Vom Feenland in den atomaren Supergau
Für das Publikum gestaltete sich die Raumsituation jedoch anders als gewohnt. Das Parkett war in seiner Mitte von den Sesselreihen befreit. Auf dem Konzertpodium und entlang der seitlichen Sitzreihen waren insgesamt 50 Klaviere und ein Cembalo sowie das Klangforum mit seinen Instrumenten verteilt. Auf diese Weise war es möglich, während der Aufführung im Saal seinen Platz zu wechseln, was jedoch aufgrund der vielen Menschen nur wenige tatsächlich auch taten. Zu dicht stand man etwas über eine Stunde lang nebeneinander, entschädigt jedoch durch die Musik, die als Programm-Musik bezeichnet werden kann.
Im Vorfeld schon wurden einzelne Teile des Klanggeschehens analysiert und besprochen, wurde dem Werk eine breite Palette an unterschiedlichen klanglichen Ausdrucksmitteln attestiert. Aus diesem Grund soll hier der Fokus auf andere Ebenen der Komposition mit dem Titel „11.000 Saiten“ gelegt werden.
Zuallererst verblüfft die Tatsache, dass Haas mit einem Klangapparat arbeitet, der sehr ungewöhnlich ist. Neben den herkömmlichen Streichern und Bläsern, sowie Percussion-Instrumenten verlangt er ein Cembalo und 50 Klaviere, die von der Firma Hailun zur Verfügung gestellt wurden. Auf deren Homepage liest man, dass das seit 20 Jahren bestehende chinesische Unternehmen Klaviere mit hohem Anspruch zu günstigen Preisen anbieten möchte und weiter, dass für die technische Entwicklung das Fachwissen des Wiener Klavierbauers Veletzky herangezogen wurde. Mit diesem Konzert hat sich der Bekanntheitsgrad von Hailun nicht nur bei jenen 50 Studierenden der MDW gesteigert, die auf den Klavieren spielten. Auch jener Teil des Publikums, der im Parterre vor den Instrumenten zu stehen kam, dürfte das erste Mal den Firmennamen auf den Instrumenten gelesen haben.
Haas lässt, zur großen Verblüffung, das Stück mit einigen Takten Cembalo-Musik beginnen. Die Orchesterbegleitung, die rasch einsetzt, verfremdet das Geschehen ein wenig und holt es aus einem barocken Umfeld in die Gegenwart. Kaum meint man, im nächsten Moment einem Feen- und Zauberspiel beizuwohnen, schon wird dieser Eindruck durch einen großen, symphonischen Schlussakkord abgelöst. Einem Schlussakkord, der kurioserweise ganz zu Beginn des Werkes steht. Ihm folgen Klänge, die an die Zündung einer Rakete denken lassen, ein Hörerlebnis, weitab von einem historischen Vorbild. Ab diesem Zeitpunkt beginnt ein sich wiederholendes, zugleich jedoch ständig wandelndes Kompositionsmuster, das durch Tension und Entspannung gekennzeichnet ist. Fast hat es den Anschein, als ob das klangliche Geschehen etwas Organisches wiedergibt, dessen Atmung wesentlich breiter und länger angelegt ist als jene von uns Menschen. Tatsächlich arbeitet Haas mit extrem assoziativem Material. Einen Großteil davon widmet er der Wiedergabe von technischen Klangereignissen. Dazu gehören, wie schon beschrieben, das Zünden einer Rakete oder das Aufheulen von Motoren, bei welchen man sich gut den Himmel voll bedrohlich wirkender Propeller-Flugzeuge vorstellen kann. Sobald ein harmonischer Wohlklang auftaucht, wird er bald darauf dissonant abgestoppt. Immer wieder sind es die Pauken, die ein Klanggeschehen abrupt beenden. Nervöse Passagen, die Unheil verkündend wahrgenommen werden können, werden durch dunkel gefärbte Akkorde, dunkles Blech und ein Zittern in den Klavierstimmen erzeugt. Lange begleitet dabei ein tiefer Ton der Bläser die Erzählung, die sich, wie in guten Theater- oder Filmstücken, erst am Ende des Geschehens zu einem großen Ganzen fügt.
