Die Berliner Philharmoniker in meinem Wohnzimmer
17. Januar 2009
Für mich grenzt es an ein Wunder. Wir werden uns  um kurz vor acht mit dem Internet verbinden,  um dann Punkt 20 Uhr die Live-Übertragung aus dem Berliner Konzertsaal zu genießen. Wir werden uns wie ganz normale Abonnenten fühlen, mit dem einzigen Unterschied, dass wir während des Konzertes unsere Füße hoch lagern können.  Danach werden […]
Michaela Preiner
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Für mich grenzt es an ein Wunder. Wir werden uns  um kurz vor acht mit dem Internet verbinden,  um dann Punkt 20 Uhr die Live-Übertragung aus dem Berliner Konzertsaal zu genießen. Wir werden uns wie ganz normale Abonnenten fühlen, mit dem einzigen Unterschied, dass wir während des Konzertes unsere Füße hoch lagern können.  Danach werden wir uns unterhalten, wie denn die Aufführung gewesen sei. Ob Bernard Haitink Mahler nach unserer Facon interpretieren ließ und ob die Dame, die links hinter dem Orchester ihren Aboplatz hat, auch diese Mal wieder in Rot gekleidet war. Dieses kleine Detail haben wir bereits beim Abrufen jener Konzerte wiedererkannt, welche in der Saison 2008/09 schon aufgenommen worden waren, aber erst im Jänner im Internet freigeschaltet wurden. So kennen wir nun auch schon, nach drei bereits gesehenen Konzerten, den jungen Konzertmeister, Guy Braunstein; jenen dunkelhaarigen Mann, dessen Mähne unbändigbar erscheint. Wir erkennen die Querflötistin mit den glatten, hochgesteckten Haaren wieder, und wir haben uns vertraut gemacht mit dem Konzertsaal selbst. Aber heute Abend wird es doch noch einmal anders sein. Denn es ist etwas anderes, ob man eine Aufführung quasi aus der Konserve mitverfolgt, oder ob das Husten des Publikums, die Bewegungen des Dirigenten und die gespielte Musik zeitgleich mit unserer Betrachtung vor dem Bildschirm stattfindet. Eine Zeitgleichheit, an die wir uns zwar längst im Fernsehen gewöhnt haben, die uns von Konzerten her jedoch noch fremd ist. Gewiss, es gab sie schon, Konzerte, die live im Fernsehen übertragen wurden. Vorreiter war hier der ORF mit der alljährlichen Übertragung seines Neujahrskonzertes aus dem großen Wiener Musikvereinssaal. Gewiss, es gab bisher nicht nur ein Konzert oder eine Oper, die man live am Bildschirm miterleben konnte. Aber im Internet ist es tatsächlich ein Novum. Noch dazu, wo man um 89 Euro ein komplettes Saisonabonnement kaufen kann. Drei Jahre dauerten die Vorbereitungen zu diesem Unterfangen, kräftig unterstützt durch die Deutsche Bank, die, trotz Kreditkrise, mit geholfen hat, das musikalische Baby aus der Taufe zu heben.

Wir werden kurz vor Konzertbeginn auf der Internetseite der Berliner Philharmoniker, auf welcher das Konzert übertragen wird, und die all jenen zur Verfügung steht, die dafür eine „Eintrittskarte“ bezahlt haben, die Beschreibung des Konzertes im Programmheft ansehen und wenn es dann beginnt, dann werden wir uns zurücklehnen und zuhören. So, wie wir es auch täten, wenn wir in Berlin wären, direkt vor Ort, im Konzertsaal.

Dass dieses Wunder möglich wurde, verdanken die Berliner Philharmoniker dem Solocellisten Olaf Manninger. Er hatte vor drei Jahren die Idee zur Ausstrahlung der Konzerte seines Orchesters im Internet. Er suchte nach einer Möglichkeit, all jene Menschen an den Konzerten teil haben zu lassen, die sich keine Karten kaufen können, weil die Konzerte schlichtweg schon Monate im Vorhinein ausgebucht sind. Alle Konzerte, welche die Berliner Philharmoniker spielen, egal ob in Berlin oder auf Tour im Ausland, über 90 in einem Jahr, sind bis zu dreifach überbucht und so gibt es wesentlich mehr Menschen, welche ein Konzert gerne sehen wollen, dies aber nicht können, also solche, denen es tatsächlich gelingt, eine Karte zu ergattern. Nun könnte sich dies alles ändern. Denn nun kann jede und jeder, vorausgesetzt sie oder er hat zuhause das technische Equipment und ist im Besitz eines gültigen Abonnements, die Konzerte am Abend ihrer Aufführung live zuhause am Bildschirm des Computers, miterleben. Technikversierte können das Kabel auch an den Fernseher anstecken, oder die Boxen der Stereoanlage zuschalten. In diesem Fall ist nicht nur ein größeres Bild, sondern auch ein brillanter Ton garantiert.

