Charlie Chaplin war zu Gast in Straßburg und eroberte die Herzen des Konzertpublikums im Sturm. Möglich machte das die Aufführung seines Filmes „Lichter der Großstadt“ aus dem Jahre 1931, die vom OPS (Orchestre Philharmonique de Strasbourg) unter der Leitung von Timothy Brock begleitet wurde.
Der große Stummfilmschauspieler Charlie Chaplin, bekannt durch seinen unvergesslichen Watschelgang, seine Melone, seine zu enge Weste, zu weite Hose, seine zu großen Schuhe und seinem hölzernen Spazierstock, schuf mit dem Film „City lights“, wie er im Originaltitel heißt, eine zu Herzen gehende Liebeskomödie, der es an Szenen voller Situationskomik und Slapstick nicht mangelt. Der von Chaplin dargestellte Landstreicher hilft einem blinden Blumenmädchen durch Aufbietung all seiner Kräfte finanziell aus und muss dafür jedoch allerlei Dienste verrichten, die mit einer Unmenge an Komplikationen verbunden sind. In einer der zwerchfellerschütterndsten Szenen schwingt sich der schmächtige Chaplin in den Boxring, um gegen einen übermächtigen Gegner zu kämpfen. Dort verbirgt er sich anfangs jedoch so geschickt hinter dem Ringrichter, dass ihm allerlei Treffer gelingen, auf die sein Rivale nicht gefasst war. Das voraussehbare Ende trifft trotz dieser Lachmuskel stärkenden Erfolge dennoch ein – Chaplin wird k.o. aus dem Boxring getragen. Über lange Strecken gleicht der Kampf einem synchronen Tanz der beiden Sparringpartner und dem Ringrichter.
Die bezaubernde, wahrhaft illustrierende Musikuntermalung schuf Charlie Chaplin selbst, obwohl er Noten weder lesen noch schreiben konnte. Er spielte Geige und Klavier, aber nur nach dem Gehör. In den meisten Fällen sang er das, was ihm kompositorisch durch den Kopf ging, einem ihm zur Seite stehenden notenkundigen Menschen vor, der diese Einfälle sofort zu Papier brachte. In einem zweiten Schritt wiederum wurde die Musik in einen Orchestersatz geschrieben um danach auf Walzen aufgenommen zu werden. Diese, nur wenige Minuten langen Stücke, eine längere Aufnahmezeit war damals technisch noch nicht möglich, wurde schließlich auf die Filmspur übertragen. In größeren Städten jedoch wurde die Live-Begleitung mit Orchester gegenüber der schlechten Tonqualität von der Spur bevorzugt.
Schon wenige Jahre nach „City lights“ setzte sich die neue Technik des Tonfilms in den Kinos durch, und nicht nur die Stummfilme selbst, sondern vor allem deren musikalische Untermalung geriet in Vergessenheit. Im Jahr 2000 beauftragte die Familie Chaplin den amerikanischen Komponisten Timothy Brock mit der Restaurierung alter Filmpartituren. Insgesamt 11 Chaplinfilmen hat Brock bisher wieder zu neuem – altem Klang verholfen, darunter so bekannte Werke wie „The gold rush“ oder „Modern Times“. Die Restaurierung einer Partitur erstreckt sich meist über mehrere Monate, denn Chaplin ließ alles archivieren, was jemals eingespielt wurde, egal ob diese „takes“ dann verwendet wurden, oder nicht. Seine Kreativität kannte keine zeitlichen und räumlichen Grenzen und so wurden auch auf Bierdeckeln oder Wäschereirechnungen seine spontanen, musikalischen Einfälle notiert. Alle vorhandenen Walzen und notierten Unterlagen zu sichten und auf deren Brauchbarkeit hin zu überprüfen, oblag und obliegt noch immer dem amerikanischen Komponisten Brock, der im Fall von „City lights“ ein überzeugendes Resultat abgeliefert hat. Seine Leistung besteht in einer von Anfang bis Ende durchgehenden, schlüssigen „Satzfolge“ mit schönen Übergängen, in der spanische Rhythmen genauso auftauchen wie das liebliche Motiv des Blumenmädchens, von Philippe Lindecker auf seiner Geige so singend vorgetragen, dass man die Melodie nicht mehr aus den Ohren bekam. Dieses Stück ist das einzige, das nicht von Chaplin stammt, sondern aus der Feder des Spaniers José Padilla. Es gefiel Charlie Chaplin so ausnehmend gut, dass er sich selbst kein besseres Thema für das Mädchen vorstellen konnte und übernahm es von seinem Kollegen, dessen Komposition „Valencia“ aus dem Jahr 1925 zur Hymne dieser spanischen Provinz avancierte und für das er Weltruhm erlangte.
Die größte Faszination dieser Vorführungen besteht jedoch in der Reaktion des Publikums, die sich von der Anfangszeit des Stummfilms bis heute nicht geändert haben dürfte. Je nach humoristischer Intensität wird geschmunzelt oder lauthals gelacht, was die Stimmbänder hergeben, ganz ohne Rücksicht auf das weiter spielende Orchester. Diese Fröhlichkeit überträgt sich ansteckend auf die sonst so ernst agierenden Orchestermusikerinnen und –musiker und schafft so etwas wie einen „common-sense“, also eine Übereinkunft, dass man sich an diesem Abend zusammengefunden hat, um vor allem eins zu haben: Spaß. Wer hätte das für möglich gehalten, dass Lachen und Fröhlichkeit im Mittelpunkt eines Orchesterkonzertes stehen können!
Natürlich sind diese Gefühle vor allem Charlie Chaplin geschuldet, der jedoch nicht nur als Komiker brilliert, sondern vor allem dann berührt, wenn er in seinen zerrissenen Hosen zu einem lebensmüden Millionär, wie es im Untertitel zu lesen ist, sagt: „Seien Sie tapfer und blicken Sie dem Leben ins Gesicht, so wie ich es tue!“ Mit diesem kleinen, aber so aussagekräftigen Satz zeigt er, mit welcher Bravour man auch in der allergrößten Not überleben kann – eine Szene, die wahrscheinlich vielen Menschen bis heute selbst viel Mut zugesprochen hat.
Die „konzertante“ Aufführung der „Lichter einer Großstadt“ brachte über den besonderen Kunstgenuss noch mehrere Aspekte ganz deutlich zum Vorschein. Erstens scheint das Medium Stummfilm gerade wieder aufzuerstehen. Und das, trotz einer bis in die letzten Winkel dieser Erde medialisierten Umwelt. Tomothy Brock ist rund um den Globus mit solchen Veranstaltungen im Einsatz – Tendenz steigend. Zweitens sind die Aussagen, die Chaplin in seinen Filmen getroffen hat, vor allem wegen seiner persönlichen Interpretation zeitlos. Sie weisen darauf hin, dass Humor, Bescheidenheit und Hilfsbereitschaft Charaktereigenschaften sind, die unsere Welt ein Stückchen besser machen und von denen wir nicht genug haben können. Drittens ist die Kombination einer Live-Aufführung mit Orchester auch für ein Publikum interessant, das Konzertsäle normalerweise meidet. Mit einem dementsprechend weiterführenden Angebot seitens der Konzertveranstalter könnte es sogar gelingen, verstärkt junge Menschen für die Welt der Orchestermusik zu begeistern. Der frenetische Applaus des ausgesprochen jungen Publikums nach der Aufführung in Straßburg war ein beredtes Zeichen dafür.
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