von Michaela Preiner | Mai 29, 2023 | Oper, 2021
Die historisch belegte Geschichte der Karmelitinnen aus Compiègne während der Zeit der Terreur-Herrschaft in Frankreich ist harter Tobak. Als Feindinnen der neuen republikanischen Ordnung angesehen, zu nahe und eng verbunden mit der verhassten Adelsherrschaft, fanden 16 von ihnen an einem Tag im Jahr 1794 hintereinander den Tod durch die Guillotine. Eine in jüngster Zeit errichtete Gedenkstätte im Karmel von Jonquières, einem Nachbardorf von Compiègne, sowie die dramatische Bearbeitung durch Georges Bernanos nach der Novelle „Die letzte am Schafott“ von Gertrud le Fort aus dem Jahr 1931.
Ein dramatisches Echo aus der Vergangenheit: Die Karmelitinnen von Compiègne
Francis Poulenc gelangen mit seiner Oper „Dialogues des Carmélites“ – für die er sowohl das Libretto als auch die Musik schuf – die bisher wohl nachhaltigsten Erinnerungsmomente an dieses Ereignis. Ausgestattet mit einer Reihe an Wohlklängen, prägt sich das Klangbild des Werkes letztlich jedoch durch seine scharfen Bläser- und Percussion-Einschnitte nachhaltig ins musikalische Gedächtnis ein.
An der Staatsoper in Wien erlebte 1959 das Werk drei Jahre nach seiner Entstehung seine österreichische Erstaufführung. Im Gegensatz zur neuen Inszenierung dieses Jahres wurde damals in deutscher Sprache gesungen. Die Aufführung setzt sowohl musikalisch als auch von der Inszenierung her außerordentliche künstlerische Maßstäbe. Denn mit Bertrand de Billy am Dirigentenpult, der als Poulenc-Spezialisten bezeichnet wird und Magdalena Fuchsberger, welche die Regie übernommen hat, fand ein künstlerisches Duo zusammen, welches dem Publikum ein hochemotionales, musikalisch beeindruckendes und zugleich bestens inszeniertes Opernerlebnis bescherte.
Vom lyrischen Zauber zum brutalen Realismus: Das Orchester der Wiener Staatsoper
Das Orchester der Wiener Staatsoper unterstützte die lyrischen Passagen der Sängerinnen mit intimer Noblesse, in keinem Moment verkitscht. Jene Stellen hingegen, in welchen die Tragik des Sterbens in verschiedenen Varianten beleuchtet wird, erklangen derart wuchtig und brutal, dass man sich einer tiefen Betroffenheit nicht erwehren konnte.

Dialogues des Carmélites (Foto: Michael Poehn)
Monika Biegler erdachte eine offene, architektonische Holzkonstruktion auf der sich häufig im Uhrzeigersinn drehenden Bühne, in der alle unterschiedlichen Räume der Szenen zum Teil gleichzeitig zu sehen waren. Spartanisch, aber höchst raffiniert, hinterließ diese nicht nur den Eindruck von sich parallel entwickelnden Geschehen, sondern auch von einem Setting, in welchem trotz aller Parallelität dennoch alles mit allem verwoben ist. Aron Kitzig steuerte mit Videoprojektionen über der Szenerie eine zusätzliche, künstlerische Ebene bei. In ihr waren zum großen Teil christlich konnotierte Bildausschnitte zu erkennen, die stilistisch zwischen Barock und dem 20. Jahrhundert wechselten, ohne jedoch direkt zugeordnet werden zu können. Die Figurenführung von Magdalena Fuchsberger arbeitete deutlich die verschiedenen Charaktere der Frauen heraus, die sich den Ordensregeln ihres Karmels untergeordnet hatten. Von Beginn an visualisierte die Regisseurin die multiplen Ängste von Blanche, die ihre Familie für das Kloster verlässt. Schwarze Gestalten mit angsteinflößenden Masken, tierisch gehörnt oder beschnäbelt, begleiten jene Szenen, in welchen sich sowohl Albträume widerspiegeln als auch ein Sterben ankündigt wird, das von Grauen begleitet ist. Dass diese unheilverkündenden Todesboten in der allerletzten Szene während der Tötung der Karmelitinnen nicht mehr auftauchen, versinnbildlicht ihren Mut, sich für ihre Glauben zu opfern und die zuvor beständige Angst vor dem Tod hinter sich gelassen zu haben.