Die Berliner Philharmoniker erweisen mir und allen anderen Musikbegeisterten eine Referenz, die gar nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Ihr Angebot kommt in einer Zeit, die mehr als je zuvor dafür geeignet erscheint. Die Anschlussdichte an das Internet betrug nach einer Studie der ARD und des ZDF über die Internetverbreitung 2008 in Deutschland  62,7%, in Österreich liegen die Zahlen sogar noch höher. Demnach gibt es  kaum mehr Haushalte, die nicht mit mindestens einem Computer am weltweiten Netz hängen. Aber auch andere Parameter lassen die Aktivität unter günstigen Voraussetzungen erscheinen: die allgemeine Finanzkrise ist bereits in Kreisen zu spüren, die bisher über den Preis einer Konzertkarte nicht einmal im Ansatz nachdenken mußten und – so zeigen  die Umsatzsteigerungen bestimmter Lebensmittel und Konsumgüter, sowie der Umsatzrückgang einer gewissen Gastronomiesparte – es wird wieder chic, in seinen eigenen vier Wänden zu bleiben und es sich dort gemütlich zu machen, Freunde einzuladen und gemeinsam zu Essen. Ob sich auch Konzertabende als neue, kleine gesellschaftliche Ereignisse in den eigenen vier Wänden etablieren werden, das ist noch nicht vorauszusehen. Die Möglichkeit dazu ist nun aber gegeben.

Ein weiterer, wahrscheinlich noch gar nicht allzu bewusster Nebeneffekt ergibt sich für Menschen wie mich, die sich aufgrund ihrer ständig wechselnden Wohnsitze als moderne Nomaden bezeichnen. Denn kaum ist man in einem Ort angelangt und hat sich richtig eingelebt, geht es schon weiter an den nächsten Arbeitsplatz. So kann ich aus Erfahrung berichten, dass mir bisher nie die Zeit geblieben war, mir irgendwo ein Konzertabo zu kaufen, ist es doch auch so, dass man meistens mehrere Jahre darauf warten muss. Zumindest war das in meiner Heimatstadt Graz der Fall. Ich war beiden dort tätigen Orchestern sehr verbunden, habe mir von Jugend an ein großes Repertoire klassischer, aber auch moderner Musik durch das Hören der Konzerte im Stefaniensaal in Graz aneigenen können und war, ab meiner ersten Übersiedelung in eine neue Stadt, von dieser Kultur so gut wie abgeschnitten. Aber bereits nach drei Archivkonzerten mit den Berliner Philharmonikern, die ich gesehen habe,  tritt das Phänomen ein, dass sie mir als jenes Orchester erscheinen, welchem ich im Moment am meisten verbunden bin, und dies, obwohl ich sie nie live in Berlin im Konzertsaal erlebt habe, sondern nur bei mir zuhause am Schirm, derzeit in Straßburg. Durch das Archiv, welches alle Konzerte bereit hält, welche die Berliner Philharmoniker in dieser Saison absolvierten, kann jederzeit eine Wiederholung eines bestimmten Abends vorgenommen werden. Wir sind nun in der Lage, uns Unbekanntes öfter anzuhören und uns anzueignen. Wir haben die Möglichkeit, Dirigentenstudien durchzuführen, wie sie im Konzertsaal direkt gar nicht machbar sind. Eine modernste Kamera- und Schnittechnik bietet uns Bilder und Nahaufnahmen von Dirigenten und Musikern, die uns tiefer eindringen lassen in das jeweilige Wesen der Musik, denn auch die optische Teilhabe vermittelt Eindrücke, die das Gehörte zusätzlich verstärken.

Die Übertragung der Konzerte im Internet zeigt auch einmal mehr, dass dieses ein demokratisches Medium ersten Ranges ist. Der Zugang zu erstklassigen Musikaufführungen ist nicht mehr nur ein Privileg weniger. Jede und jeder kann es sich ab sofort ins Haus holen und teilhaben an jener musikalischen Welt, ohne die für mich Leben gar nicht denkbar ist.

Alle Informationen hier: https://dch.berliner-philharmoniker.de/

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