„Chronik der laufenden Entgleisungen Austria Revisited“ hatte im Schauspielhaus Graz Premiere. Es ist ein Auftragswerk in Koproduktion mit dem Schauspielhaus Wien sowie dem Steirischen Herbst. Diese Zusammenarbeit lässt erahnen, dass sich die beteiligten Institutionen sicher in ihrer Wahl waren. Sicher, einen dramatischen Text zu bekommen, der hohen künstlerischen Ansprüchen genügen und unsere Zeit in vielen Facetten widerspiegeln würde.
Regie führte Marie Bues, bekannt für Inszenierungen zeitgenössischer Autorinnen und Autoren. Sie verteilte den Text von Köck auf ein sechsköpfiges Ensemble und stellte diesem die Musikerin, Performerin und Multimediakünstlerin Lila-Zoé Krauß zur Seite. Diese unterlegt den Text nicht nur rhythmisch, sondern steuert auch Textpassagen und ganze Songs bei. Ihr Auftritt ist im wahrsten Sinne des Wortes performativ und mehr als nur der einer Musikerin, die einen Theatersound beisteuert. Als one-woman-orchestra, über dem Ensemble thronend, erweckt sie den Eindruck, die Fäden des Geschehens fest in der Hand zu haben und musikalisch grandios zu leiten. Der Tänzer und Choreograf Mason Manning bereichert das Geschehen mit abwechslungsreichen Choreografien, welche die Auf- und Abgänge der Vortragenden theatralisch-elegant begleiteten. Mit der Kostümbildnerin Amit Epstein und Heike Mondschein, verantwortlich für das Bühnenbild, fand sich somit ein geniales Team zusammen, dessen Output extrem gelungen ist.
Gekleidet in roten Adidas-Trainingsanzügen, die im Laufe der Vorstellung mit anderen Jacken kombiniert werden, wird der Text sowohl in Monologen als auch in chorischen Passagen vorgetragen. Ein verschiebbarer Stahlquader auf Rollen zeigt sich anfänglich von Stoff-Bahnen ummantelt, auf welchen das Gemälde „Die Gesandten“ von Hans Holbein dem Jüngeren zu erkennen ist. Das Kunstwerk schrieb Geschichte, weil man erst auf den zweiten Blick eine Darstellung dechiffrieren kann, die sich nur von einem bestimmten Blickwinkel aus gesehen als Totenkopf entpuppt. Köck referenziert an einer Stelle in seinem Text darauf und sieht in ihm eine Metapher für eine historische Blaupause, die immer und immer wieder über gesellschaftliche Strömungen gelegt wird. Strömungen, welche sich jedes Mal wieder als unheilvoll erwiesen haben und offenbar für viele schwer oder gar nicht zu erkennen sind.
Der erste Teil des Abends besteht aus einer Aufzählung von politischen Ereignissen des vergangenen Jahres. Er beginnt mit der Falschauszählung der Stimmen der SPÖ zur Wahl ihres Parteivorsitzenden, beleuchtet das Verbieten von Genderzeichen in niederösterreichischen Behörden und benennt den „Herbertkomplex“, nach dem Parteivorsitzenden der FPÖ: ein gesellschaftliches Amalgam, welches aus Ausländerhass, Größenwahn und rechtsgerichteter Allmachtsfantasien besteht. Wie sehr der Rechtsruck in Österreich sich schon seit Jahren immer weiter ausgebreitet und sich gänzlich neue Gesellschaftsschichten erobert hat, kommt zur Sprache. Genauso wie die Tatsache, dass in Österreich die wirtschaftlichen Profiteure, ehemalige Kriegsgewinnler, ungebrochen weiter agierten, ohne einen Aufschrei oder gar Widerstand zu erzeugen. Gaston Glock und Heidi Horten, aber auch der bis jetzt nicht aufgearbeitete Kolonialismus, dessen Eroberungsartefakte das KHM und das NHM mit Glanzstücken füllen, fügt der Autor an dieser Stelle beobachtend hinzu.
Die schrecklichen Ereignisse des 7. Oktober, mit dem Überfall der Hamas auf Israel, bedeuten eine erste Zäsur in Köcks chronischer Aufzählung. Hier stockt der Schreibfluss, hier endet für ihn ein Zeitmaß, ja kehrt sich sogar um. Die Zeit läuft nicht mehr vorwärts, sondern zurück.
Der vielschichtige, tiefgründige, gesellschaftsrelevante, aber auch mit persönlichem Befinden ausgestattete Text lässt Thomas Köck in einer Nachfolge von Thomas Bernhard erscheinen. Der Unterschied besteht jedoch darin, dass Köck keine Schimpftiraden loslässt, um Missstände aufzuzeigen. Vielmehr nimmt er nüchtern, mit einem sprachlichen Seziermesser die österreichische Seele auseinander. Eine Seele, die groß ist im Verdrängen und nach einer Veränderung lechzt, ohne zu erkennen, dass diese Veränderung in einen unumkehrbaren Zustand führen wird.
Nicht nur österreichische Phänomene, sondern auch das Erstarken der KI ist ein Thema und mündet letztlich in einem dystopischen Szenario, in welchem man nicht mehr zwischen politischer Machtausübung und solcher, die nur mehr von der KI diktiert wird, unterscheiden kann. Niemand, der dieses Stück gesehen hat, wird einmal sagen können: Wir haben nicht gewusst, was war und wir haben nicht gewusst, was sein wird. Zu stringent werden historische Vergleiche herangezogen, wird aufgedeckt, wie sehr eine Wiederholung der bedrohlichen europäischen Geschichte im Raum steht.
Köck, das wird deutlich, ist sich bewusst, in welch unheilvollen Zeiten sich Österreich, aber auch der Rest der Welt, im Moment befindet. Aber er bietet nicht, vielmehr er kann logischerweise keinen Ausweg anbieten. Die Sehnsucht, sich endlich wieder gemeinsam im Caféhaus zu treffen und leidenschaftlich zu diskutieren, dieses Gefühl teilt er mit vielen Menschen in Österreich. Ein Wunsch, der nichts anderes ist, als der Wille, der Realität zu entkommen und sie beiseitezuschieben, die Überforderung abzuschütteln, die ihn sowie einen Großteil nicht nur seiner Generation erfasst hat. Dass die allerletzte Frage an das Publikum „will sonst noch jemand etwas sagen“ eine rein rhetorische bleibt, evoziert ein beredtes Schweigen im Publikum.
„Chronik der laufenden Entgleisungen Austria Revisited“ bietet einen Theaterabend der Rückschau, der Vorschau und der Introspektion – künstlerisch großartig umgesetzt.
Auf der Bühne: Tala Al-Deen, Otiti Engelhardt, Kaspar Locher, Sophia Löffler, Karola Niederhuber, Mervan Ürkmez.