Dialogues des Carmélites (Foto: Michael Poehn)
Die mutigen Karmelitinnen und ihr grauenhafter Weg zur Erlösung
Die Besetzung von Blanche (Nicole Car), der sterbenden alten Äbtissin Madame de Croissy (Michaela Schuster), Mère Marie (Eve-Maud Hubeaux), Madame Lidoine (Maria Motolygina) und Constance (Maria Nazarova) darf als idealtypisch bezeichnet werden. Stimmlich bestens disponiert, war es mehr als nur eine Freude, ja ein Abenteuer, ihre Soli zu verfolgen und damit zugleich auch ihre jeweiligen Gedankengänge und Emotionen nachzuvollziehen. Der Gegensatz von Michaela Schuster, welche mit hohem theatralischem Einsatz den Todeskampf der alten Äbtissin verdeutlichte und Maria Motolygina, als ihrer Nachfolgerin, wurde beeindruckend vorgeführt. Während die eine die Ordensgemeinschaft mit ihren aufkommenden Gotteszweifeln in Aufruhr versetzte, gelang es der anderen mit ihrer berückend schön vorgetragenen Arie, mit der sie ihr neues Amt übernahm, wieder Ruhe und Zuversicht bei den Klosterinsassinnen herzustellen. Blanche, die ihren Vater (Michael Kraus) und ihren Bruder (Bernard Richter zu Recht vom Publikum intensiv akklamiert) verlassen hatte und Constanze, die ihr schon bald ihr gemeinsames Schicksal vorhersagte, waren nicht nur von Poulenc mit unterschiedlichen musikalischen Ausdrucksmöglichkeiten differenziert ausgestattet worden. Groß gewachsen und den geistigen Aufgaben sichtlich mit Eifer zugewandt, präsentierte sich die Adelstochter Blanche. Zart, klein, ein wenig naiv und quirlig hingegen ihre lebenslustige Freundin Constanze. Mère Marie hingegen wurde als ultraorthodoxe Klosterschwester präsentiert, der es mit Strenge und Hochmut gelang, ihre Mitschwestern auf den gemeinsamen Märtyrertod einzuschwören. Einen Tod, der von ihr jedoch auch zu verhindern gewesen wäre.
Dialogues des Carmélites (Foto: Michael Poehn)
Dialogues des Carmélites (Foto: Michael Poehn)
Dialogues des Carmélites (Foto: Michael Poehn)
Dialogues des Carmélites (Foto: Michael Poehn)
Dialogues des Carmélites (Foto: Ashley Taylor)
Dialogues des Carmélites (Foto: Ashley Taylor)
In einer packenden Szene, die vor der Guillotinierung spielt und einen plausiblen, psychologischen Gedankengang der Regisseurin wiedergab, erlebt Mère Marie eine Sinneswandlung. Ohne Worte vor dem geschlossenen Vorhang stehend, wird ihr Körper wie von unsichtbarer Hand während der derben Orchesterklänge des letzten Zwischenspiels eine Zeitlang durchgepeitscht. Schließlich gewinnt aber – deutlich erkennbar – ihr Überlebenswille, gepaart mit einem unbändigen Stolz die Oberhand. Sie und der Beichtvater (Thomas Ebenstein) sind die einzigen Überlebenden der Ordensgemeinschaft und, so darf zwischen den Zeilen gelesen werden: Es wird ihnen nicht schwerfallen, sich in der komplett veränderten französischen Gesellschaft nach der Revolution zurechtfinden. Ein subtiler Hinweis darauf ist auch die in der letzten Szene veränderte Drehrichtung der Bühne nach links. So wie der Adel abgeschafft wurde – der Knabe Johannes Gries mimt den kindlichen Ludwig XII – wurde auch versucht, die christliche Religion zu eliminieren. Diesem Gewaltakt räumte Poulenc musikalisch großen Raum ein, begleitet nicht nur von klanglichen Einfällen, sondern auch von einer Geräuschkulisse, in welcher die Gewalt der Kloster- und Religionszerstörung hörbar wird. Dem „Salve Regina“, das den letzten Gang zum Schafott der Nonnen begleitet, wurde auch in den Kostümen ein starker Ausdruck verliehen. Die goldenen Diademe, welche die Frauen auf ihren Köpfen trugen, legten Zeugnis von ihrer göttlichen Idee ab, der sie sich bis zuletzt verpflichtet fühlten.

