Das Grüne bitte dran lassen!

Alle, die schon einmal Karotten frisch am Marktstand kauften, kennen das Prozedere. Kurz nach der Auswahl des bevorzugten Bundes macht es meist auf eigenen Wunsch „ratsch“ und das Karottengrün ist ab. Danach landet es in einer Kiste zur Entsorgung oder – im idealeren Fall – bei glücklichen Stallhasen, für welche die zarten Triebe und Blätter eine Delikatesse sind. Zuhause dann erfahren die orange-roten Stangen eine weitere Behandlung: Sie werden geschält und die Schale – weggeworfen. Mit dieser Vorgangsweise soll jetzt Schluss sein! Schon seit Längerem beschäftigt sich der österreichische Spitzenkoch Johann Reisinger mit der totalen Verwertung von Gemüse, Obst, Fisch und Fleisch. Im Falle der Karotten heißt das bei ihm: Das Grün bleibt, bis man zuhause ist, dran und wird zu mannigfaltigen Gerichten verkocht. Die Karottenschalen werden nicht entsorgt, sondern auch verschiedenen, neuen Geschmacksbestimmungen zugeführt. Daraus lässt sich ein wunderbarer Karottenjus kochen, Rückstände davon kommen in getrocknetem Zustand in Süßspeisen und, und, und. Der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt.

Vom Blatt bis zur Wurzel

„Leaf to root“ nennt sich dieses Prinzip – zu Deutsch: Die komplette Verwertung eines Gemüses von den Blättern bis zur Wurzel. Dass das Hauptstück dazwischen auch verkocht oder anders zubereitet wird, versteht sich von selbst.

Leaf to Root 1

Leaf to Root (c) Sylvan Müller, AT Verlag/ www.at-verlag.ch

„Wir haben uns manchmal tatsächlich gefragt, was wir mit dem „Filetstück“ machen“, erzählte Esther Kern schmunzelnd bei einer Kochbuchpräsentation der besonderen Art. Sie ist Co-Autorin von „Leaf to Root“, für das sich Pascal Haag, seines Zeichens der erste Schweizer Veggie-Koch, insgesamt 70 Rezepte einfallen hat lassen. Mit Sylvan Müller, der die Gerichte fotografisch in Szene setzte, bildeten sie ein fulminantes Trio, das sich nicht nur auf die Suche nach Rezepten machte, sondern auch nach Menschen, welche sich dieser Art der Speisezubereitung verpflichtet fühlen. Und kamen dabei auf Johann Reisinger, einem Pionier in Sachen Rundumverwertung von Lebensmitteln. Er nahm sie mit auf seinen Acker in der Süd-Ost-Steiermark und zeigte ihnen, wie man Federkohl erntet und sogar gleich vor Ort zubereitet.

 

Tischdeko blatt wurzel

Tischdeko Blatt und Wurzel (c) European Cultural News

Das war für Kern, die auch für die Recherche zu dem Kochbuch zuständig war, ein großer Input. Von dieser „exotischen“ Demonstration nahm sie die Idee mit, dass schier jedes Teil einer Pflanze essbar ist, auch wenn es auf den ersten Blick gar nicht so aussieht und: Sie erfuhr von Reisinger, was das Wort „zuzeln“ bedeutet. Denn den dünnen, aber holzigen Wurzeln des Federkohls kann man genießerisch nur auf diese Weise zu Leibe rücken.

Das Buch vereint neben nachkochbaren Rezepten auch Interviews und Statements von anderen Expertinnen und Experten, die das Thema schon länger beschäftigt. Höchst praktisch: Es weist gleich mehrere, übersichtliche Gliederungen auf. Darin kann man sowohl nach einer bestimmten Gemüseart suchen, aber sich auch von den in den Registern Vor- Haupt- und Nachspeise, Frühstück, Eingemachtes etc. angeführten Gerichten inspirieren lassen.

Verwenden Sie schon Rotkohl- und Brokkolistrünke?

So gibt es zum Beispiel für die schmackhafte Verwertung von Rotkohlstrünken oder jenen von Brokkoli  Rezepte. Dass Kartoffelschalen ein leckeres Süppchen ergeben, dürfte für die meisten auch genauso neu sein wie die Tatsache, dass sich auch Kürbistriebe in einem Curry gut machen. Schon beim Schmökern fragt man sich, warum man bis jetzt noch nie auf die Idee gekommen ist, die Wurzeln von Frühlingszwiebeln zu kosten oder die ausgepulten Erbsenschalen einer neuen Verwendung zuzuführen.

