Die radikal reduzierte Identität oder: Rettungsanker Familie

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Ciseaux Papier Caillou von Daniel Keene (c) Elisabeth Carecchio

Was macht ein Mann, der seiner beruflichen Identität beraubt wird? Wie geht seine Familie mit dem Verlust der Arbeit um? Kann man in einer scheinbar ausweglosen Situation dennoch Zukunftsperspektiven entwickeln?

Im Stück „Ciseaux, papier, caillou“ oder zu Deutsch „Schere, Papier, Stein“ zeigt der australische Autor Daniel Keene (geb. 1955) eine scharfe Analyse von scheinbarer Identität, Identitätsverlust und zaghafter Wiederfindung der eigenen Persönlichkeit eines Mannes, der seine Arbeit verloren hat. Das TNS in Straßburg brachte im Jänner unter der Regie von Marie-Christine Soma und Daniel Jeanneteau Keenes Stück auf die Bühne. In einer Inszenierung in der vermeintlich Unspektakuläres ganz schön spektakulär war, wenn man sich offen darauf einließ. Keenes Hauptdarsteller, ein ehemaliger Steinmetz, befindet sich in einer Situation, die Abermillionen von Menschen kennen. Er wurde von seiner Firma entlassen und steht vor dem Trümmerhaufen seines Arbeitslebens. Eines Lebens, das für ihn mehr war als nur Beschäftigung. Seine Arbeit bedeutete ihm Identifikation, Aufgabe und die Aussicht zu sozialem Aufstieg. Alles wollte und hat er in seinen Augen richtig gemacht und dennoch fand sich niemand, der dies würdigte.

Bridget, die 15jährige Tochter des Arbeitslosen, ist nicht nur drauf und dran erwachsen zu werden und sich von ihren Eltern abzunabeln, sondern auch den Respekt vor ihrem Vater zu verlieren. Seine Anwesenheit wird von ihr und ihrer Mutter als bedrückend empfunden. Beide sind sich bewusst, dass Vorwürfe fehl am Platze sind, aber Zukunftsaussichten gibt es auch nicht. Um das Gefühl zu haben, nicht ganz von der Umwelt abgeschnitten zu sein, macht sich der Mann jeden Tag auf den Weg und besucht das Fabriksgelände, auf dem er einst gearbeitet hat. Dort genießt er zumindest von der Ferne „die Schönheit des Arbeitslärms“ und beobachtet einen einsamen Wolf, der dort ab und zu herumstreunt. Er selbst kümmert sich zuhause um seinen alten Hund, gegen den sich – ganz im Freud´schen Sinn der Übertragung – der Hass der Tochter zu richten beginnt. In einer wüsten Verbalattacke macht diese ihrer Mutter Vorhaltungen, dass es grausam sei den Hund nicht einschläfern zu lassen, so alt wie er schon sei. Ob Wölfe oder alte Hunde – Keenes Stück bietet weitaus mehr als nur diese augenfälligen Metaphern der Einsamkeit und Nutzlosigkeit.

Trotz oder besser gesagt wegen seines minimalistischen Texteinsatzes gelingt es dem Autor die Fragen rund um das Zusammenleben der Familie und deren Beziehung zueinander, auf den Punkt zu bringen. So fasst sich in einer ruhigen Minute der Vater ein Herz, um seiner Tochter zu erklären, dass es nicht schlimm sei, wenn sie ihn nicht mehr so lieben würde wie vor einigen Jahren, als sie noch ein kleines Mädchen war. Camille Pélicier-Brouet als aufmüpfiger Teenager fühlt sich in dieser Konversation sichtlich unwohl. Sie ist noch zu jung, um zu verstehen, dass er mit dieser Aussage versucht, die emotionalen Veränderungen dem Erwachsenwerden und nicht seinem veränderten Status zuzuschieben und verlässt fluchtartig das Zimmer. Ihre pubertäre Rebellion und die auf weite Strecken zur Schau getragene Unbekümmertheit wird schauspielerisch gekonnt inszeniert. Das Nesteln ihrer Finger an ihrem kurzen Schottenrock, während sie ein Referat über die französische Revolution hält, ließ wahrscheinlich bei vielen Menschen im Publikum das Gefühl der weit verbreitete Prüfungsangst wieder aufleben. Eine veritable schauspielere Leistung der noch so jungen Darstellerin. Carlo Brandt als gefühlvoller Antiheld, der seine Stimme nie gegen andere erhebt, hat eine Frau an seiner Seite, die nicht drängt, aber ihm auch keine Hilfe anbieten kann. Vielmehr ist er anfänglich selbst nicht in der Lage ihr Hilfe anzubieten, obwohl sie ihn direkt darum bittet. Zu offen sind noch seine seelischen Wunden, als dass er die anderer heilen könnte. Marie-Paule Laval in der Rolle der arbeitenden Ehefrau, die ihr Schicksal so gut es geht, erträgt, bleibt über weite Strecken in einem emotionalen Schwebezustand. Ihre Neutralität wird sich später noch als Schatz erweisen, der zwar für ihre Familie sichtbar, aber dennoch als Rettungsanker nicht fühlbar ist. So sehr Worte zerstören können, sosehr kann Nicht-Gesprochenes dies auch. Gerade die Unbeholfenheit im zwischenmenschlichen Gespräch, gerade das Unausgesprochene bereitet ihr nicht nur mit ihrem Mann, sondern auch mit Bridget Schwierigkeiten. Als ein ehemaliger, ebenfalls arbeitsloser Kollege ihres Mannes sich ihr zu nähern versucht, bleibt sie verschlossen und abweisend und zeigt genau in diesem Moment absolute Größe. Mit der Person des ebenfalls arbeitslosen Kollegen, von Philippe Smith mit gekonnter Lässigkeit gespielt, setzt der Dramatiker einen charakterlichen Kontrapunkt zum Steinmetz. Im Gegensatz zu diesem versteht er seine Arbeitslosigkeit nicht als zerstörendes Lebensmoment, nicht als Identitätsberaubung. Aus seinen Aussagen wird klar, dass für ihn die Arbeit nie Erfüllung bedeutete, sondern eine eher lästige Pflicht, derer er nun entbunden ist. Gewiss, er muss sich nun beim Sozialamt anstellen, um für seinen kleinen Sohn Geld für neue Schuhe zu beantragen. Aber ihm reicht die Gewissheit der sozialen Versorgung – und alles andere – die ständige Veränderung, die das Leben mit sich bringt – nimmt er gelassen hin. Wunderbar deutlich wird die Verschiedenheit Männer in der Szene in einer Bar, in welcher sich der Sorglose nur betrinkt, während sich der sich stets Hinterfragende gedanklich ganz in der Vergangenheit bei der Bearbeitung von steinernen Marienfiguren befindet. Mit seinen Händen formt er die weichen Linien seiner ehemaligen Arbeitsstücke nach, während aus dem Lautsprecher laszives Discomusikgestöhne erklingt.

