Vier mal eins ist eins

Wie bringt man einen Roman auf die Bühne, der ausschließlich von einem Mann erzählt wird? Einen Roman, der über 600 Seiten lang ist und von Thomas Bernhard geschrieben wurde? Wie fesselt man ein Publikum bis zur Pause ohne Bühnenbild?

Die Direktion der Josefstadt hat es sich nicht wirklich leichtgemacht. Ihre Entscheidung, „Die Auslöschung“ von Thomas Bernhard auf die Bühne zu bringen, war sicherlich gewagt. Gewinnen konnte sie dafür Oliver Reese, den man mittlerweile als Bernhard-Spezialisten bezeichnen kann. In seiner Funktion als Leiter des Schauspiel Frankfurt dramatisierte er 2013 die fünf Bücher „Die Ursache“, „Der Keller“, „Der Atem“, „Die Kälte“ und „Ein Kind“ zu einer 50-seitigen Zusammenfassung mit dem Titel: „Wille zur Wahrheit. Bestandsaufnahme von mir“. Man kann fast annehmen, dass ihm danach die „Auslöschung“ sogar etwas lockerer von der Hand gegangen ist. Zumindest vermittelt die Inszenierung, in der Reese auch selbst Regie führte, eine Treffsicherheit in der Strichauswahl, die beachtenswert ist.

Denn in den zwei Stunden und vierzig Minuten, die der Abend dauert, vermittelt Reese alle wichtigen Topics des Romans, allen voran das Gefühl des Ausgestoßenseins aus der Familie. Er belässt die Beschreibung der verschiedenen Charaktere, die Erzählung über das Verhältnis der Mutter mit dem Erzbischof Spadolini oder über die noch junge Ehe einer seiner Schwestern. Er lässt den Ekel und das Unverständnis nachvollziehbar werden, die Franz-Josef Murau, der Erzähler und Hauptprotagonist, gegenüber seiner Umwelt empfindet. Er, der vor seiner Familie aus Schloss Wolfsegg am Hausruck nach Italien geflüchtet ist, erhält eines Tages ein Telegramm, in dem ihm der Tod seiner Eltern und seines Bruders angekündigt wurde.

Den langen Erzählfluss, den Bernhard seiner Hauptfigur einschreibt, teilt Reese auf vier Personen auf. Sie alle, Wolfgang Michael, Christian Nickel, Udo Samel und Martin Zauner schlüpfen abwechselnd in die Rolle des Schlosserben. Aber – mit wunderbarem komödiantischem Ausdruck – auch in jene der beiden Schwestern Caecilia und Amalia, des Erzbischofs, Onkels oder Gärtners. Mit diesem klugen Schachzug wird nicht nur der Text in kleinere, kurzweiligere Tranchen unterteilt. Reese schafft es auch, dass die Zusehenden keine fixe Vorstellung von Murau bekommen. Alle, die den Roman gelesen haben, haben ein eigenes Bild dieses Familienverweigerers im Kopf, der am Schluss durch einen Coup all das von sich weist, was ihm aufgrund der Erbfolge zwar zugeteilt wurde, was er aber ein Leben lang schon verschmäht hatte. Das ist gut so, denn damit tappt man nicht in jene Falle, die eine Dramatisierung oft für einen Roman darstellt. Auch das Bühnenbild (Hansjörg Hartung) hält geschickt inne. Agieren die Schauspieler vor der Pause auf dem Proszenium vor dem Vorhang, wird auch danach kein Blick auf das Schloss präsentiert. Nur zwei statische, hoch aufgetürmte Holzscheit-Stapel sind zu sehen, die einen kleinen, schmalen Durchlass freilassen; wohin, das ist nicht zu erkennen. Zum Entkommen aus dem reaktionären Leben seiner Familie bleibt Murau eben nur ein ganz schmaler Spalt.


Einzelne Requisiten, wie eine überdimensionale Skizze, die den Grundriss des Gebäudes wiedergibt, oder ein Kranz, der stellvertretend für die Vorbereitungen zur Beerdigung abgelegt wird, markieren zugleich Orte aber auch Befindlichkeiten. Der Zauber des Abends liegt aber im beständigen Rollenwechsel ein- und derselben Romanfigur. Beinahe zerbrechlich agiert dabei Christian Nickel, ganz im Gegensatz zu Wolfgang Michael, der einen Murau aus echtem Schrot und Korn verkörpert. Martin Zauner zeigt die wütende Seite von Murau und Udo Samel erweist sich als beinahe verschmitzter und humoriger Typ, der zugleich auch ein optisches „Thomas Bernhard Alter Ego“ der Sonderklasse abgibt.

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Auslöschung im Theater in der Josefstadt (c) Jan Frankl

Reese gelingt mit der Inszenierung, die radikale Aussage des Stückes ebenso radikal in Szene zu setzen. Es gibt keinen Satz und keine Geste, die überflüssig wären. Es gibt keine störende Sentimentalität und doch darf man die Wandlung des Charakters vom Zurückhaltenden zum Familienoberhaupt emotional logisch nachvollziehen. Murau, der sich aus jeglicher internen familienpolitischen Entscheidung zeit seines Lebens herausgehalten hatte, erkennt, wieder an den Ort seiner Kindheit zurückgekehrt, nicht nur die Kollaboration seiner Eltern mit den Nazis. Er eignet sich innerhalb der wenigen Tage, die er für die Vorbereitungen des Begräbnisses benötigt, ein machtbestimmendes Auftreten an, dem keine der beiden einfältigen Schwestern widerspricht.

In Bernhards Text siegt die Intelligenz über die Dummheit, die Redlichkeit über die Niedertracht und der Wille zu einem frei bestimmten Leben über eine beharrliche Besitzstandswahrung. Genialerweise könnte man all das auch für diese Inszenierung ins Treffen führen. Eine intelligente Regie und die Bemühung, so nah wie möglich an der Werkaussage zu bleiben, trifft auf ein modernes Theaterverständnis, für das es im Grunde keine großen Bühnen benötigt. Ein literarisch-dramatisches Fest, an dem man unbedingt teilnehmen sollte. Die Dramatisierung dieses Textes, der einer der wichtigsten in der österreichischen Literatur des 20. Jahrhundert ist, wird dazu beitragen, dass die „Auslöschung“ auch bald einem größeren Publikum im deutschsprachigen Raum ein Begriff sein wird.

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