Evgeny Titov inszenierte „Das Missverständnis“ von Camus im Max Reinhardt Seminar als das, was es ist: Ein existentialistisches Lehrstück
„Alles Unglück der Menschen kommt daher, dass sie sich nicht einer einfachen Sprache bedienen. Wenn der Held von Das Missverständnis gesagt hätte: «Ich bin es und ich bin dein Sohn», dann wäre ein Dialog möglich gewesen … Es hätte keine Tragödie gegeben, weil es wie in allen Tragödien nur die Taubheit des Helden ist, die diese Zuspitzung verursacht.“ Diese Zeilen stammen von Albert Camus, der darin kurz die Tragik seines Stückes „Das Missverständnis“ anreißt.
Am Max Reinhardt Seminar hat Evgeny Titov damit sein Vordiplom bestritten. Es ist nach dem „Schlangennest“ und „Elektra“ seine dritte Regiearbeit, die er im Rahmen seines Studiums ablieferte. Das Stück von Camus ist nicht ungefährlich, gibt es doch Inszenierungen, die das mordende Geschehen von Mutter und Tochter wie einen Krimi behandeln. Das wäre allerdings ein klares „Thema verfehlt“, denn schließlich ging es dem Autor um nichts Geringeres, als die von ihm begründetete Philosophie des Absurden zu veranschaulichen. In die Krimi-Falle tappte Titov in keiner Sekunde. Vielmehr legte er großen Wert, die Frage nach Gott, nach der Verantwortung des Menschen für sein Tun und nach der Absurdität des Todes klar zu beantworten, was der Intention des Autors absolut entsprach. Titov erzählt die Geschichte von Jan, der nach 20 Jahren unerkannt ins Haus seiner Mutter und Schwester kommt und von diesen schließlich ermordet wird, in ruhigem, unspektakulärem Ablauf. Prägnante Bilder, ein überaus intelligenter Musikeinsatz und mehrere unerwartete Regieeinfälle prägen den Abend.
Wagemutig setzte er in dem Stück Striche, wenngleich eigentlich jeder einzelne Satz von Camus im Original seine Berechtigung hat. Dies führte anfänglich zu einer Unschärfe der Figur von Maria (Liliane Zillner), der Frau des späteren Opfers Jan. Es sind nicht nur ihre letzten Worte, die auch am Schluss des Abends stehen, die von eminenter Wichtigkeit sind. Denn schon in der Einleitung des Stückes spricht sie aus, was Camus selbst für das Wichtigste in einer rein durch den Existentialismus geprägten Welt hält. Die offene und ehrliche Kommunikation. Durch ihre Sprachlosigkeit, die sie in Titovs Inszenierung zu Beginn zeigt, erklärt sich ihre Motivation, ihrem Ehemann nachzuspionieren, nicht wirklich. Tatsächlich ist die Anfangsszene nicht die stärkste, denn auch der Wutausbruch von Jan gegen seine Frau wirkt aufgesetzt und unerklärlich. Nach einem etwas holprigen Einstieg nimmt die Inszenierung jedoch Fahrt auf.
Ein starkes Bühnenbild, das die Aussage des Autors unterstützt
Die äußerst clever gestaltete Bühne (Nathalie Lutz) verweist in ihren angedeuteten verschachtelten Räumen auf unergründliche Seelenzustände. Es gibt keinen einladenden Platz. Ein weißes WC steht mittig im Vordergrund. Das darüber angebrachte architektonische Element, das eine asymmetrische Kreuzform zeigt, bietet einen optischen Verweis auf den kommenden Leidensweg von Jan. Eine Duschtasse, ein Plattenspieler, Wände, von denen die ehemals weißen Tapeten abblättern, Lutz gestaltete eine durch und durch unwirtliche Umgebung. In ihr hausen die Mutter (Saskia Klar) und deren Tochter Martha (Marie-Luise Stockinger) und warten auf den nächsten betuchten Gast, um ihn zu töten und sein Geld zu stehlen. Stockinger verkörpert zu Beginn eine völlig von ihrer Mutter abhängige Tochter, die das Töten nicht aus Lustbefriedigung treibt, sondern um aus der Öde, in die sie eingeschlossen ist, zu entkommen. Ein Haus am Meer ist ihr Traum. Das WC, das sie manisch putzt, wird später noch eine große Rolle spielen. Martha siezt ihre Mutter, wodurch der emotionale Abstand der beiden Frauen klar ersichtlich wird. Gekleidet in einen grauen, verschlissenen Wollmantel wird die Armseligkeit ihres Daseins zusätzlich noch betont. Saskia Klar hat die schwerste Rolle in der Konstellation am Max Reinhardt Seminar zu spielen. Eine alte, verhärmte und verbitterte Frau, die vom Leben abgenutzt keine Kraft und Energie mehr aufbringen kann. Ihr bodenlanger Cape-Mantel und ihre strenge Frisur erinnern stark an Elisabeth Flickenschild, die, in der Regie von Ludwig Cremer, in den 60er Jahren in einem Fernsehspiel in diese Rolle schlüpfte. Ein wahrlich schweres Erbe das die junge Frau hier antreten muss.
