Zum Interviewtermin mit Marc Clémeur geht´s über eine alte, knarrende Holztreppe, hinauf in den ersten Stock eines ehemaligen Militärgebäudes – hinein, in ein großes, helles Büro, mit Blick direkt auf das Opernhaus gegenüber. Die schon als historisch zu bezeichnenden, einfachen Verglasungen mindern unwesentlich den Lärm der futuristischen „Tram“, die im 6-Minuten-Takt vorbei donnert. Marc Clémeur scheint dies nicht zu stören. Er wusste, worauf er sich einließ, als er sich um die Stelle eines Intendanten für die Straßburger Oper bewarb und fand die Herausforderung, ein Haus an der Schnittstelle zweier kultureller Prägungen zu leiten wohl interessanter, als ein schickes Büro mit thermoverglasten Scheiben im Herzen von Frankreich.
Das Opernhaus, die Opéra national du Rhin – oder zu Deutsch – die Rheinoper, trägt seit dieser Saison einen Zusatz: opéra d´europe – also Europaoper, und möchte damit etwas ganz bestimmtes ausdrücken. „Straßburg, ja dieses Haus, liegt direkt an der Grenze zu Deutschland; wenn Sie den Rhein überqueren, befinden Sie sich schon in Kehl“, erklärt der 2007 designierte Opernchef, dessen erste Saison er nun hier verantwortet, die geographische Situation. „In Straßburg treffen sich eigentlich zwei Kulturen, die romanische und die deutsche – so wie zum Beispiel auch in Belgien, meinem Heimatland. Sie überschneiden sich hier und befruchten sich gegenseitig, grenzen aber auch aus – und dem möchte ich entgegenwirken. Mit der Bezeichnung opéra d´europe soll deutlich gemacht werden, dass heute diese Grenze nicht mehr trennt und unser Haus im Herzen Europas angesiedelt ist. Und Glück habe ich auch noch, denn in diesem Hause trifft sich quasi das Beste aus zwei Welten: die deutsche Pünktlichkeit und das französische ‚joie de vivre‘ “. Marc Clémeur, der vor seiner Berufung nach Straßburg beinahe 20 Jahre Intendant der Vlaamse Opera in Antwerpen war, sieht sich also neuen, alten Herausforderungen gegenüber. Und er ist gewieft genug, funktionierende Traditionen zu belassen und nur dort Erneuerungen einzuführen, wo er Verbesserungspotential sieht.
So war er schon kurz nach seinem Amtsantritt sehr erstaunt über zwei Fakten, die für das Opernhaus in Straßburg signifikant sind: Erstens der hohe Prozentsatz an jungem Publikum, 25% sind jünger als 26 Jahre, und die Tatsache, dass es für die Gewinnung von Zusehern aus dem deutschsprachigen Raum noch reichlich Entwicklungspotential gibt. Als nach der Designierung Marc Clémeurs ein ehrfürchtiges Rauschen durch den Blätterwald ging, mit dem mehr gehauchten als offen ausgesprochenen Hinweis, dass sich die bestehende Kulturachse in Deutschland entlang des französischen Einzugsgebietes der neuen Opernkonkurrenz schon zu wehren wüsste, machte Clémeur im Gegenzug ganz diplomatisch einen großen Sprung über die Grenze: „Ich sehe unser Haus nicht in Konkurrenz stehend mit jenen in Baden-Baden oder Karlsruhe, sondern vielmehr als Ergänzung und als erweitertes Angebot für Opernfreunde. Frankreich und Deutschland haben ja sehr unterschiedliche, szenische Aufführungspraxen. Was in Deutschland gerne im sogenannten „Regietheater“ dekonstruiert wird, findet man in Frankreich viel seltener. Hier fungiert der Rhein tatsächlich noch als Grenze – wenn sie so wollen, als ästhetische Grenze. Das bietet aber sowohl dem französischen, als auch dem deutschen Publikum die Möglichkeit, diese beiden Traditionen kennen zu lernen“. Was aber nicht heißt, dass die Inszenierungen unter Marc Clemeur alte Hüte sind.
Ganz im Gegenteil, schon das Repertoire der aktuellen Saison rekrutiert sich zu einem hohen Prozentsatz aus Musikliteratur des 20. Jahrhunderts. Namen wie Giorgio Battistelli, Gustave Charpentier, Richard Strauß, Leos Janáček oder Nino Rota zeigen, was dem Intendanten besonders am Herzen liegt. Was Clémeur mit der unterschiedlichen szenischen Interpretation meint, wird deutlich an der gerade laufenden Produktion von „Louise“, einem sehr selten gespielten Werk von Gustave Charpentier. Die Thematik ist im selben Umfeld angesiedelt wie Puccinis Bohème, die Oper selbst im Jahr 1900 in Paris uraufgeführt – und doch erlebt man in Straßburg eine moderne, zeitgemäße Fassung, die die Problematik von Eltern, die ihr Kind nicht loslassen wollen, plausibel in unsere Zeit transferiert. Ein plakatives, im wahrsten Sinne des Wortes schräges Bühnenbild, deutlich konturierte Personen, die jedoch keinen psychologischen Tiefgang missen lassen, sowie Beleuchtungseffekte, welche die Beschreibung des unschuldigen Kindes oder der vermeintlich verruchten, jungen Frau sehr plakativ in Weiß und Rot unterstützen, sind deutliche Hinweise auf die nach wie vor vorhandene Freude an sinnlichen Inszenierungen in Frankreich. Schon bei Richard III, der zeitgenössischen Oper von Giorgio Battistelli, welche die Intendanz Marc Clémeurs in Straßburg einläutete, konnte diese Lust an der prallen Inszenierung beobachtet werden. Der Regisseur Robert Carsen beeindruckte durch die szenische Umsetzung des Spieles um Macht und Tod, in der viel Blut geschaufelt wurde.
