Der Charme einer aufgelassenen Kantine: Ein Un-Charme. Rote Fliesen im Ausschank-Bereich, weiße in den kleinen Kühlkammern dahinter. Ein großer Raum, einst Küche, nun ausgestattet nur mit einigen brusthohen Quadern aus lackierten Spanplatten. Podeste, die als Sockel für Körper dienen, die darauf, halbnackt, sich immer und immer wieder aus dem Liegen kurz aufbäumen und wieder fallen lassen. Das Klatschen von nacktem Fleisch auf der harten Oberfläche. Schmerz, der sichtbar wird. Bewegung, die als etwas Getriebenes erscheint, als etwas „Triebhaftes“, dem Menschen Immanentes.
12 ProtagonistInnen, angesiedelt in ihrem Ausdruck in der Bandbreite zwischen Schauspiel und Tanz, wechseln beständig Räume, Kostüme und Identitäten aber auch ihre eigenen verschiedenen Ichs. Sie locken das Publikum durch direkte Ansprache in Nebenräume um dort, wie die aus Tokio stammende, zarte Yoshie Maruoka, Geschichten zu erzählen, die sich auf sexuelle Erlebnisse beziehen. Auf einen Pornofilmdreh, in welchem das Verwundern über die Requisiten und die Regieanweisungen stärker in Erinnerung blieb als alles andere.
Abgelöst wird ihre intime Erzählung vom groß gewachsenen markant rothaarigen Peter-Christian Dworzak der mitten im Raum beginnt, weibliche Posen einzunehmen, wie sie von Pin-up Plakaten und Hochglanzmagazinen bekannt sind. Währenddessen geschieht in den anderen kleinen Räumen rund um das Herz der Kantine Ähnliches. So, als ob er fotografiert würde, lächelt er in eine imaginäre Kamera und während seiner Darbietung wird einem die Unnatürlichkeit dieser Stand- Sitz- und Liegefiguren richtig bewusst. Die Inszenierung des Körpers als Sexobjekt geschieht nach einem so strikten Kanon, dass er uns schon in Fleisch und Blut übergegangen ist und selten hinterfragt wird.
So wie den eben beschriebenen sind auch den anderen SchauspielerInnen ihre Rollen im wahrsten Sinn des Wortes auf den Leib geschrieben. Sie erzählen teilweise aus ihrer eigenen Lebenserfahrung und setzen dabei eine ausdrucksstarke Körpersprache ein. Sie tanzen ballerinengleich durch den Raum, rezitieren beschwörend und mit großer Geste Platos Höhlengleichnis oder bleiben einfach stoisch auf einem goldenen Thron sitzen. Von dort wird das Treiben beobachtet und milde gelächelt, das Vorrecht der Stammesältesten, die sich zu Beginn mit einer imposanten Federkrone geschmückt präsentieren durfte.
Nach kurzer Eingewöhnungszeit des Publikums in die Location zieht das Ensemble seine Mäntel über und stürmt ins Freie. Bewaffnet mit Demonstrationsschildern, die jungfräulich weiß sind, wird ihr Treiben von den BesucherInnen aus dem Warmen heraus verfolgt. Man schaut zu, wie sie sich zu einem geschlossenen Demozug formieren und auf die große Fensterfront zumarschieren, hinter der sich die ZuschauerInnen befinden. Skandiert wird für die Freiheit nach „designed desires“ aber man hat den Eindruck, dass es dabei um eine Demonstration geht, für die jede und jeder ihr eigenes Motto parat hat. Diese Szene gehört zum Eindrucksvollsten was Claudia Bosse mit ihrem Theaterkombinat für die neue Produktion „designed desires“ geschaffen hat. Denn dabei kippen schlagartig die Rollen. Das Publikum findet sich plötzlich in einer Situation wieder, in der es eine Machtposition innehat. Von einem über dem Straßenniveau erhabenen und vor allem sicheren und warmen Raum aus betrachtet es das Geschehen auf der Straße aus Distanz. Das geht richtig unter die Haut und macht mehr als betroffen. Und zeigt Körper, eingespannt in ein Kollektiv, das mehr Erfolg verspricht, als wenn der oder die Einzelne alleine kämpfen würde. Der Körper als Mittel zur Machtdurchsetzung wird auch dann als bedrohlich wahrgenommen wenn die Bedrohung wie in diesem Fall nur eine imaginäre ist.
