Das Unsagbare gegen das Vergessen sichtbar machen.

Das Unsagbare gegen das Vergessen sichtbar machen.

von | 21. September 2020 | Oper

Michaela Preiner

„Die Passagierin“ (Foto: © Werner Kmetitsch)

21.

September 2020

„Die Passagierin“ erlebte an der Oper Graz eine fulminante Premiere. Zum Auftakt in eine ungewöhnliche Saison.
Den Auftakt der Opernsaison in diesem Ausnahmejahr gestaltete die Oper in Graz mit der schon für den Frühling angesetzten Produktion „Die Passagierin“. Dieses Werk vollendete der Komponist Mieczyslaw Weinberg 1968.

Aber erst 2006, 10 Jahre nach seinem Tod, kam es in Moskau konzertant zur Aufführung, szenisch erst 2010 bei den Bregenzer Festspielen. Das Libretto von Alexander Medwedew wurde nach einem Roman der Polin Zofia Posmysz verfasst.

Sie war selbst ab 1942 zwei Jahre in Auschwitz-Birkenau inhaftiert und danach bis Kriegsende im KZ in Ravensbrück. Nach der Befreiung hatte es Posmysz auf Anraten ihrer Mutter vermieden, über das erlebte Grauen zu erzählen. Diese hatte gemeint, dass Verdrängen die beste Möglichkeit sei, damit leben zu können. In den 50-er Jahren hatte sie in Paris jedoch ein Schlüsselerlebnis. Da vernahm sie auf der Straße die Stimme einer Frau, von der sie glaubte, dass es ihre ehemalige, deutsche KZ-Wärterin war. Mit einem Mal kam mit Vehemenz all das wieder hoch, das verdrängt werden hätte sollen und Posmysz wusste, dass sie das Erlebte festhalten musste und schrieb die Novelle „Die Passagierin“.

 

In dem Text, der 10 Jahre später auch auf Deutsch erschienen war, und der zuvor als Hörspiel in Polen für Furore gesorgt hatte, hielt sie ihre Erinnerungen fest, vor allem um jener zu gedenken, welche die Konzentrationslager nicht überlebt hatten. Die Autorin, die heute 97 Jahre alt ist, wurde vom Grazer Dramaturgieteam vor wenigen Monaten in ihrer Wohnung in Warschau besucht. Dabei wurde Video- und Fotomaterial aufgenommen, das zum Teil auch in die Inszenierung einfloss. 

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Die Passagierin
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„Die Passagierin“ (Foto: © Werner Kmetitsch)
Die Geschichte handelt von der Überfahrt eines Passagierschiffes von Deutschland nach Brasilien. Auf ihm befindet sich der deutsche Diplomat Walter Kretschmar mit seiner Frau, der seiner neuen Stelle entgegenreist. Er ahnt nicht, dass seine Lisa, geborene Franz, eine ehemalige KZ-Aufseherin war. Als diese jedoch Marta, eine ehemalige Inhaftierte am Schiff zu erkennen glaubt, bricht in ihr alles auf, was sie bis dahin zu verheimlichen versuchte. Die Beichte, die sie ihrem Mann gesteht, ist der Hauptplot, der auf das Geschehen im Konzentrationslager zurückgreift. Die Szenen wechseln zwischen Ereignissen in Auschwitz und dem Aufenthalt auf dem Schiff und enden schließlich in einem Epilog von Marta.

Die dramaturgische Vorarbeit mit der Autorin selbst kam sicherlich der Regie von Nadja Loschky sehr zugute, die mit mehreren ungewöhnlichen Kunstgriffen aufwartet. Durch einen zeigt sie die Hauptprotagonistin nicht nur als erschütterte Ehefrau, die sich an ihre Zeit als Aufseherin zurückerinnert, sondern auch als Alte, die das Geschehen auf der Bühne permanent begleitet. Das ist sinnvoll und transportiert das Erzählte nicht nur in die erinnerte Vergangenheit, sondern auch in eine Zukunft, die im Libretto nicht mehr vorkommt. Lisa wird von den Geschehnissen, in die sie verwickelt war und von den Gräueltaten, die sie selbst zu verantworten hat, ihr Leben lang nicht mehr losgelassen.

Aber auch was die individuellen psychischen Verfasstheiten der anderen Figuren betrifft, hat Loschky sehr gut hingesehen. Es sind kleine Gesten wie das immer wieder urplötzlich erschrockene Kopfheben der alten Lisa, die deutlich machen, wie sehr sie die Vergangenheit peinigend verfolgt. Es ist das Wanken und die schwere Zunge ihres Mannes an Bord des Schiffes, nachdem er von der Betätigung seiner Frau in Auschwitz erfuhr. Er muss zum Alkohol greifen, um mit dieser Erkenntnis irgendwie umgehen zu können. Es sind die unbeholfenen Fluchtversuche auf eine Leiter einer jungen Frau im Lager, die diesen Zufluchtsort, der keiner ist, aus Panik in Sekundenschnelle mit wenigen Schritten erklimmt. Diese sichtbaren Emotionen machen nachvollziehbar, mit welchen Angstzuständen und mit welcher Zerrissenheit die Beteiligten zu kämpfen haben und stellen gleichzeitig subtil auch immer wieder die Frage, wie man denn selbst agiert und reagiert hätte.