Dass gerade Opern aus dem 20. und 21. Jahrhundert ein Wagnis sind, war Marc Clémeur von Beginn an klar, wurde ihm doch von vorneherein schon bedeutet, dass das Straßburger Publikum nicht sehr begeisterungsfähig sei. „Nach den bisher gelaufenen Premieren kann ich das aber überhaupt nicht bestätigen. 15 Minuten stehender Applaus bei der Premiere Richards III und ebenso langer bei Louise sprechen für mich eine ganz andere Sprache“ freut sich der Operndirektor sichtlich. Marc Clémeur setzt aber noch verstärkt auf eine ganz andere Karte, mit der er, wie es schon nach wenigen Wochen aussieht, einen Trumpf in seinen Händen halten dürfte. Nämlich mit der Einführung einer Oper pro Saison für Kinder. „Ich meine hier nicht Jugendliche von 13, 14 oder 15 Jahren, die können schon in eine Oper wie Louise gehen, in der sie ihre eigene Problematik mit der Ablösung vom Elternhaus finden, nein ich meine tatsächlich Oper für Kinder“, präzisiert er sein Vorhaben. Mit „Aladin und die Wunderlampe“ von Nino Rota, im deutschsprachigen Raum schon in Essen, Köln oder Wien aufgeführt, bringt er in Straßburg das Werk als französische Erstaufführung auf die Bühne, sicherlich mit großem Erfolg nicht nur beim Publikum. Ganz Frankreich blickt gebannt nach Straßburg, denn obwohl die Produktion noch gar nicht angelaufen ist, besteht schon jetzt eine derart große Nachfrage nach weiteren Aufführungen, „dass wir derzeit nur dabei sind, einen Termin nach dem anderen zu notieren“.
Angesprochen auf Co-Produktionen meint Clémeur, dass solche nur dann Sinn machen, wenn die Entfernungen zwischen den Opernhäusern auch groß genug wären. Mit Monte Carlo und Marseille gibt es jedoch schon für nächstes Jahr Verträge, was zusätzlichen Reiseaufwand für die gesamte Crew bedeutet; ist sie doch jetzt schon nicht nur in Straßburg, sondern auch in Mulhouse und in Colmar mit Aufführungen vertreten. Dass ein so viriles Opernhaus wie jenes in Straßburg trotz geringen finanziellen Mitteln hohe Qualität bringen kann, liegt vor allem „an der guten Nase des Intendanten“, schmunzelt Clémeur. Dabei unterstützt ihn jedoch ganz offensichtlich seine reiche Erfahrung und vor allem auch die Tatsache, dass er in der Jury zahlreicher Nachwuchsbewerbe sitzt – im vergangenen Jahr waren es acht. Der darin investierte Zeitaufwand lohnt sich allemal, rekrutiert Clémeur doch daraus immer wieder Sängerinnen und Sänger für sein Haus, ohne die damit verbundenen Risiken zu scheuen.
Die Vision, die Clémeur sich für seine Intendanz gesetzt hat, besteht aus der Öffnung seines Hauses einerseits in den Westen – also mit Ausrichtung nach Paris. „Das Geschenk, das Straßburg vor 2 Jahren erhalten hat, war der TGV – in etwas mehr als 2 Stunden sind Sie in Paris, was auch bedeutet, dass wir Publikum von dort anziehen können. Schon jetzt sind unsere Premieren mit den Beginnzeiten am Sonntagnachmittag so gesetzt, dass die wichtigen Kritiker aus Paris am Vormittag an- und am Abend wieder abreisen können – und ich hoffe, dass dies bald auch das Publikum tun wird“.
Andererseits aber liegt Marc Clémeurs Schwerpunkt tatsächlich in der Eroberung des Ostens; im Gegensatz jedoch zu einem kleinen Korsen, der dies auch einmal versuchte, tut Marc Clémeur dies mit Diplomatie und dem Schatz eines lebendigen Opernhauses im Gepäck. Mit Saisonbeginn gibt es eine Neuerung im Hause – alle Aufführungen, egal in welcher Sprache gesungen, werden sowohl in Deutsch als auch Französisch übertitelt. Die Internetseite ist dreisprachig – darunter selbstverständlich auch in Deutsch abrufbar, und wer die Anreise nach Straßburg mit dem eigenen Auto scheut, kann sich bequem vom sogenannten „Rheinopernexpress“ von 6 deutschen Städten aus zur Opernaufführung kutschieren lassen. Marc Clémeur erzählt freigiebig, dass er dieses Konzept von der Oper in Baden-Baden abgeschaut hätte, mit dem Zusatz: „man muss sich von überall das Beste abschauen“.
Auf die abschließende Frage, wie er sich denn in seinem Geschäft eigentlich charakterisieren würde, lacht er laut und antwortet prompt: „Als Bastard! Denn sehen Sie, ich muss einerseits künstlerisches Gespür und ein großes Wissen haben, um ein gutes Programm auf die Beine stellen zu können und andererseits aber auch eine große Portion an Managementqualitäten aufweisen. Ich hatte von Haus aus beides in mir verspürt und wollte diese Kombination immer beruflich umsetzen.“ Das ist Marc Clémeur wohl gelungen – und Straßburg kann ab nun von dieser seltenen, bastardischen Mischung profitieren, inklusive seiner hervorragenden Deutschkenntnisse – die nicht von Nachteil für die „Grenzöffnung“ sein werden.
Weitere Infos: https://www.operanationaldurhin.eu/
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