Dialogues des Carmélites (Foto: Michael Poehn)
Mère Marie: Eine Frau zwischen Orthodoxy und Überlebenswille
So wie die schwarzen, bedrohlichen Geistgestalten am Ende verschwunden sind, ist auch jene Figur nicht mehr zu sehen, welche Blanche von Beginn an begleitete. Die Tänzerin Stepura verkörperte weiß gewandet eine Imagination und personifizierte Projektion jener Freiheit, die Blanche so inniglich ersehnte, aber erst kurz vor ihrem Lebensende tatsächlich erlangte. Ausgestattet mit einem geflügelten Helm, einem Bihänder und einem metallisch-ritterlich ausstaffierten Armschutz begleitete sie die junge Frau mit einer minimalistischen, jedoch ausdrucksstarken Choreografie auf ihrem Weg von der Angst zur größtmöglichen inneren Freiheit. (Kostüme von Valentin Köhler).
Mit den „Dialogues des Carmélites“ gelang eine erkenntnishafte Darbietung, in der man auch wichtige Impulse zur weiteren Beschäftigung mit diesem Thema finden konnte. Poulenc bewies mit dieser Oper, dass er in der Mitte des 20. Jahrhunderts auch abseits der 12-Tonmusik und anderen seriellen Formen imstande war, künstlerisch Hochwertiges zu produzieren. Es ist zu hoffen, dass die Oper in kommenden Spielzeiten wieder aufgenommen wird.
von Michaela Preiner | Apr 16, 2023 | 2021, Oper
Eine Oper mit der Länge von nur eindreiviertel Stunden muss ein Libretto vorweisen, welches eine Handlung, die sich über einen Zeitraum von mehreren Wochen erstreckt, gekonnt zusammenfasst. Leoš Janáčeks Text zu seiner Oper ‚Katja Kabanova‘ holpert jedoch ein wenig dahin. Das mag daher rühren, dass er selbst den Text nach einem Drama des Russen Alexander Nikolajewitsch Ostrowski (1823 – 1886) auf ein Kondensat zusammengestrichen hat, welches so manche darin vorkommende Figur charakterlich nicht wirklich erklärt. Ostrowski hat sein Drama unter dem Titel „Gewitter“ 1859 veröffentlicht, was insofern bemerkenswert ist, als der Schriftsteller die Scheinheiligkeit der Gesellschaft im Hinblick auf Ehebruch und sexuelles Verlangen sowie die Unterwerfung in einem familiären System zu den Hauptthemen seines Stückes machte. Bei uns wenig bekannt, gehört er zu den Großen der russischen Literatur und übte starken Einfluss auf Leo Tolstoi aus.
Interpretationsspielraum oder Verwirrung?
In der Oper Graz erlebte das Werk am 18.3.2023 seine Premiere, wofür das Team um die Regisseurin Anika Rutkofsky mit einigen Regieeinfällen die ohnehin schon etwas schlingernde Handlung weiter verkomplizierte, sodass sich am Ende die Frage stellt: Wie viel Interpretationsspielraum, wie viele mythologischen Verweise, wie viele Handlungsumdeutungen verträgt ein Stück, um dennoch verständlich zu bleiben? Wie sich zeigt, führen große Bemühungen manches Mal nicht immer zum Ziel.

Leoš Janáčeks „Katja Kabanova“ an der Oper Graz ( Foto: © Werner Kmetitsch)
Womit die Kritik bei ihrem Kern angelangt ist. Die Regisseurin versetzt das Geschehen in ein kirchliches Umfeld, genauer in das Innere einer orthodoxen Dorfkirche. Der bei Ostrowski und Janáček noch als Kaufmann ausgewiesene Dikoj, (Wilfried Zelinka) wird zum Popen der Gemeinde, sein Neffe Boris, der ihm anvertraut wurde, zu seinem Novizen. (Arnold Rutkofski) Die Idee, die Geschichte in einen orthodox-religiösen Kontext zu stellen, schiebt die eigentliche Aussage, dass jede Gesellschaft scheinheilig ist und Sündenböcke sucht, vom Grazer Publikum weit weg. Vielmehr verleitet diese Konstellation vom roten Plüschsessel der Oper aus mit dem Finger auf ein System zu zeigen, das „so bei uns nicht vorkommt“.Gleich in den ersten Minuten, nachdem sich der Vorhang gehoben hat, wird man Zeuge, wie ein Mann auf einer Leiter das kommunistische Sichelsymbol von einem Kirchenfenster abwischt, welches später durch ein Marienbildnis ersetzt werden wird. Damit ist der Zeithorizont, in welchem sich das Drama abspielt, geklärt. Man befindet sich offenbar kurz nach dem Zusammenbruch der UDSSR. Vor dem Kircheninnenraum erstreckt sich eine blau gekachelte Wand mit einem Einstieg, wie man ihn von Schwimmbädern her kennt. Im zweiten Akt wird sich dieses Schwimmbad noch um ein Zimmerchen erweitern, das als Liebesabsteige dienen wird. Hier gibt das Programmheft Erläuterungen: „Der Bühnenraum von Eleni Konstantatou – eine Schwimmbadkirche – macht den Systemwechsel architektonisch sichtbar: Hierfür steht die St.-Petri-Kirche einer protestantischen Gemeinde nahe des Newski Prospekts Pate, die im Kommunismus zum Schwimmbad umfunktioniert wurde. Heute wird auf dem abgedeckten Becken wieder Messe gefeiert, wobei der Altarstein noch an das Sprungbrett erinnert.“
Die Reduktion der Aussage des Stückes durch den orthodox-religiösen Rahmen
Die Verlogenheit der Gesellschaft, die Ostrowski in seinem Drama aufzeigte, wird in der Grazer Opernfassung zu einer Bigotterie herabgestuft, in der weder für eine tiefgläubige religiöse Erleuchtung noch für ein öffentliches Bekenntnis der eigenen Fehlbarkeit Platz ist.
