Das Le-Maillon in Straßburg konnte im Rahmen des Festivals „Giboulées de la marionnette“ mit einer Inszenierung aufwarten, die in jeglicher Hinsicht aus dem Rahmen fiel. „Histoire de crevettes“ oder „Die Geschichte der Krabben“ ist eine Parabel auf das menschliche Leben unserer Zeit, vorgeführt mit – kleinen Crevetten, die zum Teil mit Kostümen oder Accessoires versehen, bewegt werden. Um das Spiel mit dem kleinen Meeresgetier – es handelt sich tatsächlich um ca. 100 Crevetten, die für jede Vorstellung wieder frisch vom Fischmarkt geholt werden – dem Publikum auch sichtbar zu machen, werden die Aktionen der „Crevettenspieler“ live mitgefilmt, und auf eine große Leinwand übertragen. Die menschlichen Akteure bewegen sich zwischen großen Tischen auf der Bühne hin und her. Auf ihnen sind kleine Bühnenbilder aufgebaut, in denen die Krabben von Hand, per Stäbchen oder Fäden geführt, ihre menschliche Seite hervorkehren.
Gleich die ersten beiden Bilder umreißen das Geschehen des Abends wie mit einer großen Klammer. Ein einfacher, schlichter Holzsarg, umgeben von einigen Plastikrosen, macht deutlich, dass wir mitten drin sind, in einer Beerdigungsszenerie. Nach wenigen, eindringlichen Bildsekunden klopft eine Krabbe, mit schwarzem Zylinder ausstaffiert auf das Mikro und macht eine Test-Test-Test-Hörprobe. Ein zweites Tierchen beginnt, mit einem Besen den Boden vor dem Sarg aufzukehren und sich mit dem sich um die Technik bemühenden Leichenbestatter zu unterhalten. Nicht, dass sich das Gespräch nun, wie man erwarten könnte, um den Toten im Sarg handelt, nein, die „Putzfrau“ mokiert sich über ein zeitgenössisches Kunstwerk an der Wand, das ein unglaublicher Staubfänger sei, den man schwer reinigen könne. Die Betroffenheit des Publikums kippt sofort in Fröhlichkeit; was kurzzeitig schwer im Gemüt lag, fliegt nun plötzlich humorig hoch in die Lüfte. Doch noch ehe das Publikum von der Komikwelle in noch höhere Wohlfühlzustände gespült wird, kommt ein filmischer Schnitt. Eine stöhnende, auf einem weißen Krankenhausbett liegende Krabbe ist, nach ihren Atemgeräuschen und den Anfeuerungen der daneben stehenden Hebamme gerade dabei, ein Junges zu gebären. Und tatsächlich, nach wenigen Sekunden, liegt dieses in einer roten Blutlache vor ihr auf dem Bett.
Tod und Leben, der ewige, menschliche Kreislauf ist es, um den sich die Erzählungen und kleinen Eindrücke der Krabbengeschichten drehen. Sie tun dies schonungslos und halten den Menschen im Saal einen Spiegel vor. Die Botschaft, die sie transportieren, ist aber durch die Transformation in diesen Meeresfrüchtezustand viel leichter zu verdauen, als würde man all diese Szenen in realiter mit Schauspielerinnen und Schauspielern drehen. Dass dabei in einigen Szenen tiefschwarzer Humor zum Einsatz kommt, kennzeichnet die dahinter liegende Idee von der allgegenwärtigen Grausamkeit und gleichzeitigen Absurdität des Lebens, die nur ertragen werden kann, wenn sich durch den Einsatz von schwarzem Humor ein Ventil öffnet. So zum Beispiel in jener Szene, in der eine Schlange von wartenden Krabben zu sehen ist, die mit allerhand Hausrat und Kunstgegenständen – wie in der Serie Kitsch und Krempel – darauf warten, ihre Trophäen der Schätzung von Spezialisten zu präsentieren. Als die Kamera nach der Fahrt über die wartenden Kunstliebhaber beim Expertentisch angekommen ist, zoomt sie auf eine Gliederpuppe, die von drei Krabben genau unter die Lupe genommen wird. Wie dann aus dem Gespräch ersichtlich wird, handelt es sich bei „diesem schönen Stück“ um die Leiche eines jungen Mädchens, dessen Wert leider etwas herabzusetzen sei, da sie – „zwischen den Beinen erkennbar – missbraucht wurde“. So schwarz und so trocken der Humor ist, der von der Gruppe „Hotel Modern“ aus Holland hier vorgesetzt wird, so treffen doch viele ihrer Aussagen den Nagel auf den Kopf. Der Besuch im Europapark, in dem eine von drei Krabben sich angesichts des Arc de Triomphe an die Zeit ihrer Verlobung mit ihrem Mann erinnert – „der damals noch nicht im Rollstuhl saß“ – lässt von einer Sekunde auf die andere das Publikum in einer Achterbahn der Gefühle talwärts und wieder hinauffahren. Die männliche Krabbe zeigt auf das daneben aufgebaute „Nazi-Konzentrationslager Auschwitz“, das in Miniatur zu sehen ist, und dessen Schriftzug aufgrund des kleinen Maßstabs schwer zu lesen ist. So wird aus „Arbeit macht frei“, „Arbeit macht Blei“, was dahingehend interpretiert wird, dass Arbeit an sich etwas schwer zu Ertragendes ist und mit Blei dafür die adäquate Metapher gefunden wurde. Lachend wendet sich die Krabbe von den winzigen Baracken ab und verleiht seiner Freude lautstark Ausdruck, einen so schönen Nachmittag schon lange nicht mehr erlebt zu haben.
Was sich Pauline Kalker, Herman Helle, Arlène Hoornweg, Arthur Sauer und Ineke Kruizinga mit ihrer Krabbengeschichte ausgedacht haben, ist, großes Betroffenheitstheater so zu verpacken, dass die Spielzeit von einer Stunde zu kurz erscheint. In über 30 kurzen Sequenzen breitet „Hotel Modern“ ein Kaleidoskop unseres täglichen Lebens vor uns aus, angefangen von den Zuständen in einer Autowerkstatt, einem Operationssaal oder einem Restaurant, bis hin zur Mondlandung, einer Teufelsaustreibung oder einem Liebesakt im Doppelbett. Ihr Theater spielt sich auf mehreren Ebenen gleichzeitig ab. Nicht nur, dass wie in den Fabeln von Äsop hier die Tierwelt menschliche Züge trägt, sondern das Spiel, die Agitation mit den Krabben ist, wendet man seinen Blick von der Leinwand auf die Spieler, parallel mitzuverfolgen. Die Scheinwelt des allgegenwärtigen Mediums Film führt sich mit einem Augenschlag von uns ad absurdum. Schöner und subtiler kann Medienkritik wohl nicht präsentiert werden. Großen Anteil am Gelingen hat Arthur Sauer, seines Zeichens Komponist, denn er begleitet das Stück über mit Live-Einspielungen und Liveacts, welche die akustische Untermalung der Szenerie bieten. Dass die hoch technisiert ausgestattete Bühne angesichts der eindrucksvollen Szenen auf der Leinwand dennoch in den Hintergrund tritt, ist dem Phänomen der großen, bewegten Bilder geschuldet. Wobei wieder bewiesen wäre: Der Mensch, das Augentier, will getäuscht werden! Ein großer, zeitgeistiger als zeitgeistig verpackter Theaterabend, der Schwarz und Weiß so nebeneinander präsentiert, dass einem dabei schwindlig werden könnte.
Dieser Artikel ist auch verfügbar auf: Französisch