Anhand von zwei Inszenierungen, die beim „festival premières“ in Straßburg präsentiert wurden, lässt sich gut aufzeigen, wie ein historischer Text erfolgreich zeitgerecht auf die Bühne gebracht werden kann – und wie nicht.
Um das misslungene Experiment voranzustellen: Mit dem Stück „Tropfen im Ozean“, im Deutschen häufiger unter dem Titel „Tropfen auf heiße Steine“ zitiert, einem Jugendwerk von Rainer Werner Fassbinder, in Szene gesetzt von Matthieu Cruciani, wurde eine Arbeit präsentiert, die ein immer wiederkehrendes Thema des Autors behandelt: Die bisexuelle Liebe und ihre Verstrickungen. Fassbinder, zu seiner Zeit eine Kultfigur, brachte dieses 1964 geschriebene Stück selbst nie zur Aufführung. Cruciani jedoch wagte sich an das Thema, das vor 40 Jahren noch brisant war, heute jedoch jegliche Schärfe verloren hat und, was schlimmer wiegt, er versetzte es sowohl optisch als auch interpretatorisch in die Zeit seiner Entstehung. Das Bühnenbild präsentierte sich ganz im Outfit der frühen 70er Jahre – ein Appartement mit Glas- und Stahlrohrmöbeln und die beiden Hauptakteure hielten sich brav an den vorgeschriebenen Text. Eine unendliche Abfolge von Dialogen in unterschiedlichen Gemütszuständen war die Folge. Die Regie verlangte – bis auf die Hinzufügung einer großen Leinwand, auf der während der Umkleidepausen groteske Werbeeinschaltungen mit Menschen, ebenfalls gekleidet im70er Jahre-Look, zu sehen waren – keinerlei aktuelle Hinweise und ließ sogar außer Acht, dass das bunte Bäumchen-wechsle-dich-Spiel von Fassbinder, in dem schlussendlich jeder mit jedem in die Kiste hüpfen hätte wollen, ehemals einen veritablen Skandal produziert hätte. Vielmehr gestaltete sich das Geschehen, trotz einiger Schreiexzesse so brav, dass man dabei leicht ins Traumland nicken konnte, wie der junge Herr in der Reihe vor mir. Schier endlos stritten sich Yann Métivier und Julien Geskoff, deren schauspielerische Leistung jene der Regie weit übertraf. Doch neben einer gehörigen Portion mehr an eigenem Statement, die Cruciani aufbringen hätte können, wären es alleine schon die Beachtung einiger handwerklicher Theaterregeln gewesen, die dazu beitragen hätten können, das Publikum stärker zu fesseln. Dass bei ihm Leopold mit dem Rücken halb vom Zuschauerraum abgewandt sitzen musste und seine Sprache dadurch hauptsächlich im Bühnenrund und nicht beim Publikum ankam, war leicht ärgerlich. Und auch das Außerachtlassen von halbwegs nachvollziehbaren Handlungen wirkte eher störend. Die bei ihm völlig unmotivierte Hinwendung der ehemaligen Geliebten von Franz zu Leopold, und die extrem einfache Charakterisierung der ehemaligen Freundin von Leopold als dümmliche Marionette, vermittelten weder deren Charaktere, noch deren wahre Ambitionen und seelische Antriebsmomente. Einzig die impulsive Liebesgabe von Franz an Leopold kam verständlich über den Bühnengraben und somit auch Franz Selbstmord, als ihn der Geliebte wegstößt und mit seiner ehemaligen Freundin betrügt. Fassbinders Stück gibt mehr her als ein seichtes Kammerspiel mit Licht an – Licht aus- Momenten und voraussehbaren Auf- und Abgängen. Es enthält packende psychologische Momente – Cruciani dürfte diese jedoch – wie der Herr vor mir in der Reihe – verschlafen haben.
Dass es auch anders geht, erlebte man bei der Neuadaption von den „Schwärmern“ von Robert Musil. Der in Belgrad ausgebildete Regisseur Milos Lolic trat mit diesem an Geschehen so armen, aber an psychologischer Dramatik so reichem Stück an und reüssierte dank eines waghalsigen Unterfangens: Er ließ im ersten und letzten Teil alle Schauspielerinnen und Schauspieler mit einem Mikrofon auftreten und fast immer direkt ins Publikum sprechen. Die Kommunikation, die so „wie auf Schienen“ lief, konnte sich, auf diese Weise auch bildlich dargestellt, schwer in die Gefühle der Akteure einschleichen. Zu sehr waren sie mit sich und ihrem Seeleninnenleben beschäftigt, zu sehr war für sie die Reflexion wichtiger als jegliche Aktion. Erst, als sich dramatische Szenen abspielen und Joseph Anselm brutal niederschlägt um sich daran zu rächen, dass er ihm seine Frau abspenstig machen wollte, fallen die Mikrofone. Und erst dann bildete sich jene zusammengeschweißte Gruppe, die sich zuvor nicht als Gruppe, sondern als fluktuierende Einzelwesen verstanden, immer bedacht, die eigene Position genau seziert und unter Kontrolle zu haben. Ein Klavierspieler begleitet das Stück – mit dem Rücken zum Publikum gewandt. Seine Musik gibt auf gelungene Art und Weise die einzelnen Stimmungen wieder, die in den Dialogen von allen Beteiligten aufgebaut wird. Nur während der Gewaltszene verstummt sie. Wenn Fäuste sprechen, hat die Musik Sendepause. Das Bühnenbild der „Klausur“ in der sich die angeblichen Freunde für ein Wochenende über befinden und in der ihre Beziehungskarten neu gemischt werden, zeigt einen kühlen, vertäfelten Innenraum, wie er in den 70ern und 80er modern war. Die Kostüme und die Frisuren der Damen weisen hingegen auf die Entstehungszeit des Stückes. Mit dem Einsatz der neuen Mikrophontechnik wiederum, gelingt Lolic der Anschluss an die Jetzt-Zeit. Bleibt noch zu erwähnen, dass gerade die kühle und wenig interaktive Spielweise von allen Schauspielerinnen und Schauspielern volle Konzentration und Präsenz verlangte. Anforderungen, denen die Truppe wunderbar Stand hielt. Lolic` Interpretation von „Sanjari“, so der serbische Titel, funktioniert aufgrund seiner persönlichen Textanalyse, also seiner intimen Auseinandersetzung mit dem Stück und deren kongruente Umsetzung. Auf diese Weise fügt er Musils Werk neue Dimensionen hinzu – ein eindeutiges Qualitätsmerkmal.
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