Katja Kabanova (Marjukka Tepponen), die junge Ehefrau von Tichon (Matthias Koziorowski) steht ganz unter der Kuratel ihrer despotischen Schwiegermutter, die ihren Sohn nicht von der mütterlichen Leine lässt. Als dieser zwei Wochen das Dorf verlassen muss, schwant seiner Frau Unheil. Sie spürt, dass ihre bis dato nicht ausgelebte Sexualität Anlass zu einem Ehebetrug sein wird. Und tatsächlich dauert es nur wenige Stunden, bis sie sich Boris, Dikojs Neffen, hingibt, der sie bis dahin nur von der Ferne anhimmeln konnte.
In jener Szene, in welcher die beiden jungen Leute zueinanderfinden, geht es auf der Bühne in allerlei parallel gezeigten Paarungsvarianten freizügig zu. Anhand der Kostüme wird man später erkennen, dass Mitglieder der religiösen Gemeinschaft, die sich in der Kirche ständig bekreuzigen, Moral offenkundig nur vom Hörensagen kennen.
Foto: © Werner Kmetitsch
Foto: © Werner Kmetitsch
Foto: © Werner Kmetitsch
Foto: © Werner Kmetitsch
Foto: © Werner Kmetitsch
Foto: © Werner Kmetitsch
Janáčeks herausragende Musik als Rettungsanker
So verschwurbelt das Libretto und die Inszenierung an sich auch daherkommen, so wohltuend steht ihnen die Musik von Leoš Janáček mit dem Dirigat von Roland Kluttig gegenüber. Neben aufbrausenden Klängen mit harten und tiefen Bläsern, die Unheil verkünden, stehen höchst lyrische Passagen, die tief in verschiedene Seelenzustände eintauchen lassen. Katja Kabanova selbst ist mit mehreren wunderbaren Arien ausgestattet, die Tepponen im Laufe der Vorstellung immer glanzvoller interpretiert. Herausgestrichen soll auch ihre schauspielerische Darstellung dieser jungen Frau werden. Jegliche Emotion, jegliches Geschehen, über das sie berichtet, kommt authentisch beim Publikum an. Herrlich anzuhören sind auch jene Volksliedmotive, die der Komponist dem Charakter von Kudrjasch (Mario Lerchenberger) zugeordnet hat. Die Womanizer-Rolle, die er in Graz verkörpert, schieben diese innigen Melodien in die Schublade eines kaltblütigen, ausgebufften Verführers, wodurch sie nur im ersten Moment lieblich wahrgenommen werden können.
In Janáčeks Kompositionstechnik kann man häufig den Klang einzelner vorgetragener Worte und ganzer Sätze gut nachvollziehen. So wartet die Rolle der Schwiegermutter (Iris Vermillion) von Katja mit einigen harten und kantigen Einsprengseln auf, in welchen auch der Satz „Die Menschheit will betrogen werden“ ausgesprochen wird. Kleine, auf- und ab wiegende Melodiekaskaden hingegen lassen jene Vögel hörbar werden, die Katja sowohl besingt, als sie daran denkt, wie gerne sie doch frei wäre. Sie kommen jedoch noch einmal vor – kurz bevor die junge Frau, ausgestoßen von der Gesellschaft, den Freitod wählt. Dass letztlich auch Katjas Ehemann Tichon der gesellschaftlichen Lynchjustiz zum Opfer fällt, da er sich in der Grazer Version als homosexuell outet, ist ebenfalls ein Regie-Einfall von Anika Rutkofsky.