Lennart Lemster gibt den alten Knecht, dessen schicksalsträchtige Handlungen oder besser gesagt Nicht-Handlungen Titov sehr schön herausarbeitet. Er ist es, der zu einer Zeit den Pass von Jan in die Hände bekommt, als es noch möglich wäre, damit aufzuklären, dass sich hier der Sohn und Bruder im Haus befindet. Aber wie in einer antiken Tragödie nimmt im Stück von Camus das Schicksal seinen Lauf. Jan (Silas Breiding) muss bald erkennen, dass die emotionale Leere, die in die Bewohner des Hauses eingezogen ist, eine Preisgabe seiner Identität sinnlos machen würde. Der Regisseur bedient sich eines szenischen Einschubes, bei dem Jan mit seiner Schwester einen mechanischen Geschlechtsakt vollzieht. Nichts daran lässt auch nur einen Funken Lust erkennen, vielmehr weint Jan während der Kopulation ohne Unterlass. Ein kühles „Danke“ seiner Schwester danach macht klar, dass Jan nicht einmal durch den allerletzten Schritt eines Inzests sich in das Herz seiner Schwester einbrennen konnte. Die Familienbande bestehen nicht mehr.
Die Musik von Bach als Subtext zur Gottesfrage
Die eindringlichste Szene, in der Jan betäubt am Boden liegend von seiner Mutter in die Arme genommen und von seiner Schwester dabei nackt ausgezogen wird, zeigt einmal mehr, worin Titovs Stärke besteht. Es ist das körperbetonte Spiel, in dem Nacktheit nicht zu einem voyeuristischen Akt verkommt. Vielmehr verweist er dadurch auf jenen ungeschützten Seinszustand in dem nichts mehr beschönigt werden kann, sondern das Innerste eines Menschen mit seinem Äußeren deckungsgleich wird. Der alte Knecht stimmt während dieses Bildes, das christliche Konnotationen einer Pietà hervorruft, „erbarme dich mein Gott“ aus der Matthäuspassion an, um schon nach wenigen Takten rüde von Martha gestoppt zu werden. „Es reicht“, schleudert sie ihm entgegen. Gott existiert für sie nicht. Während sich Martha daran macht, die Verankerung der Kloschüssel aufzuschrauben, um den Körper ihres Bruder darunter in den Kanal gleiten zu lassen, löst der alte Knecht wortlos einen Tapetenfetzen nach dem anderen von der Stirnwand. Darunter kommen sie zum Vorschein: Die Namen jener, die zuvor durch die Hand der beiden Frauen den Tod fanden. Rudi, Viktor, Christoph, Felix, Max, Wilhelm, Oliver… Es sind so viele, dass man sie nicht zählen kann.
Geschickt operiert Titov mit dieser Geste, die, so unspektakulär sie auch seinen mag, einen umso größeren Gänsehauteffekt erzeugt.
Das Ende – der Suizid von Mutter und Tochter, deren Befreiung aus dem Zustand der Knechtschaft in Armut nur kurz andauerte und durch einen Kostümwechsel noch unterstrichen wurde, wird drastisch dargestellt. Marie-Luise Stockinger brilliert in allen Facetten ihrer Tochterfigur. Egal ob unterwürfig, befreit oder, wie zum Schluss panisch. Zillner darf im Abgesang noch nach Gott rufen, der prompt in der Gestalt des alten Knechtes erscheint. „Sie haben mich gerufen“ – ist sein erster Satz, den er in diesem Stück spricht, um gleich darauf seine Hilfe zu verweigern. Mit Bachs Fuge „Ich ruf zu dir, Herr Jesus Christ“, in einer Klavierinterpretation, endet das Spiel. Titov schließt den Kreis um die Gottesfrage damit ganz unaufdringlich. Er evoziert mit dieser letzten die Idee auch, dass sich zumindest die Musik und damit im übertragenen Sinn die Kunst als möglicher, wenn nicht sogar einziger Lebenssinn erkennen lässt. Gewiss eine individuelle Interpretation, aber gerade dieses Angebot, seine eigene Erfahrung in das Gesehene einbringen zu können, macht einen guten Regisseur aus.