Wissend, dass das Geschehene nie angemessen wiedergegeben werden kann, findet die Oper dennoch sowohl passende szenische als auch musikalische Mittel. Die Regie scheut sich nicht, drastische Bilder zu zeigen, die einem den Hals zuschnüren. Mit Gewaltverherrlichung hat dies jedoch nichts zu tun. Ganz im Gegenteil. Die Idee, die SS-Aufseher mit heruntergelassenen Hosen (Kostüme Irina Spreckelmeyer) auf nebeneinanderstehenden Toiletten zu zeigen, erinnert an Hannah Arendts 5-teiligen Essay, den sie nach dem Gerichtsprozess gegen den Naziverbrecher Adolf Eichmann verfasste. Sie wohnte dem Prozess in Jerusalem als Beobachterin bei und sprach danach bewusst von der „Banalität des Bösen“, was ihr große Kritik einbrachte. Mit diesem brachialen Bild, der Notdurft verrichtenden Wachmannschaft auf der Bühne, wird diese Banalität jedoch mehr als deutlich. In einer der letzten Szenen, in welcher Tadeusz, der Verlobte von Marta, ermordet wird aber auch, dass Banalität, mit legitimierter Macht ausgestattet, menschen-verachtend und todbringend ist.

Besonders berührend und gelungen ist der Regieeinfall, die Fotos von Zofia Posmysz, auf der sie als alte Dame, sitzend in Seitenansicht zu sehen ist, in die letzten Szene einzublenden. Ihr Schreiben, angesiedelt im Bereich der Kunst, trägt dazu bei, die Erinnerung wach zu halten und rechtfertigt die künstlerische Aufarbeitung von Ereignissen, deren Darstellung angesichts der Ermordung von 6 Millionen Menschen doch niemals auch nur annähernd adäquat sein kann. Theodor W. Adorno schrieb 1949: „Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben ist barbarisch“ – eine Aussage, die er jedoch 1966 folgend revidierte: „Das perennierende Leiden hat soviel Recht auf Ausdruck wie der Gemarterte zu brüllen; darum mag falsch gewesen sein, nach Auschwitz ließe sich kein Gedicht mehr schreiben.“ Wie gut, dass Posmysz erkannt hat, dass das Erinnern auch über einen künstlerischen Ausdruck möglich, ja notwendig ist.

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„Die Passagierin“ (Foto: © Werner Kmetitsch)
Das Bühnenbild ( Étienne Pluss) zeigt nicht – wie man vermuten möchte, ein Schiff, sondern einen grauen Raum mit unendlich vielen Türen und Schubladen. Nicht heimelig, sondern kalt und unbewohnbar. Das Grauen, das sich hinter all den geschlossenen Türen verbirgt, wird nur nach und nach sichtbar.

Am Pult agierte bei der Premiere Roland Kluttig, der neue Chefdirigent der Oper Graz. Unaufgeregt leitete er das große Orchester mit Präzision durch Weinbergs klanglichen Kosmos. In diesem kommen jede Menge rhythmische Swing-Passagen vor, die den atonalen Gesang in die 50-er Jahre verorten. Emotional wird Weinbergs Musik jedoch in jenen Szenen, in welchen die infhaftierten Frauen in volksliedhaften Melodien über ihr Schicksal und ihre ehemalige Heimat singen. Nicht zuletzt sind es so bekannte Melodien wie „Oh du lieber Augustin“, der von den Wärtern in rauschhafter Feierlaune intoniert wird und Bachs Chaconne – die Tadeusz anstelle eines georderten Walzers auf einer Geige intoniert – die Referenzen an die deutsche Musikkultur liefern. Eine Kultur, die gerade in den Konzentrationslagern eine Perversion erfuhr, die zuvor nicht denkbar gewesen war.

Extra hervorzuheben ist die stimmliche Spitzenbesetzung. Dshamilja Kaiser lässt kraftvoll eine Lisa hörbar werden, die zwischen Verzweiflung und Verteidigung ihre Tuns schwankt. Ihr zur Seite Will Hartmann als Walter, der auf seine eigene Karriere mehr als auf den Gefühlszustand seiner Frau bedacht ist. Nadja Stefanoff verkörpert eine kluge, unbeugbare, jedoch hilfsbereite Marta, deren lyrische Stimme extrem einnehmend wirkt. Ihr Verlobter Tadeusz findet mit Markus Butter eine perfekte Besetzung. Sämtliche weitere Solistinnen ergänzen stimmlich ebenso fulminant das Ensemble – jede einzelne mit bestechender Klangfülle und Präzision, Wärme, Kraft und geforderter Zerbrechlichkeit zugleich. Interessant, dass Weinberg alle Frauen in derselben Stimmlage angelegt hat – vielleicht ein subtiler Hinweis auf ihre Gleichschaltung in den Lagern. (Tetiana Miyus, Antonia Cosmina Stancu, Anna Brull, Mareike Jankowski, Sieglinde Feldhofer, Joanna Motulewicz, Ju Suk)

Die Oper wird mit einem breit angelegten Rahmenprogramm begleitet – am Premierentag wurden vor dem Haus im Gedenken an die Sängerin Ella Flesch, den Dirigenten und Chordirektor Fritz Jahoda, sowie die Schauspielerin Hertha Heger „Stolpersteine“ verlegt. Weiters stehen im Angebot: Gesprächsrunden nach der Aufführung, eine Filmvorführung im Filmzentrum im Rechbauerkino, ein Kammerkonzert, ein OpernCampus, der einen Nachmittag lang dauert, ein Stadtspaziergang mit dem Historiker Heimo Halbrainer an Orte der Opfer, Täter und des Widerstandes, sowie das Stummfilmkonzert „Die Stadt ohne Juden“ mit Musik von Olga Neuwirth

Nähere Infos unter: Oper Graz

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