Zum Angreifen nahe
Von Michaela Preiner
Die Kürzung und Auswahl der Texte zählt sicher mit zu den größten Herausforderungen dieser Inszenierung. Eine weitere, wie man das Publikum dabei an der Stange halten kann. Alleine schon, wenn es darum geht, die Väter der 12 Stämme der Israeliten vorzustellen.
Hesse traf eine sehr kluge Auswahl. Er entschied sich, den Beginn des Alten Testamentes etwas ausführlicher zu behandeln und wählte in weiterer Folge Textstellen aus, die zumindest einen kleinen Einblick in die thematische Vielfalt des Sprachmonumentes geben. Dabei gibt er Geschichten besonderen Raum, die in ihrer psychologischen Nachvollziehbarkeit bis heute Gültigkeit haben. Bruderzwiste, die Eifersucht zwischen Schwestern oder Frauen und ihren Nebenbuhlerinnen, Machtexzesse und Schicksalsprüfungen sind heute so aktuell wie vor Tausenden von Jahren.
Kain und Abel, die, sich gegenseitig bekämpfend, an Seilen von der Decke hängen, machen den Anfang. Kurz darauf wird das Publikum sanft auf der Drehbühne zusammengepfercht, um sich plötzlich dicht an dicht wie in der Arche Noah zu fühlen, aus der es kein vorzeitiges Fliehen gab. Beim Turmbau zu Babel spricht das Ensemble in einer Kakophonie in vielen, verschiedenen Sprachen ganz nah an einzelnen Besucherinnen und Besuchern, die sich erst kurz zuvor einen eigenen Sitzplatz auf Pappkartonhockern auf der Bühne und den überbauten Parkettplätzen gesucht hatten. Auch Abraham und seiner Frau Sarah sind ein eigenes Kapitel gewidmet. Diese meint launig, als sie von ihrer nicht mehr für möglich gehaltenen Schwangerschaft erfährt, sie würde das Kind am liebsten nach Stephan Mannteuffel benennen. Ein humoriger Seitenverweis auf den Bühnen- und Kostümbildner, der nicht nur für rasche, visuelle Schwangerschaftsverwandlungen sorgte. Sein intelligenter Bühnenaufbau lässt das Schauspielhaus gänzlich anders erscheinen als sonst und bietet eine außergewöhnliche Raumerfahrung, die noch dazu einem ständigen Wechsel unterliegt.
Eindringlich gestaltet Julia Gräfner ihren Mose mit Rauschebart und gestrickter Wintermütze. Als Penner mit vollem Plastiksack, in dem sein ganzes Hab und Gut verstaut scheint, stottert er sich durch Gottes Anweisungen, anfangs sich beklagend, dass die Akzeptanz unter seinem Volk aufgrund seiner „schweren Zunge“ nur hart zu erkämpfen ist. Es ist eine jener Szenen, in der die biblischen Gestalten richtig angreifbar werden. Der Kampf des Mannes für sein geknechtetes Volk, der die 10 Gebote am Berg Sinai von Gott erhält, bekommt in der direkten Auseinandersetzung mit dem unbarmherzigen Pharao eine dramatische Nachvollziehbarkeit und unversehens verwandelt sich das Publikum höchst raffiniert in seine Israeliten, die er letztlich durch das geteilte Meer aus der Knechtschaft Ägyptens ins gelobte Land bringen kann.
Subtil wird dabei mit Videoszenen die Situation von heutigen Flüchtlingen aus dem mittleren Osten an die großen Leinwände projiziert, die den gesamten Theaterraum verkleiden. Gelesen werden kann diese Fluchtbewegung sowohl als immer wiederkehrendes, menschliches Kontinuum von Migrationsströmen, aber auch als sündhafte Tat jener, die aktuell hier nicht helfend eingreifen.
Florian Köhler darf als König David in die Rolle eines Popstars schlüpfen. In dem rockig vertonten Psalm 23 „The Lord is my shephard“ und dem Psalm 69 „Save me o God“ bewältigt er nicht nur griffsicher seine Gitarrenriffs, sondern begeistert mit seiner kräftigen Stimme auch seine „Fans“, die sich unter das Publikum gemischt haben.
Bojan Vuletic steuert von Beginn an eine Reihe von atmosphärischen Kompositionen bei, die sich zwischen Atonalität und Worldmusic, beginnend von Balkanklängen bis hin zu Kletzmersound, bewegen. Die kleine Live-Combo wechselt dabei, wie auch das Publikum und das Ensemble, immer wieder seine Plätze. Herrscht über lange Strecken bei den ausgewählten Textpassagen das Recht des Stärkeren vor, genauso wie ein scheinbar unverrückbares Patriarchat, so endet der Abend höchst versöhnlich. Mit Zitaten aus dem Hohelied, welches die Liebe in vielen Schattierungen besingt. Die verführerischen Künste der Schauspielerinnen und Schauspieler, die sie dabei zeigen dürfen, schaffen noch einmal eine ganz spezielle, innige Verbindung zum Publikum.
Volker Hesse gelingt es, Hiob, Abraham, David und unglaubliche rund weitere 50 Personen des Alten Testaments aus ihren verblassten, schwarz-weißen Lettern der Vorstellungswelt des westlichen Religions- und Kulturkanons zu erlösen und zu angreifbaren Menschen aus Fleisch und Blut zu machen. Im Schauspielhaus in Graz werden sie zu Individuen mit Wünschen, Sehnsüchten und Begierden, sind aber auch erfüllt mit Hass, Neid oder tiefer Liebe. Das Gottvertrauen und die Gottesfurcht, mit welchen einige von ihnen ausgestattet sind, bilden dabei gut erkennbar jenes Mysterium, welches das Alte Testament letztlich von einer Kompilation von Romanepisoden unterscheidet. Zugleich stattet der Regisseur das Spiel mit partizipativen, zeitgenössischen Theatermitteln aus, die dem Publikum auch eine höchstmögliche Transparenz des Bühnengeschehens in alle seiner Komplexität vor Augen führt.
Gut möglich, dass sich das Alte Testament nach einem Besuch der Vorstellung zum Nachlesen auf den Nachtkästchen einiger findet, die sich noch nie mit diesem beschäftigt haben, oder ihr Wissen wieder auffrischen wollen.
Lang anhaltender Applaus für das extrem motivierte und zugleich auch extrem geforderte Ensemble: Gerhard Balluch, Oliver Chomik, Mercy Dorcas Otieno, Daniel Doujenis, Pascal Goffin, Julia Gräfner, Benedikt Greiner, Maximiliane Haß, Susanne Konstanze Weber (altern. Lena Kalisch), Florian Köhler, Christiane Roßbach, Werner Strenger und Anna Szandtner.
Weitere Termine auf der Homepage des Schauspielhauses Graz.