Tristes und Absurdes, Witziges und Poetisches bietet der ukrainische Autor Serhij Zhadan in „Depeche Mode“. Derzeit im Werk X Eldorado am Petersplatz zu sehen.

Drei Freunde: Dog Pawlow, Antisemit jüdischer Abstammung, Wasja Kommunist, der sich durch das Verchecken von Alkohol versucht über Wasser zu halten und der Ich-Erzähler Serhij, neunzehn Jahre alt und arbeitslos, leben zu Beginn der 90er Jahre im postkommunistischen Charkiw. Es ist ein Leben, bestimmt von Suff und kleineren, kriminellen Aktionen. Herumlungern und sich zukippen, Freunde um sich haben, die nur deswegen Freunde sind, weil sie da sind. Fußballspiele besuchen, bei denen man sich die Seele aus dem Leib brüllen kann, sofern man nicht schon so zugekifft oder besoffen ist, dass man gar nichts mehr mitbekommt. Das ist der Alltag der drei. Eines Tages erscheint bei ihnen ein gewisser Onkel Robert. Er sucht Sascha, um ihm mitzuteilen, dass sein Stiefvater verstorben sei. Wer ist Sascha? Nach längerem Grübeln fällt den Dreien ein, dass es sich um ihren Kumpel Sascha Zündkerze handelt, von dem sie eigentlich gar nicht wissen, wo er ist.

„Depeche Mode“ von Serhij Zhadan (geb. 1974), einem ukrainischen Autor, dessen Werke bei Suhrkamp auf Deutsch erscheinen, wird derzeit im Werk X Eldorado am Petersplatz aufgeführt. Julia Burger inszenierte die Geschichte, die sich an vier Tagen abspielt, in einem rasanten Ablauf. Gemeinsam mit Anna Laner kürzte sie den Roman und strich einige Figuren, um den Text bühnenreif zu frisieren. Mit von der Partie sind die großartige Aleksandra Corovic, die in mehrere, meist männliche Rollen schlüpft und die einzige weibliche Figur, die Tochter eines Generals, mit komödiantischem Talent versifft, naiv und dennoch selbstbestimmt auf die Bühne bringt. Weiteres Sven Kaschte, der Serhij, den Autor selbst, verkörpert. Kaschte bewältigt derzeit den Spagat zwischen den Abendvorstellungen im Werk X und jenen der Plaisiranstalt mit der Shakespear-Interpretation Sturm, die er tagsüber im Dschungel für Kinder spielt. In Superman-T-Shirt und Iro-Frisur, aber weit davon entfernt auch nur irgendwelche Supermanneigenschaften vorweisen zu können. Er fungiert zu Beginn als Erzähler und umreißt die Situation emotionslos. Es ist ein Rückblick, den er von einem Fauteuil aus tätigt, um hinzuzufügen, dass sich in den 15 Jahren, die seither vergangen sind, nichts geändert hat. Rein gar nichts. Gideon Maoz spielt Dog Pawlow, hemmungslos dem Alkohol verfallen, der seinen Kumpels mehr Last ist als Hilfe, dennoch aber die Zivilcourage besitzt, in einem heiklen Moment einem Penner zu Hilfe zu kommen. Letztendlich bezahlt er diesen Einsatz mit seinem Leben. Philipp Stix, erst vor Kurzem in „Angry Young Men“ zu sehen, verkörpert sowohl Wasja Kommunist als auch Kakao, jenen dicklichen Sonderling, der von allen verlacht und verhöhnt wird. Bis er sich einen einflussreichen Potentaten als schwulen Freund sucht.