Das Kostümpotpourri von Marie Sturminger lässt eine Gesellschaft erkennen, die, ländlich geprägt, nichts vom Chic der oberen Zehntausend in Moskau vorweisen kann. Einzig der Prunkornat des Popen und die blendend weiße Sonntags-Staffage von Kabanicha, der bösen Schwiegermutter, vermitteln Glanz und damit zugleich auch ihren Obrigkeitsanspruch.
Ein hervorragendes Ensemble sorgt für einen gelungenen Abend
Musikalisch agiert das Ensemble extrem einheitlich auf hohem Niveau. Es gibt keinerlei Ausreißer nach unten, was der Aufführung sehr guttut. Neben den schon genannten sind Mareike Jankowski als Schwägerin und Martin Fournier in der Rolle von Kuligin hier noch hervorzuheben. Es ist die Leistung der Sängerinnen und Sänger und auch des Orchesters, welche den Abend in der Grazer Oper zu einem Erlebnis werden lassen. Auch, wenn man über die Inszenierung an sich heftig diskutieren kann.
von Michaela Preiner | Jan 9, 2023 | 2021, Oper
Dass der Komponist nach seiner Emigration während der Zeit des Nationalsozialismus in den USA am Broadway höchst erfolgreich war, ist bei uns wenig bekannt. Umso erfreulicher, wenngleich auch wagemutig war die Entscheidung, seine „Musical Comedy“ „Ein Hauch von Venus“ in der Grazer Oper als österreichische Erstaufführung zu bringen.
Der Wagemut ist dem skurrilen Inhalt zuzuschreiben – einer märchenhaften Geschichte nach einem Libretto von S.J. Perelman und Ogden Nash. Letzterer war in den USA für seine Limericks überaus bekannt und diesem, ihm eigenen Sprachwitz, kann man in einigen der Gesangtexte herrlich nachspüren. „Ohne seine Mitarbeiter wär‘ Vermeer noch heut‘ nicht weiter“ oder „Wo die Büffelherden weiden, lernt das Großstadtkind zu leiden“ sind nur zwei von vielen Beispielen, die an dem Abend zu beschmunzeln sind. Roman Hinze hat für diese Übersetzung ins Deutsche wahrlich eine Auszeichnung verdient. Allein der Text für „Ich liebe dich wie…“, köstlichst von Christof Messner interpretiert, ist atemberaubend.
Die Handlung selbst folgt einer Erzählung des Briten F. Anstey, der darin von einer Venusstatue berichtet, die lebendig wird und sich in einen einfachen Friseur verliebt. Nach vielen Irrungen und Wirrungen, in welchen Kunstführungen genauso vorkommen wie ein Beinahe-Überfall eines anatolischen Kriegers oder ein Besuch im Olymp, muss Venus letztlich doch feststellen, dass das langweilige Leben einer Hausfrau und Mutter nicht wirklich zu ihr passt. Dieser Handlungsstrang wurde in der Oper beibehalten, was zu höchst anachronistischen Unterhaltungsmomenten führt, die zeitweise ins Absurde abgleiten. Es ist primär die einfach gestrickte Geschichte, in der so gut wie jede Handlung der einzelnen Figuren vorhersehbar ist, die verblüfft und bei der man sich die Frage stellt, ob denn eine zeitgenössische Aufführung denn überhaupt Sinn macht.

„Ein Hauch von Venus“ (Foto: © Werner Kmetitsch)
Tatsächlich gelingt der Regisseurin Magdalene Fuchsberger aber das Kunststück, „Ein Hauch von Venus“ aus dem Jahr 1943 mit einer heutigen, bühnentauglichen Daseinsberechtigung auszustatten. Dabei behilflich ist ihr allen voran Henry Websdale, der die musikalische Leitung innehat. Mit Verve und viel Gespür für das Orchester, mit offenkundiger Freude am Dirigentenpult lässt er die Grazer Philharmoniker gleich zum Beginn in der Eröffnung als Big Band erklingen. Er achtet jedoch in den folgenden Nummern auch auf fein nuancierte Soli, wie jenes der zuckersüß erklingenden Geige im Vorspiel nach der Pause.
