Mit „ihr“ im Rücken fühlt sich Marlene beschützt und wohl und posiert kurzerhand für das Publikum vor ihrer Großmutter, die sie in ihrer abgebildeten Pose zu imitieren versucht. Die Rede ist von jenem Bild, auf dem eine nackte Frau mit wehendem Haar, an einen Tisch gelehnt, etwas verklärt die Betrachtenden anblickt. Das Original dieses Bildes hing einst im Münchner „Führerbau“ und stammt von Adolf Ziegler, alias dem „Pinselführer“ oder dem „Meister des deutschen Schamhaares“ wie er im Volksmund verächtlich genannt wurde. Ziegler war, trotz seiner minderen, künstlerischen Begabung, kometenhaft zu Hitlers oberstem Kunstberater aufgestiegen, stand der Reichskammer der Bildenden Künste vor und war maßgeblich für die Beschlagnahmung tausender Bilder verantwortlich, die auszugsweise in der Wanderschau „Entartete Kunst“ gezeigt wurden.
Man muss die Genese des Bildes nicht unbedingt wissen, sie ist aber ein direkter Hinweis auf die familiäre Herkunft von Marlene (Martina Zinner) und Dietrich (Lorenz Kabas) – einem Geschwisterpaar in den Fünfzigern, ausgestattet mit einer sprechenden Namenskombination. Gemeinsam mit ihrer Schwägerin Anne Claire (Juliette Eröd) und der Haushaltshilfe Veronika (fulminantest von Monika Klengel dargestellt) leben sie in einer Villa, die sie von ihren Eltern vererbt bekommen haben.
Eine Texassemblage und eine halbe Geschichte
Der Text, den sie von sich geben, ist eine Assemblage anhand von „Gehörtem Gelesenem und Gesehenem“, wie aus dem Programmblatt zu entnehmen ist. Ed. Hauswirth, für die Regie verantwortlich, fügte alles zu einer halb erzählten Geschichte zusammen. Halb erzählt, weil wesentliche Teile davon nur angedeutet, aber nicht ausformuliert wurden. Wie zum Beispiel die Geschichte von Marlenes und Dietrichs Bruder, über den nicht gesprochen wird und wenn, dann nur von seiner Frau. Diese bezichtigt Dietrich, ihren Schwager, mehrfach, ihr in diesem Zusammenhang etwas Schlimmes angetan zu haben. Und dann gibt es noch eine geheimnisvolle Lade, die Dietrich an einer Stelle sogar coram publico verschraubt, um nur ja ihren Inhalt nicht preiszugeben.
Das Schicksal meint es im Moment mit der Familie samt Anhang nicht wirklich gut. Der „Bub“ (Saladin Dellers), Sohn von Dietrich, ist Anführer einer identitären Gruppe und verbreitet seine Botschaften per YouTube im Netz. Seiner Familie missfällt dabei lediglich sein schlampiges Outfit, nicht aber seine nationalistische Propaganda, die er darin verbreitet. Dietrich, ein Polizeijurist, ist der einzige, der Geld einspielt, aber aufgrund einer ebenfalls nicht näher erläuterten Begebenheit suspendiert wird. Kollegen hätte er decken wollen, die ihm dann in den Rücken fielen ist alles, was man darüber erfährt.
Effekthascherische Schenkelklopfer
Es ist nicht die humpelnde Geschichte, die an diesem Abend fesselt. Vielmehr lässt sie viele Fragen offen. Es ist auch nicht eine geschliffene, psychologisch nachvollziehbare Figurenführung, mit der Ed. Hauswirth beeindruckt. Im Gegenteil, einige Wendungen bleiben psychologisch gesehen unerklärlich. Vielmehr sind es zum Teil relativ seichte Gags – wie in jener Szene, in welcher alle mit vollem Mund, in den sie sich ein „Weizer Weidelamm“ stopfen – ihre philosophischen Ergüsse über die Biolandwirtschaft und die Verwerflichkeit von Dönerfleisch zum Besten geben. Zum Glück mit Übertitelung, die das Gesagte wenigstens so erklärbar macht. Auch scheint es vorauseilender Humorsgehorsam zu sein, der das Publikum gleich zu Beginn bei der Vorstellung der Frauen lachen lässt, die an sich noch nicht wirklich humorig ist.