Die Aufforderung von Onkel Robert, Sascha zu suchen, wird von dem Trio ungefragt als Auftrag übernommen. Besser unterwegs sein und etwas erleben, als weiter jeden Tag ohne Ziel und Zweck vor sich hinleben mag wohl ihr Movens zu dieser Aktion gewesen sein. Genau weiß man das nicht. Jedenfalls machen sie sich tatsächlich prompt auf den Weg, der in eine Fabrik führt, in der ein Alt-Kommunist eine eigene Marxistische Idee entwickelt hat. Sie lauschen – zugekifft, denn anders ist die Belehrung des Pseudointellektuellen nicht auszuhalten, seinen Ausführungen über den „permanenten Piepschnozismus“. Welch beredte Metapher für den politischen Inhalt der Bewegung! Diese neue kommunistische Gangart besteht nämlich aus der Abschaffung von allem und jedem, weil ohnehin alles egal ist. Piepschnurzegal sozusagen. Produktion, Partei und Exekutive. Wozu das alles? Also weg damit. Aufgestachelt von seinen Ausführungen kommen die Freunde schließlich auf die grandiose Idee eines Diebstahls. Ohne Reue selbstverständlich, handelt es sich doch um das Geld der arbeitenden Klasse, das in der Fabrik falsch verwaltet wird. Dumm gelaufen, heißt es dann jedoch, denn anstelle der erwarteten hübschen Summe ist die Beute lediglich eine Molotov-Büste mit der sie Reißaus nehmen müssen.

Zhadan steht in seinem Stil ganz in der Tradition kommunistischer Autoren wie dem Tschechen Bohumil Hrabal (1914-1997), der das triste Dasein in der kommunistischen Ära ebenso illusionslos, aber mit einer großen Menge schwarzem Humor und jeder Menge Absurditäten beschrieb. Der Unterschied zu Hrabal liegt darin, dass Zhadan keinerlei Rückgriffe auf einen humanistischen Bildungskanon tätigt, sondern lediglich das Hier und Jetzt als Ausgangspunkt seiner Erzählung nimmt. Eine Gegenwart, die bestimmt wird durch die soziale Zerstörung, die der Kommunismus und der nahtlose Übergang zu einem System hervorgerufen haben. Ein nach wie vor bestehendes System, das von Oligarchen, einer korrupten Exekutive und ebensolchen Parteiführern bestimmt wird.

Bei einer abenteuerlichen Zugfahrt stranden die drei jungen Männer auf einem Bahnhof im Niemandsland. Diese Pause des Geschehens nimmt Zhadan zum Anlass, in einer unglaublich feinfühligen, poetisch-anschaulichen Textpassage das Auftauchen eines alten Mannes mit einem Grammophon zu beschreiben. Unweigerlich muss man an Saša Stanišics Buch „Wie der Soldat das Grammofon repariert“ denken. Das Bild, das Zhadan hier evoziert, hat die gleiche Kraft wie jene, die der serbische Autor mit seinen Beschreibungen imstande ist hervorzurufen. Langzeiterinnerung ist hier vorprogrammiert. Die brutale Zerstörung dieses Reliktes aus einer anderen Zeit und die Misshandlung des Alten wird Wasja zum Verhängnis. Seine Freunde eilen ihm jedoch nicht zuhilfe, sondern tuckern mit dem Regionalzug, der keine Notbremseinrichtungen hat, weiter. Am Ende ist es einzig Serhij, der Zündkerze findet, es aber nicht übers Herz bringt, ihm zu sagen, warum er eigentlich gekommen ist.

Der Titel „Depeche Mode“ stammt aus einer Episode, in welcher in einer Jugendsendung im Radio die Band vorgestellt wird. Genauso absurd, wie alles, was sich zuvor und danach abspielt. Matthias Krische greift im Bühnenbild auf die hölzernen, multifunktionalen Requisiten des Hauses zurück, taucht sie aber in eine grüne Tarnfarbe und lässt diese das Ensemble kräftig umherschieben. Die Punk-Rock-Musik unterstreicht perfekt den Zeitgeist und heizt die Umbauten durch ihr Tempo zusätzlich an. Ein Abend, an dem man, wie die Protagonistinnen und Protagonisten selbst, zwischen Depression und Euphorie schwanken darf und letztlich froh ist, in einem Land zu leben, das den Menschen andere Entwicklungsmöglichkeiten anbietet als jene die im Osten Europas angeboten werden können.

Seit der Veröffentlichung im Jahr 2007 hat sich in der Ukraine viel verändert. Serhij Zhadan würde heute wohl einen anderen Prolog schreiben. Er musste am eigenen Leib erleben, wie sich Kritik gegen die prorussische Bewegung in seiner Stadt anfühlt. Bei der Erstürmung der Gebietsverwaltung von Charkiw am 1. März 2014 wurde er von prorussischen Kräften, den Besetzern, krankenhausreif geschlagen.