Die Vokalbesetzung ist ohne Ausnahme gut gelungen. Dionne Wudu als Venus hat nicht nur das richtige Stimmmaterial, um ihre zum Teil schwierigen Nummern wie „Wie fühlst du dich“ – in diesem Fall nur von Georgi Mladenov am Klavier begleitet – leicht erscheinen zu lassen. Sie macht auch in mehreren ausnehmend schönen Kostümen (Valentin Köhler) eine venushafte Figur. Am bekanntesten ist wohl ihr Song „Sprich leis‘“ der in der Originalfassung ‚speak low“ zu einem Jazzklassiker avancierte und in dieser musikalischen Komödie mehrfach erklingt. Ivan Oreščanin als Whitelaw Savory, Kunstexperte und Leiter einer Kunstakademie, erfreut nicht nur durch die Wärme seines stimmlichen Ausdrucks, sondern auch mit seiner gut verständlichen Aussprache. An seiner Seite glänzt Monika Staszak als seine Sekretärin und spätere Frau Molly Grant, die in einem Song sehr genau die Vorzüge von Reichtum beschreibt, der dafür sorgt, auch einen alten Mann für Frauen attraktiv zu machen. Christof Messner als unbeholfener Jungfriseur, erweckt die Venusstatue durch das Anstecken des Verlobungsringes, der für seine Freundin Gloria gedacht ist, zum Leben. Er darf seine Rolle so gestalten, dass ihm das Publikum emotional zugetan sein kann. Zuerst der Liebe abschwörend, dann als Außenseiter – konkret als Jude – von der Gesellschaft verpönt und gehetzt – und schließlich verlassen und liebeskrank, wird der Charakter des jungen, unerfahrenen Mannes tatsächlich glaubhaft. Der Traum von einem gemeinsamen Leben mit seiner Venus in einem Vorstadthäuschen mit Kindern und Garten erfährt seinen Höhepunkt in der Anschaffung eines Fernsehapparates. Mit der Schwarz-Weiß-Projektion des sogenannten „Testbildes“, wie es in den 50er und 60er-Jahren auf den Bildschirmen flimmerte, verweist die Regisseurin auf das zukünftige, erträumte Glück.
Tatsächlich wurde „One touch of Venus“ zwischen 1943 und 1945 insgesamt 567 Mal aufgeführt. Das Stück galt als leichte Unterhaltung, als Ablenkung, während der Krieg in Europa tobte und auch die USA mit sich riss. Mitbeteiligt am Erfolg waren sicher auch die beiden kuriosen Frauenfiguren von Mrs. Kramer und ihrer Tochter Gloria. Regina Schörg darf alle komödiantischen Register ziehen, um Corina Koller in der Rolle ihrer herrschsüchtigen Tochter einer standesgemäßen Heirat zuzuführen.
„Ein Hauch von Venus“ (Foto: © Werner Kmetitsch)
„Ein Hauch von Venus“ (Foto: © Werner Kmetitsch)
„Ein Hauch von Venus“ (Foto: © Werner Kmetitsch)
„Ein Hauch von Venus“ (Foto: © Werner Kmetitsch)
Immer wieder tauchen auf der opulent bestückten Drehbühne, die mit Versatzstücken von weiblichen Körperteilen ausgestattet ist und sich auch als Kerker und letztlich als Olymp präsentiert, Soldaten und Soldatinnen im Chor auf. (Bühne Monika Biegler) Ein Hinweis, der eine direkte Verbindung zur Entstehungszeit des Stückes schafft. Es sind diese Kostüme, aber auch opulente Tanzeinlagen, ganz im Stile von Broadway-Inszenierungen, welche immer wieder imaginierte Zeit- und Ortssprünge ins New York der 40er-Jahre zulassen. Genau darin liegt der Charme dieser Inszenierung. Das subtile Spiel mit dem Zeitkolorit, in welchem die tragischen Geschehnisse des 2. Weltkrieges anklingen und spürbar werden, nie aber überhandnehmen, macht die Inszenierung so außergewöhnlich und letztlich auch sehenswert. Ganz abgesehen von den vielen Ohrwürmern, die prächtigst auch am Tanzparkett Verwendung finden könnten – was man gut an den vielen wippenden Publikumsbeinen erkennen konnte. So oberflächlich leicht „One touch of Venus“ sich auch anfühlen mag, wer genau hinsieht und hinhört, kann in den 2 3/4tel-Stunden inklusive Pause in eine Zeit eintauchen, die alles andere als leicht war.
von Michaela Preiner | Nov 21, 2022 | 2021, Oper, Wien Modern
Das Publikum durfte dabei in 70 Minuten eine visuelle Zusammenfassung von der Entstehung des Weltalls – inklusive Urknall-Effekt – bis hin zur Ausbildung unseres Sonnensystems erleben. Begleitet wurde die Video-Animation von 11 Musizierenden unter der Leitung von François-Pierre Descamps.