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Ciseaux Papier Caillou im TNS (c) Elisabeth Carecchio

Als er nicht mehr erträgt, was zu ertragen ihm das Leben beschert hat, nämlich seine eigene Existenz, entschließt er sich in der Nähe seiner ehemaligen Fabrik ein Loch zu graben und sich dort hineinzulegen. Schwarz fliegt die Erde auf der Bühne bei seinen letzten Anstrengungen der Umgrabearbeiten, parallel dazu findet das Gespräch seiner Frau mit seinem Kollegen statt, in welchem dessen Annäherungsversuche zurückgewiesen werden. Krasser kann der Gegensatz der Befindlichkeiten der beiden Männer nicht auf die Bühne gebracht werden. Aber zeitgleich mit der Standhaftigkeit und Treue seiner Frau kehren bei ihrem Ehemann die Lebensgeister wieder zurück. Es ist kein großer Showdown, der zum Ende führt. Kein richtiges Erweckungserlebnis oder ein abruptes Erkennen, worin die Basis und Stärke des weiteren Lebens, des Meisterns des weiteren Lebens liegt. Es ist die einfache Feststellung der Stabilität ihrer kleinen Lebensgemeinschaft und seine eigene Bitte um Hilfe, die er schließlich an seine Frau richtet und die von ihr aufgenommen wird. „Ihr seid der Schatz meines Herzens, ihr seid alles, was ich habe“, deklamiert der wieder zu sich Gekommene mehrfach hintereinander. Es ist das Erkennen dieser Familienbande, dieser einfachen, unspektakulären Liebe, dieses Zusammenhaltes und der damit verbundenen gegenseitigen Verantwortung, die in all diesen desaströsen Zuständen Bestand hat und die ihn aufstehen lässt und weiter machen. Weitermachen von einem Nullpunkt an, der aber zumindest den Vorteil hat, das dunkelste Dunkel, den Negativteil der Sinuskurve schon überschritten zu haben.

Das einfache aber dennoch wirkungsvolle Bühnenbild, das sich auf die horizontale Teilung der Bühne durch einen weißen Vorhang beschränkt, wird durch eine ausgezeichnete Lichtregie lebendig. Alle Elemente stammen von Soma und Jeanneteau, die damit die komplette Inszenierung wie aus einem Guss gestalteten. Vor dem Vorhang ist ein Tisch mit Sesseln aufgebaut, dahinter wird wechselweise verschwommen die Intimität des Schlafzimmers und einer Kirche angedeutet. Jenem Ort, an dem der Sinnsucher vergeblich um Hilfe bittet. Dieses Spiel mit Innen und Außen, mit dem was sichtbar und jenem was unsichtbar ist, wird auf diese Weise abseits der kargen Worte eindringlich veranschaulicht.

Keene erzählt hier eine Geschichte, die, trotz ihrer Tristesse fast zu schön ist, um wahr zu sein. Gerade ein Arbeits- und der damit zusammenhängende Prestigeverlust sowie der damit oftmals finanzielle Abstieg ist es, der viele Ehen scheitern lässt. Keene jedoch scheint an das Gute im Menschen zu glauben. Er lässt, was gemeinhin als schwarzes Existenzdrama bezeichnet wird, mit seinem subtilen und versöhnlichen Schluss hinter sich. Wie schon in einer Tanzaufführung von Virginia Heinen einige Tage zuvor im Pôle-Sud gezeigt, lässt auch er die Zukunft der Familie nicht ins Schwarz der perspektivenlosen Hoffnungslosigkeit gleiten. Der Existenzialismus ist bei ihm, wie auch bei der deutschen Choreografin zwar nicht überwunden, aber die Konsequenzen daraus scheinen sich verändert zu haben. Ein liebevoller Umgang mit den Menschen, die uns umgeben, macht jenen Lichtschimmer aus, der in den letzten Jahrzehnten in den zeitgenössischen Dramen nicht mehr oder selten vorkam. Ein liebevoller Umgang, der zumindest dazu führt, lebenswert und in Würde weiterleben zu können. Daniel Keenes Stück kann durchaus als Lehrstück aufgefasst werden, jedoch nicht im Sinne Berthold Brechts, der darin eine charakterliche Weiterentwicklung der Schauspieler als oberstes Ziel sah, sondern im Sinne eines epischen Theaters, das versucht, moralische Werte zu vermitteln. In unserer heutigen Zeit, in welcher die Weitergabe persönlicher Wertemaßstäbe auf den Bühnen tunlichst vermieden wird, ein mutiges aber dennoch legitimes Unterfangen.

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