Ohne Worte aber nicht ohne Geräusche

Die drei Schwestern von Anton Tschechow gehören zur Weltliteratur und sind in Russland so bekannt, dass das Publikum jeden einzelnen Satz davon kennt. Das ist die Meinung von Timofej Kuljabin, der mit seiner Interpretation des Bühnenklassikers von Anton Tschechow zu den Wiener Festwochen eingeladen wurde.

Kuljabin, seit 2015 künstlerischer Leiter des Teatr Krasnyi Fackel (Theater Rote Fackel) überlegte sich im Vorfeld, wie sehr das gesprochene Wort eigentlich noch benötigt wird, wenn es ohnehin schon bekannt ist und wagte ein Experiment. Er ließ, bis auf die Figur des Ferapont alle Schauspielerinnen und Schauspieler mit russischer Gebärdensprache agieren, was zu Beginn für das Publikum höchste Konzentration bedeutete. Zumindest so lange, bis man das Geschehen überblickte und rasch von Konversation zu Konversation wechseln konnte.

Die Bühne zeigt das Haus der Familie Prosorow in Aufsicht. Zwar sind die Zimmer unterteilt, aber nur mit Bodenmarkierungen, Wände gibt es keine. Das führt dazu, dass man bis in den kleinsten Winkel des Hauses alle Vorkommnisse zugleich beobachten kann. Nicht nur, was die Schwestern Olga und Irina tun, die meist die verheiratete Mascha zu Besuch haben. Auch wie Andrej und seine spätere Frau Natascha, sowie der Militärarzt Tschebutykin ebenfalls im selben Haus leben, kann man gut beobachten. Der Text zum stummen, jedoch nicht lautlosen Geschehen ist im Laufband über dem Bühnengeschehen zu lesen. Darüber hinaus agieren viele der Beteiligten gleichzeitig – ganz so, wie es in realen Situationen in einer Wohnung oder einem Haus geschieht. Und sie machen jenen Lärm, den man bei Alltagsverrichtungen eben macht. Mit Tellern und Schüsseln klappern, versuchen, bei einem Video Playback mitzusingen, brüllen, schnaufen und klatschen während man ein Spiel spielt usw.

Das von Tschechow als Lustspiel angedachte Drama reizt in der Kuljabin-Fassung tatsächlich an mehreren Stellen zum Lachen. Wenn z.B. Tschebutykin sturzbesoffen torkelt und Mobiliar niederreißt oder Ferapont ungelenke Antworten gibt. Sonst bleibt es eine ernste Geschichte über die Entwicklung von drei Frauen, die mehr unfreiwillig als freiwillig ihr Elternhaus verlassen, ihre wahre Liebe nicht finden, aber zumindest erkennen, dass Arbeit ihrem Leben Sinn gibt. Das Leben kommt anders als man denkt, und wenn man es akzeptiert, dann tut es nicht mehr ganz so weh – könnte man die Botschaft vor allem dieser Inszenierung zusammenfassen.

Was sich im ersten Aufzug, in dem die Charaktere vorgestellt werden, noch ziemlich anstrengend und wenig aufregend darstellt, ändert sich nach der Pause radikal. Der Regisseur geht darin noch einen Schritt weiter und entfernt ein wichtiges, theaterimmanentes Attribut: das Licht. Nun agieren die Hauptcharaktere nur mit kleinen Taschenlampen, die ihre Gesichter zum Teil gespenstisch erleuchten, aber es gibt auch Szenen, die ganz ohne Licht auskommen. Wie jene, in der die jüngste der Schwestern, Irina, ihrem Kummer über ihr tristes Arbeitsleben freien Lauf lässt. Was in anderen Produktionen gerne mitleidserregend erscheint, wird in dieser Version beinahe zum Thriller. Wie sich Irina unter den Tisch verkriecht und im Dunkel jammert, weint und dem Hass über ihre Lebensumstände Ausdruck verleiht, ist packend und beispiellos zugleich. Das Dunkel der Bühne und das unakzentuierte Gejammer, verdichten sich zu einer hoch emotionalen Situation, die auch bei den darauffolgenden Geschehnissen anhält. Wie Olga der schon hochschwangeren Anfissa beisteht, Natascha, ihre Schwägerin, das Hausmädchen aber bald darauf malträtiert, wie immer wieder ein lautes Gekrache die gespenstische Stille durchbricht – hervorgerufen vom betrunkenen Stabsarzt Tschebutykin – das Licht an- und ausgeht bis schließlich Ruhe einkehrt, all das ist wirklich beachtenswert, mehr noch: packend, fesselnd, großes Theater.

Auch der letzte Aufzug, in welchem die Kompanie aus dem kleinen Städtchen abzieht und sich langjährige Freunde von der Familie verabschieden, funktioniert ohne das gesprochene Wort bestens. Die theatralischen Verabschiedungen der Russen untereinander, mit ausladenden Gesten und nicht enden wollenden Wiederholungen sind Emotions- und Augenfutter genug. Der Schuss, mit dem Irinas Bräutigam getötet wird, bleibt fürs Erste von den Frauen ungehört. Wie sie nach der Todesnachricht und dem ersten Schock jedoch wieder zusammenfinden und ihr Leben neu ordnen, sich nicht von ihren Plänen abbringen lassen, ist so gut in Szene gesetzt, dass dieser – in vielen Inszenierungen nicht wirklich erklärliche Schluss – plausibel wird.

Die drei Schwestern (c) Frol Podlesny

Die drei Schwestern (c) Frol Podlesny


Timofej Kuljabins Experiment darf als gelungen bezeichnet werden, wenngleich auch am besuchten Abend rund ein Viertel des Publikums vorzeitig den Saal verließ.

Es spielten: Andrej Sergejewitsch Prosorow Ilja Musyko
Nikolai Lwowitsch Tusenbach Anton Woynalowitsch
Natalja Iwanowna Claudia Kachussowa, Valeria Kruchinina
Olga Irina Kriwonos
Mascha Darja Jemeljanowa
Irina Linda Achmetsjanowa
Fjodor Iljitsch Kulygin Denis Frank
Alexej Petrowitsch Fedotik Alexej Meschow
Alexander Ignatjewitsch Werschinin Pawel Poljakow
Wassili Wassiljewitsch Soljony Konstantin Telegin
Iwan Romanowitsch Tschebutykin Andrej Tschernych
Wladimir Karlowitsch Rode Sergej Bogomolow
Ferapont Sergej Nowikow
Anfissa Elena Drinewskaja

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