Für das Konzept und die Dramaturgie war Kristine Tornquist verantwortlich. Mit dem Astronomen und Leiter des Planetariums, Michael Feuchtinger und dem Astronomen Konstantin Kirner, zuständig im Planetarium für Wissensvermittlung, holte sie sich zwei profunde Kenner der Materie an Bord. Gemeinsam schufen sie ein Klang-Raum-Erlebnis der besonderen Art. Das Werk wurde für fünf Stimmen – zwei Countertenöre, zwei Tenöre und einen Bassbariton sowie sechs Instrumentalisten (Trompete, drei Posaunen und zwei Schlagwerker) geschrieben. Die Entstehung des Weltalls und letztlich auch der Erde und des Menschen an sich wurde – musikalisch anschaulich – auch durch einen sich erst im Laufe der Komposition entwickelten Sprachgesang wiedergegeben. Hörte man zu Beginn nur aneinandergereihte Silben, verdichteten sich diese mit der Zeit hin zu erkennbaren Worten und Sätzen.
Häufiger Posaunen- und Paukeneinsatz, ein Glockenspiel, sowie ein großer Schlagwerkapparat verliehen dem bunten Sternenspektakel eine ebenso farbenfrohe musikalische Untermalung. Von dramatisch bis hin zu kostbaren Schwebezuständen, erzeugt von den Stimmen, reichte die klangliche Palette. Obwohl Clemencic ein ausgewiesener Kenner Alter Musik war, griff er in diesem Werk ins volle Kompositions-Repertoire der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Atonales und Dissonantes überwog über lange Strecken, dennoch gelangen ihm zum Teil auch höchst sphärisch gestaltete Momente. Wer wollte, konnte auch Assoziationen zur Orff`schen Carmina-Burana-Klangwelt assoziieren. Raues und Unbehauenes Notenmaterial entwickelte sich zu Differenzierterem und Komplexerem und ließ zugleich Spielraum für eigene Empfindungen.
Einziger Wermutstropfen war die Raumakustik. So wunderbar die visuelle Aufarbeitung mithilfe des modernsten Sternenprojektors der Welt gelang, so fein austariert auch das Ensemble musizierte, das Klangstrahlen, das durchaus in der Komposition von Clemencic vorhanden ist, blieb aufgrund der Akustik, die mehr vom Klang schluckte als preisgab, leider aus. Kopfhörer hätten in diesem Fall wahrscheinlich eine Abhilfe geschaffen. Dennoch eine abermals beeindruckende Produktion des Sirene Operntheaters.
von Michaela Preiner | Sep 28, 2022 | 2021, Oper
Wie kalt ist Eis, wenn man es in seinen Händen halten muss? Wir alle, die wir schon einmal ohne Handschuhe einen Schneeball formten oder einen Eiswürfel in ein Glas fallen ließen, wissen, wie sich diese Kälte anfühlt. Niemand von uns hat jedoch diese Erfahrung anlässlich einer Theatervorstellung gemacht. Diese durfte man nun – völlig unerwarteterweise – im Rahmen einer Produktion der Musiktheatertage Wien – nachholen. „Kunstschnee“ (Kollapsologie I), ein Musiktheater mit Publikum, machte es möglich. Nach einer Idee und der Komposition von Thomas Cornelius Desi verwandelten sich drei nacheinander gelegene Räume des Wuk sowohl in eine kalte Eislandschaft als auch in einen Sitzungssaal.
Nach einem Raumwechsel wurde das Publikum aufgefordert, selbst nach eigenem Gutdünken Texte nach vorhandenem Material, das auf den Tischen auflag, zu deklamieren. Laut oder leise, singend oder brüllend, je nachdem, wie man gelaunt war. Die daraus resultierende Kakofonie war beabsichtigt, ein Unisono-Summen sicherlich auch, wenngleich es während der Vorstellung völlig unbeabsichtigt erschien. Es erklang nach dem Satz „Wer gerettet werden soll, soll summen“ – und vereinte das Publikum ad hoc in seiner Zustimmung und wohl auch Hoffnung auf solch eine Rettung. Es blieb jedoch nicht nur bei diesem kurzen, wenngleich höchst beeindruckenden und berührenden gemeinsamen Erlebnis.