Dass Politik den menschlichen Körper bis hin zu seiner Auslöschung missbrauchen kann, beweist Bosse bei ihrem 3. Teil der politischen Hybride auch in einer der Schlussszenen, in welcher noch einmal Yoshie Maruoka zu Wort kommt. In ihrer Schilderung des großen Erdbebens in Japan, dessen Auswirkungen sie aus der Ferne, nämlich Wien, virtuell mit verfolgte, wird klar, dass der Leib wesentlich auch von Machtstrukturen geformt oder besser umgeformt wird, die im politischen Bereich angesiedelt sind. Die Unterlassungen an Hilfeleistungen waren nach der Katastrophe in Japan in vielen Fällen mehr als ein Einschnitt in das Leben der Menschen. Sie bedeuteten nicht selten den Tod.
Das über 3stündige Geschehen fordert Ensemble wie Publikum gleichermaßen. Dabei wird aber auch klar, welch kräfteraubende Arbeit die SchauspielerInnen zu leisten haben, während man sich selbst am Boden, auf den niedrigen Heizkörpern oder dem großen Tresen ein Plätzchen zum Sitzen sucht, auf dem man die müden Beine etwas ausrasten kann. Die Bewegungen des Publikums werden durch eine wohl überlegte Tonregie unterstützt. Geräusche, Musik oder Sprache von Günther Auer konzipiert, sind so anziehend, dass man immer wieder seinen Standort verlässt, um nachzusehen, welche Aktion nun gerade in einem anderen Kantinenraum gezeigt wird. Der Ort selbst wird nach der jeweils stattfindenden Performance unterschiedlich einmal als heimelig, als kalt und als bedrohlich empfunden. Je nach Darbietung und vor allem auch je nach Geräuschkulisse. Als die ProtagonistInnen mit langen Gummischürzen wild um sich zu schlagen beginnen, ist man froh, nicht zu nahe neben ihnen zu stehen. Körperliche Gewalt, auch wenn sie nicht selbst gefühlt, sondern nur hörbar erlebt wird, auch dieses Thema wird an diesem Abend nicht ausgelassen.
Sowohl im Publikum, aber noch viel mehr im Ensemble selbst, entdeckt man bekannte Gesichter. Die Theatermacherin Bosse schart in jedem Fall Getreue um sich, was vor allem bei der Arbeit an diesem Stück von großem Vorteil ist. Gegenseitiges Vertrauen ist gerade bei „designed desire“ ein wichtiger Faktor des Gelingens. In dieser Produktion, in der Nacktheit eine wesentliche Rolle spielt, nie jedoch auch nur ein einziges Mal aufdringlich wirkt, gelingt auch eine besondere Art der Hinterfragung von Schönheitsidealen. Durch die persönliche Aufzählung einzelner Gebrechen und besonderer Körpermerkmale, die man erfährt, wenn man von SchauspielerIn zu SchauspielerIn wandert, stehenbleibt und zuhört, wird klar, dass wir alle weit davon entfernt sind, einem von der Werbung propagierten Schönheitsideal auch nur ansatzweise zu entsprechen.
Was von diesem hybriden Theaterpuzzle bleibt ist so manche Erkenntnis, die, wie im Falle des hinterfragten Schönheitsideals, auch sehr befreiend wirken kann, aber auch so manch eindrucksvolles Bild. Menschen, die Wünsche und Hoffnungen ins Nichts aussprechen, eingeschnürte Leiber, die ihre Freiheit einer fragwürdigen Sozialnorm geopfert haben oder mechanische Kopulationsandeutungen, die den Menschen als Triebwesen entlarven. Vor allem aber Bilder von menschlichen Körpern, geformt vom Leben, die Persönlichkeiten offenbaren. Persönlichkeiten, die gerade dadurch beeindrucken, dass sie sich abseits jeder gängigen Schönheitsnorm befinden und dies ohne Scham zeigen. Die vielen unterschiedlichen Textstellen – von Plato, Mühl, Nancy und Menke – bieten auch ein weites Feld der nachträglichen Erkundungstour.
„Designed desires“ legt nicht nur den Finger auf so manche gesellschaftlich hervorgerufene Wunde sondern macht etwas noch viel Wertvolleres, nämlich Mut. Mut, sich gegen einengende Konventionen zu wehren, Mut sich selbst zu achten und Mut, den eigenen Körper und den der anderen als persönlichen Besitz zu begreifen, der es Wert ist, in jeder Hinsicht befreit und verteidigt zu werden.