Wolle – das Bühnenbild von Lydia Hofmann macht klar: Hier ist nichts mehr wohnlich, hier regiert die Armut. Eine junge Frau betritt die Bühne, bewegt sich langsam, beugt sich zärtlich über eine Gestalt, von der man nur die eingefatschten, zarten Beine sieht. Die Zeit scheint keine Rolle zu spielen. Ruhig, ganz ohne Hast, so als hätte sie alle Zeit der Welt, führt Krassnig in Ebner-Eschenbachs Erzählung. Lässt Anna, deren Mutter in ihrem gemeinsamen, herunter gekommenen Haus vor wenigen Stunden verstorben ist, mit ihrer Trauer alleine. Unmerklich entwickelt sich ein dünner Soundfaden zu dem einer stetig tickenden Wanduhr, bis sich eine leise Musik dazugesellt. Ist es eine Zither, die in Moll von fern zu hören ist, oder ist es die Melodie, welche Schlag jede volle Stunde von diesem Chronometer erklingt? Zu sehen ist die Uhr nicht, ihr Geräusch vermittelt jedoch sofort das stete Fließen der Zeit, die dennoch angehalten scheint.

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„Am Ende eins kleinen Dorfes“ (Fotos: Christian Mair)
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Christian Mairs athmosphärischer Sound

Als kleiner Sidestep sei vermerkt, dass Ebner-Eschenbach, höchst ungewöhnlich für die damalige Zeit und ihren adeligen Stand, aus Interesse das Uhrmacherhandwerk erlernt hatte. Christian Mair, zuständig für den Sound, hat im Hinblick auf die Biografie der Autorin offensichtlich dem Uhrenticken eine zweite Sinnebene eingezogen. Seine Kompositionen legen sich subtilst und nur partiell, aber höchst athmospärisch unter das Geschehen und akzentuieren auch Anna und Georg, ihren reichen und verhassten Nachbarn.  Immer dann, wenn sich Anna an Momente in ihrem Leben erinnert, in denen sie, zumindest für wenige Augenblicke, von tiefer Lebensfreude ergriffen war, ist eine kleine Melodie zu hören, die von einer zarten Frauenstimme gesungen wird.  Für Georg hat Mair ein besonderes Leitmotiv  entwickelt. Einen Marschrhythmus mit einer gepfiffenen Melodie, die, je nach Szene, unbeschwert oder bedrohlich wirkt. Dieses Gemisch aus Sound und Musik, welches das Geschehen auf der Bühne so unglaublich spannend untermalt, bildet zugleich auch einen Sog in das Geschehen, dem man sich nicht entziehen kann.

Ein Ensemble wie von einem anderen Stern

Ein anderer Erfolgsfaktor der Inszenierung ist das Ensemble, das für seine Leistung eine Auszeichnung verdienen würde. Doina Weber in der Rolle der verstorbenen Mutter, Petra Gstrein, die Anna, ihre Tochter verkörpert und Jens Ole Schmieder bilden ein Triumvirat, welches das Publikum von den ersten bis zu den letzten Minuten fesselt. Selbstverständlich ist es auch die Geschichte selbst, in der in ca. 90 Minuten das Leben von Anna aufgerollt wird, die einem zeitweise den Atem verschlägt. Sie handelt von einem Leben in Armut und mit vielen Entbehrungen. Einem Leben, das einem trunksüchtigen, brutalen Vater ausgeliefert ist. Alles, was Anna und ihre Mutter mühsam erwirtschaften, versäuft er im Gasthaus. Die junge Frau, die sich angesichts all ihrer erlittenen Qualen zeitweise vehement gegen die frömmelnde Gottesordnung auflehnt, besitzt am Ende dennoch so viel Kraft und Stolz, dass es ihr schließlich gelingt, aus ihrem sozial vorgegebenen Teufelskreis auszubrechen.

Petra Gstrein spielt in den intensiven Momenten, in welchen sie all das erlittene Ungemach noch einmal Revue passieren lässt, als stünde sie nicht auf einer Bühne am Thalhof, als gäbe es kein Publikum, sondern nur sie, ihre tote Mutter und ihren verhassten Nachbarn. Sie vermittelt dabei das Gefühl, als hätte sie all das, was ihr zugestoßen ist, tatsächlich erlitten. Ihre ungewöhnlich abgeklärte Trauer, ihr Hass, ihre Verzweiflung, ihre spöttische Ablehnung, ihre Angst, ihre Überlegenheit und Charakterstärke – nichts davon wirkt auch nur in einer einzigen Sekunde aufgesetzt. Sie verkörpert die junge Frau so intensiv, so glaubwürdig, dass man ihre Leiden zu seinen eigenen macht, dass man mit ihr emotional in Abgründe fällt, aus welchen man glaubt, kaum wieder herauszukommen.

