Nun im Kasino am Schwarzenbergplatz unter der Regie von Sara Ostertag uraufgeführt, bietet die dramatisierte Fassung eine gute Möglichkeit, sich mit diesem traurigen Geschichtskapitel erneut zu befassen.
Was Edelbauers Text von den anderen beiden unterscheidet, ist eine zusätzliche Ebene, die das ohnehin schon im Dunkel Verborgene noch diffuser und ungreifbarer erscheinen lässt. Die Protagonistin, Ruth Schwarz, die ins Heimatdorf ihrer Eltern fährt, um die an einem Unfall Verstorbenen zu beerdigen, muss Aufputsch- und Beruhigungsmittel nehmen. Die Arbeit an ihrer Habilitationsschrift über die „Blockuniversumstheorie“, in der sie dem Zeitphänomen auf die Spur kommen will, geht nicht wirklich voran, denn familiäre Zerwürfnisse, aber auch ihre Tablettensucht stellen Hindernisse dar, die sie schon über eine längere Zeitspanne hin lähmen und nicht produktiv arbeiten lassen. Dieses Szenario bietet Edelbauer die Möglichkeit, alles, was in der Geschichte erzählt wird, interpretatorisch auch im Fiktionalen zu belassen. Das Publikum darf das Geschehen, wenn es möchte, als eine Halluzination oder einen Wachtraum der Hauptprotagonistin determinieren.
In der kleinen Siedlung angekommen, die weder auf einer Landkarte noch in einem Gemeindeverzeichnis auftaucht, wird sie rasch mit einer Vergangenheit konfrontiert, die das auf den ersten Blick idyllische Dorf im wahrsten Sinne des Wortes zu verschlingen droht. Die Befremdung über eine dort praktizierte Parallelgesellschaft, die einer Gräfin ein uneingeschränktes Herrscherrecht zubilligt, verwandelt sich im Laufe ihres Aufenthaltes in eine Art Mitläufertum. Dass Ruth Schwarz – in diesem Kontext ein in mehrfacher Hinsicht sprechender Name – letztlich nicht als Aufdeckerin, sondern als Kollaborateurin agiert, resultiert aus ihrem Bedürfnis, ihren eigenen Grund und Boden zu schützen: das Haus ihrer Eltern und Großeltern, das sie in Gross-Einland bezogen hat. Finanziert wurde es im Zuge eines Verleihkontraktes mit einem Zehentabschlag ihres Einkommens durch die Gräfin.
Die Autorin erschuf ein Gedankenkonstrukt, das hilfreich ist, das Schweigen und Vertuschen von Straftaten über mehrere Generationen hin nachzuvollziehen. Niemand hat ein Interesse daran, den eigenen Grund und Boden, die eigene Lebensgrundlage durch das Aufdecken von historischen Geschehnissen in Gefahr zu bringen. Die finanziellen Abhängigkeiten, wie sie in dem Stück ebenfalls aufgezeigt werden, tragen ein Weiteres dazu bei.
Die Regie arbeitet mit einem höchst reduzierten Bühnenbild und Kostümen, die zum Teil „vom Himmel fallen.“ (Bühne und Kostüme Nanna Neudeck). Zwei große Trampoline fordern die Schauspielerinnen Suse Lichtenberger, Katharina Pichler und Michèle Rohrbach und ihren Kollegen Rainer Galke körperlich heraus. Teilen sich die Damen die Rolle von Ruth und schlüpfen immer wieder auch in andere, wie einen Maskenverkäufer, der als „Handlungsreisender“ in einem Todesoutfit durch die Lande reist, eine junge Bibliothekarin, die die Gemeindechronik unter Verschluss zu halten versucht, oder den Bürgermeister, mit dem buchstäblichen Brett vor dem Kopf, verkörpert Galke in der Rolle der Gräfin nicht nur eine vermeintlich historische Ordnung. Der ausladende, schwarze Reifrock und die grell rot lackierten Fingernägel, bedrohlich zugespitzt, erinnern auch an eine giftige Qualle, der man lieber aus dem Weg gehen möchte.
Die Trampoline versinnbildlichen nicht nur den bedrohlich einsickernden Boden von Gross-Einland. Man fühlt auch den dicken Teppichflor, der im Gräfinnen-Schloss jegliches Wort zu verschlucken imstande ist und darf dank ihrer auch an den beherzten Freudensprüngen von Ruth Anteil nehmen. In einem jener wenigen glücklichen Augenblicke, die sie fröhlich und voll Zuversicht, endlich eine Heimat gefunden zu haben, am Trampolin auskostet. Die schauspielerische Leistung des Ensembles angesichts der parallelen sportlichen Betätigung darf nicht nur deswegen als herausragend bezeichnet werden. Paul Plut unterstützt das Geschehen als Live-Musiker am Klavier, mit einem Akkordeon, aber auch einer Art umgebauten „Saugeige“ – wie sie in Ost-Österreich am Land bei dörflichen, musikalischen Einlagen nach wie vor zu finden ist. Dass sich das Setting in einer historischen Schieflage befindet, erfährt man schon während des Einlasses, bei welchem Strauß’sche Walzer und Märsche in einem verzerrten Blasmusikarrangement leise zu hören sind.
„Das flüssige Land“ ist nicht nur ein unlösbarer Kriminalfall mit einem dennoch voraussehbaren, tragischem Ausgang für all jene, welche die Augen vor dem Unrecht verschlossen halten. Einem Unrecht, das sie über Generationen hin bedroht und auch zukünftig bedrohen wird. Es behandelt auch die Suche einer jungen Frau nach ihrer Identität, ihrem Wunsch nach Heimat und der Erkenntnis, gegen eine schweigende Übermacht nicht allein ankämpfen zu können. Ihre vermeintlich hilfreiche Entdeckung – ein Füllmaterial, das in die Hohlräume unter den Ort gepumpt werden kann – wird sich ob seiner toxischen Zusammensetzung letztlich als Naturkiller erweisen. Dass es Ostertag gelingt, diese Substanz zu veranschaulichen und sogar im Gräfinnen-Kostüm verschwinden zu lassen, ist nur ein Beispiel von mehreren, welches die Lust der Regisseurin zeigt, das Theater als einen Ort zu begreifen, in dem das geschriebene Wort höchst kreativ und sinnlich zugleich veranschaulicht werden kann. Mit dieser Arbeit lieferte sie einen gelungenen Einstand am Burgtheater ab.
Weitere Vorstellungen: Das flüssige Land