Haas legt seiner Komposition augenscheinlich eine Dramaturgie zugrunde, die als knappe Erzählung der Menschheitsgeschichte aufgefasst werden kann. Dabei beginnt er im Barock und wandert anschließend in wenigen Takten bis herauf in unsere Zeit. Immer wieder hört man zwischendurch die Klaviere, aber auch einzelne andere Instrumente „Musik machen“ – kleine Abfolgen von Tönen zu spielen, Akkorde zu formen oder auch ausformulierte Arpeggien anzuschlagen, ganz so, wie es Musikerinnen und Musiker rund um den Erdball tagtäglich tun. Ihnen entgegengesetzt bekommt die Technik ebenfalls einen hörbaren Raum. Die für Haas so typischen Klangschrauben, die sich permanent aufwärts bewegen, machen dennoch rasch klar, dass die Aufwärtsspirale nicht unendlich fortsetzbar ist. Mit ihnen verbindet man keine erbaulichen Raumflüge mehr, denen man rettend beiwohnen kann. Ihr wahrer Gehalt bleibt diffus und zeigt sich erst ein wenig später, als das Klangmaterial umgedreht wird und die Höhe des musikalischen Geschehens förmlich Stück für Stück in sich zusammenzufallen und zu zerbröseln beginnt.
Wenn lang gezogene Klangflächen gespielt werden, erweitert sich das Hörspektrum durch die im mikrotonalen Abstand gestimmten Klaviere, da die additiven Akkorde weit weniger statisch erscheinen als bei herkömmlichen, gleich gestimmten Saiteninstrumenten. Der Einsatz von Bongos, die an das Prasseln eines plötzlichen Regengusses denken lassen, oder das hohe Gezirpe von Streichern und Bläsern, in welchen Vogelstimmen hörbar werden, vermitteln eine direkte organische Verbindung zu unserer Welt. Diese ist jedoch weder heiter noch fröhlich. Was da zu hören ist, ist vielmehr ein Jammern und Zetern mit einer unterschwelligen Angst vor dem Kommenden. Neben den kleinen Lebewesen, die vor dem inneren Auge hier erscheinen, sind es aber auch überdimensioniert große, die zu brüllen beginnen, als ob ihnen ihre letzte Stunde geschlagen hätte.
Und tatsächlich tritt das, was die Tierstimmen schon vorausahnten, auch wirklich ein. Mit einer unglaublichen Wucht bricht der auditive Supergau in den Saal. Alle Instrumente, vorrangig das Schlagwerk, kommen zum Einsatz, um eine Explosion hörbar zu machen, die wir zum Glück gar nicht kennen, sondern uns nur vorstellen. Der Sound ist so laut, dass der Boden unter den Füßen zu vibrieren beginnt, so heftig, dass man meint, man könne die Luft zerschneiden. Nicht einmal ereilt das Publikum dieses multidimensionale Erfahrung, sondern mehrfach hintereinander, mit abnehmender Intensität, so oft, bis die Explosionen wie aus der Ferne wahrgenommen werden. Das Hochschrauben der Klänge und ihr späterer Zerfall, die Nervosität der unbekannten, aber doch vorstellbaren Tiere, das Abheben der Rakete und die atomaren Explosionsgeräusche nach einer Kernexplosion, all das fügt sich in der Replik zu einem musikalischen Drama, das keine Worte benötigt.
In diesem lässt Haas unsere eigene Position jedoch offen. Wer hat sich im Raumschiff auf die Reise von der Erde weg gemacht? Wer ist hier geblieben und hat – ungeachtet des drohenden Kollapses fröhlich weiter musiziert? Wo befinden wir uns aber, die wir die Explosionen gehört und gespürt haben? Eine Wahrnehmung ist ja nur dann möglich, wenn wir das Inferno unbeschadet überlebt haben. Aber von wo aus? Haben wir das Ende unseres Planeten miterlebt oder ist es nur eine Vorstellung, die uns auffordert, aktiv zu werden und alles zu unternehmen, damit sich unsere Natur wieder erholen kann? Gerade diese Offenheit des Werkes macht es so spannend und diskussionswürdig.
Georg Friedrich Haas „11.000 Saiten“ ist vielschichtig, nicht nur wegen der mannigfaltigen Interpretationsmöglichkeiten. Es zeigt auch seine Meisterschaft, organische Klänge zu produzieren, die man heute von computergesteuerten Programmen her kennt. Der Umstand, dass das Publikum minutenlangen, frenetischen Beifall spendete, macht deutlich, dass diese Leistung verstanden wurde und breite Zustimmung erreichte.