S 77 Schupfnudeln Federkohl

Leaf to Root, Schupfnudeln, Federkohl (c) Sylvan Müller, AT Verlag/ www.at-verlag.ch

Rund 50 Gemüsesorten werden einzeln vorgestellt und die verwertbaren Teile näher betrachtet. Auf diese Weise muss man nicht erst selbst in die Experimentierphase gehen, sondern kann auch gleich seiner eigenen Kreativität freien Raum lassen, um zu verkochen oder auch roh zu verwenden, was bislang immer achtlos weggeworfen wurde. Das Gros der beschriebenen Gemüsearten wie Sellerie, Spargel oder Erbsen ist allen bekannt. Aber es kommen auch „Exoten“ vor, die nicht alle Tage zu finden sind – weder im Supermarkt, noch auf einem gut sortierten Bauernmarkt, wie der bereits zitierte Federkohl. „Eigentlich sollten alle, die gesund kochen möchten, einen eigenen Garten haben“ – so die Maxime von Johann Reisinger. Zum Glück tut es auch ein Bio-Gemüsebauer des Vertrauens, denn gerade bei der Verwertung von Blättern oder Wurzeln sollte tunlichst auf eine chemische Beilage, die man sonst vielleicht gratis mitgeliefert bekommt, verzichtet werden. Dass Regionales und Saisonales importierter Ware vorzuziehen ist, muss nicht weiter erklärt werden.

Bei der Buchpräsentation im Future Food Studio von Hanni Rützler stand Reisinger gemeinsam mit Haag hinter dem Herd, um Schmankerln und Kostproben anzubieten, die so garantiert noch nicht verkostet wurden. Kredenzt wurden unter anderen Köstlichkeiten eine klare Essenz von der Petersilienwurzel und ein Bulgursalat mit Karottengrün und Chili. Was man bei dieser Präsentation auch lernte: Es macht unglaublich Spaß, den Geschmack dieser bislang völlig negierten Gemüseteile zu entdecken und wer einmal von dieser Idee angefixt ist, kommt eigentlich gar nicht umhin, „Leaf to Root“ in seine eigene Kochbuchsammlung aufzunehmen.

Bio-Weine vom Feinsten

Das Tüpfelchen auf dem i steuerte der junge, steirische Bio-Winzer Gottfried Lamprecht bei. Seine Reben, auf uralten Stiftslagen um Vorau herum kultiviert, hat er erst im letzten Jahrzehnt zusammengetragen. Um die 100 Raritäten sind es bis jetzt, wobei er ungefähr 50 zu einem gemischten Satz verarbeitet, der seinesgleichen sucht. Unglaublich ausgewogen und mit schier unzählbaren Geschmacksnoten versehen, straft dieser Wein all jene Lügen, die glauben, dass eine Bioproduktion keinen Weingenuss hervorbringen kann, der auch allerhöchsten Ansprüchen genügt. Die Hälfte seiner Fässer sind aus Eichenholz aus dem eigenen Wald gemacht. Dafür arbeitet er mit einem der letzten Fassbinder in Österreich zusammen, der in der Südsteiermark zuhause ist. „Mehr Fässer kann ich leider nicht produzieren lassen, denn  ich muss ja auch auf die Nachhaltigkeit meines Waldes aufpassen“, erklärte der sympathische Winzer bei der Verkostung seiner Schätze. Einmal im Jahr hält er gemeinsam mit Reisinger ein sogenanntes Pur-Seminar ab. Wobei Pur keine Abkürzung ist, sondern tatsächlich das pure Geschmackserlebnis andeutet, das in Lamprechts altem Weinkeller geboten wird.

Reitbauer Reisinger Kern Haag

Heinz Reitbauer, Johann Reisinger, Esterh Kern, Pascal Haag (c) European Cultural News

Die Präsentation vermittelte neben jeder Menge Geschmack auch noch eine Reihe von Informationen aus der Gastrolandschaft selbst. Heinz Reitbauer vom Steirereck, erst vor wenigen Tagen im Rahmen der „World’s 50 best restaurants – Verleihung“ zum 10.besten Lokal weltweit erkoren, erzählte von seinem Kräutergarten auf dem Dach seines Lokales mitten in Wien. Zwischen 130 und 150 unterschiedliche Kräuter werden dort angebaut, ein Drittel davon landet dann tatsächlich auch auf den Tellern der Gäste. Dass in seinem Lokal der geschmackliche Aspekt bei der Verwendung ungewöhnlicher Gemüseteile im Vordergrund steht und dass es ökologisch nicht zielführend ist, alle Wurzeln von jedem Gemüse aus dem Boden zu entfernen, machte bei seinem Statement deutlich, wie breit und bunt die Meinungspalette zu diesem Thema  von den Kochgrößen unserer Zeit ist. Aber auch für ihn – wie für alle anderen – ist der Respekt vor dem Produkt ein hervorstechender Motivator, um möglichst viel davon zu verwerten.

Eines steht fest: Auch nur ein flüchtiger Blick in dieses Buch genügt, um beim nächsten Karotten-Einkauf den Gemüsehändler mit folgender Bitte zu verblüffen: „Das Grüne bitte dran lassen!“

„Leaf to Root“ ist eine prall gefüllte Ideen-Schatzkiste, die gänzlich neuartige, ungeahnte Genusserlebnisse verspricht. Das Buch ist im AT-Verlag erschienen, sowohl online als auch in allen gut sortierten Buchhandlungen erhältlich. Es kostet beim Verlag Euro 51,30 und hat stattliche 320 Seiten.

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