Eingefleischte TIB-lerinnen und TIB-ler sind offenbar leicht zu belustigen. Vielmehr sind es herausragende, schauspielerische Leistungen wie jene von Monika Klengel, die köstlichst zwischen der Osttiroler Haushälterin und ihrer eigenen Persönlichkeit als Schauspielerin hin und her switcht, die dem Abend so manches Highlight aufsetzen. Wie auch Lorenz Kabas in der Rolle des Dietrich, bei dem erst in seiner Verzweiflung eine Führungsattitüde sichtbar wird, mit der er seine Schwägerin des Hauses verweist, um die frei gewordene Wohnung gewinnbringend zu vermieten. Trotz seiner Introvertiertheit kann er den tiefen Kummer nicht verbergen, der in ihm sitzt und an ihm nagt. Dass seine physische Erscheinung dies noch zusätzlich unterstützt, zeigt von einer gekonnten Besetzung.
Zwei packende, gelungene Szenen
Dramaturgisch jedoch sind es zwei Szenen, die den Kauf einer Theaterkarte lohnen. In einer versinken alle Beteiligten in tiefen Schlaf, in dem sie nacheinander zu reden beginnen. Dabei kommen alle jene Verdrängungen zum Vorschein, in denen deutlich wird, was die Protagonistinnen und Protagonisten wirklich zutiefst bewegt. Ist es bei Anne Claire der Mangel an körperlicher Nähe und Sex sowie Machtfantasien in der Rolle von Le Pen, outet sich Marlene als Mensch, der sich am liebsten mit Natodraht bekleiden würde, um unerwünschte Zuwanderer von sich abzuhalten. Dietrich dagegen fantasiert von seinem Sohn, zu dem er nie eine wirkliche Nähe aufbauen konnte. Nur die Haushälterin darf in wachem Zustand über Flüchtlinge herziehen und im Gegensatz dazu aber auch Krokodilstränen über verunglückte Schweine und Hühner vergießen. Sie ist die einzige, die sich kein Blatt vor den Mund nimmt und ihre menschenverachtenden, faschistoiden Ansichten freimütig von sich gibt und dabei von ihrer dienstgebenden Familie nicht gezügelt wird. „Sie ist halt eine von uns“, weiß Marlene dazu an einer Stelle zustimmend beizupflichten.
Die Ausländerfeindlichkeit und der rechte Bodensatz, der sich derzeit in Europa ständig weiter verbreitet – diese Themen sind in der Regie von Hauswirth – im subkutanen Persönlichkeitsbereich der Figuren angesiedelt. So unterdrückt, dass es wilder Träume bedarf, um sie an die Oberfläche zu spülen. Schön wäre es, wenn unsere Gesellschaft noch in diesem Stadium stecken würde.
In einer zweiten Schlüsselszene geht das Ensemble der Frage nach, ob der Tod von Jörg Haider ein Unfall oder ein Selbstmord war. Extrem witzig, wie dabei eine Aufstellung „absolute Klarheit“ Licht ins Dunkel dieses Vorfalls bringt. Sie zeigt auch, wie sehr Praktiken wie diese, einst entwickelt von dem höchst faschistoid agierenden Familientherapeuten Bert Hellinger, mittlerweile inmitten der Gesellschaft angekommen sind. Die menschenverachtenden Aktionen des „Erfinders“ dieser heute bereits gängigen Praxis kennen jedoch nur die wenigsten Menschen.
Pro und kontra
Das Resümee für dieses Stück fällt höchst gespalten aus. Ed. Hauswirth verarbeitete mit dem Ensemble ein brandaktuelles Thema. Die Figurenentwicklung darin lässt jedoch zu wünschen übrig. Und auch die mittlerweile in so gut wie jedem Schauspiel bemühte Nabelschau des eigenen Wirkens am Theater, fehlt darin nicht. Vieles, was jedoch Lacher provoziert, ist extrem effekthascherisch angelegt. Genial hingegen die Schonungslosigkeit, mit welcher unserer Gesellschaft ein Spiegel vorgehalten wird, in den viele lieber nicht blicken wollen. Pro und kontra halten sich bei dieser Inszenierung unserer Meinung nach die Waage. Sich selbst eine Meinung bilden hilft in diesem Fall weiter.