Die Figur der Mutter ist bei Krassnigg viel mehr als eine kleine, zarte Frau, die auf Schragen aufgebahrt in ihrer Hütte liegt. Sie agiert, mit blauen Leichenflecken im Gesicht, einbandagiertem Kopf, Händen und Füßen als beschützender Geist ihrer Tochter, aber auch als Erzählerin. (Kostüm Antoaneta Stereva) Dabei übernimmt sie jenen Text, mit welchem die Autorin entweder Orte, Umstände oder auch Vorgänge beschreibt. Diese Idee ist umso großartiger, als es der Regisseurin damit gelingt, die Erzählung ganz ohne Striche aufzuführen, sie im Original, das ja nicht für die Bühne geschrieben war, für eine ebensolche zu adaptieren.

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„Am Ende eins kleinen Dorfes“ (Fotos: Christian Mair)
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Eine untote Mutter

Das imaginäre Zwiegespräch, das Mutter und Tochter dadurch halten können, so manche Verdoppelungen von Worten oder kurzen Sätzen, die Einflussnahme, die die Mutter zum Teil auch nach ihrem Tod an ihrer Tochter noch ausüben möchte, ihre Reaktion auf die Vergewaltigung von Anna, die sie als Schande ansah, aber auch ein Schutz, den sie ihr ein letztes Mal noch gewähren kann – all das steht nicht explizit bei Ebner-Eschenbach. Aber all das schwingt bei einer empathischen Lektüre, wie sie Anna Maria Krassnig offenkundig hatte, mit. Mit diesem Regiestreich kann jedoch auch die Psyche von Annas Mutter noch zusätzlich beleuchtet werden. Zugleich aber auch vieles, was sich in ihr an gesellschaftlichen Normen, Verhaltensweisen und Restriktionen beispielhaft zeigte: Das Ausgeliefertsein an ihren trunksüchtigen Mann, die Angst vor Schande, ein unerschütterlicher Katholizismus und damit einhergehend die Anerkennung von gottgewollten Klassenunterschieden. All das bringt Doina Weber in ihrem großartigen Spiel über die Bühne; angesiedelt zwischen geisthaftem Wesen, kämpferischer und beschützender Mutter und einer Persönlichkeit, die sich mit ihrem Schicksal gottergeben abgefunden hat. Trotz aller Tragik, die sich im Laufe der Erzählung den Zusehenden erschließt, schafft sie es auch, mit gewitzten, kleinen Gesten und Blicken immer wieder einen Funken Humor in das Stück einzubringen.

Ein Ekelpaket von Nachbar

Mit Jens Ole Schmieder kommt jene männliche Energie dazu, die bei Ebener-Eschenbach kraftstrotzend und jämmerlich-erbärmlich zugleich agiert. Er ist angetreten, seine Nachbarin um ihre Hand zu bitten, ohne auch nur im Geringsten an ihrer Zustimmung zu zweifeln. Und das, obwohl er gegen sie eine offene Kinderfeindschaft auslebte, sie später vergewaltigte und schließlich mit ihrem Kind sitzen ließ. Wie er in Momenten der aufbrausenden Rage bebt, wie er vor Scham am ganzen Körper zittert, in einer Szene sogar Annas Vater spielt, dass man Angst um das Mädchen bekommt, ist – wären es Filmszenen – oskarreif. Ihm gelingt es, mit der starken Petra Gstrein mitzuhalten, was kein leichtes Unterfangen ist. Und er verleiht diesem über weite Strecken so unsympathischen und überheblichen Mann letztlich noch einen nachvollziehbaren, menschlichen Zug.

Ebner-Eschenbach war dafür bekannt, auch den miesesten Übeltäter durch den Blick in seine Seele als einen Menschen zu zeigen, der auch von Sorgen und Nöten getrieben wird. Dies schauspielerisch umzusetzen, ist keine Kleinigkeit. Schmieder meistert diese Herausforderung aber mit Bravour.

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„Am Ende eins kleinen Dorfes“ (Fotos: Christian Mair)

Theater mit den Mitteln des Theaters

„Am Ende eines kleinen Dorfes“ ist ein Paradebeispiel dafür, dass es auch heute noch möglich ist, Theater zu machen, das ganz allein mit jenen Mitteln auskommt, die diesem Kunstgenre schon immer inhärent sind. Einer Bühne, einer packenden, spannenden Geschichte, einem exzellenten Ensemble und einer ebensolchen Regie. Hier braucht es keine postdramatischen Anflüge, keine erzwungenen Zeitbezüge, keine Textkürzungen und auch kein Regietheater. Und dennoch ist Krassniggs Inszenierung in keiner Sekunde gestrig, abgestanden oder ein alter Hut. Die Ebner-Eschenbach-Inszenierung zeugt von großem Einfühlungsvermögen, zugleich auch von Wissen und Können, die Charaktere eines Stückes nach und nach zu erklären und den Ablauf so aufzubauen, dass sich immer wieder große Spannungsbögen ablösen, bis die Klimax am Ende einer Erlösung gleicht.

Unsere absolute Sommertheater-Empfehlung! Nur mehr bis 3. September!!!

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