Kunstschnee (Foto: Barbara Pállfy)
Die von Beginn an verwendete Eismetapher wurde unterstützt durch einen Skifahrer mit pantomimischen Qualitäten (Roman Maria Müller) und der Sopranistin Manami Okazaki, die in einem blütenweißen Kimono und weißer Skihaube auftrat. Eine sich ausdehnende Schneewand in Form eines aufblasbaren, weißen, amorphen Gebildes, das im Laufe der Zeit anwuchs, unterstrich das kalte Setting. (Objekte Laurenz Steixner, Markus Rupprecht). Fünf Musizierende interpretierten Desis Komposition, für E-Gitarre, zwei Kontrabässe und zwei Bassklarinetten. Lediglich das Tongeschlecht und die Stimmung (z.B. brilliant, heavy, airy), konnte man während der Aufführung von einer Videoprojektion (Peter Koger) ablesen, aber zugleich auch spüren, dass den Musikerinnen und Musikern ein großer, eigener Gestaltungsrahmen zugestanden worden war. Auch die Texte, die Okazaki sang und rezitierte, konnte man auf Deutsch mitlesen, wenn man wollte. Sie changierten zwischen der Erzählung einer schicksalhaften, jedoch misslungenen Beziehung und einem dystopischen Blick in die Zukunft. Was sich anfänglich als reine Beziehungsgeschichte anfühlte, wurde im Laufe des Abends immer mehr zu einer Betrachtung unserer Umwelt, in der sowohl unsere Gesellschaft als auch die Natur, die uns umgibt, von Eis überzogen erschien.Abgelöst wurde die kalte Atmosphäre durch ein Video, in welchem Müller mit seinen Skiern in einer schneelosen Landschaft zu sehen war. Rhythmisch von schnell und unleserlich bis hin zu langsam und lesefreundlich war dieses Video mit einer Textzusammenfassung von Hölderlins „Empedokles“- Dramenskizze unterlegt. In dieser verabschiedet sich der griechische Dichter freiwillig vom Leben und stürzt sich in den Ätna. Die Sopranistin Samaan Gholami begleitete singend den Kunstfilm mit einer Farsi-Übersetzung des Textes und animierte schließlich das Publikum, wie schon einmal zuvor, den Raum zu wechseln. Zurückgekehrt in jene Umgebung, die anfänglich mit Eis und Schnee konnotiert war, tauchte man abermals in dieses Setting ein. Mit einem Unterschied: Die nun verbreitete Atmosphäre unterschied sich grundsätzlich zu jener von Beginn der Vorführung. Den Bewegungen des Tänzers folgend, begannen viele Besucherinnen und Besucher der Vorstellung sich ebenso fließend und langsam zu drehen oder sich im Takt zu beugen und strecken. Überwunden schienen in diesem Moment abstrakte Gedanken und diskursive Anstrengungen. Vielmehr herrschte jetzt das Gefühl vor, sich in einer beruhigenden Soundkulisse gemeinschaftlich harmonisch zu bewegen und dabei so etwas wie ein Zusammengehörigkeitsgefühl zu empfinden.
Das explizit als Mitmachtheater konzipierte Stück bot eine große Bandbreite an unterschiedlichen, theatralischen Erfahrungen. Die Interpretationen dürften ebenso breit gefächert sein wie die Eindrücke, die man auf ganz individuelle Art sammeln durfte. In den kommenden drei Jahren sollen weitere Experimente dieser Art folgen.
von Michaela Preiner | Sep 19, 2022 | 2021, Oper
Im Dunkel des Saales wird eine Männerstimme hörbar. Sie erzählt davon, dass das Gesprochene eigentlich das Ende eines Briefes sei; eines Briefes, der nie abgeschickt wurde, aber dennoch einmal geschrieben werden wird. Kurz darauf wird seine Stimme von einer Frau visuell begleitet, deren Portrait auf einem Video erscheint. Während der Mann spricht und auf Ukrainisch ein längeres Gedicht rezitiert, beginnt sie, sich mit lautmalerischen Geräuschen in einer unbekannten Kunstsprache auszudrücken. Obwohl man – wenn man nicht Ukrainisch spricht – weder dem Inhalt der Männerstimme folgen kann noch genau weiß, was die Frau sagen will, bekommt man ein Gefühl, dass das, was hier vermittelt werden soll, aus Erfahrungen resultiert, die schmerzhaft sind.
Tatsächlich ist der Titel „Chornobyldorf. Archeological opera“ bereits ein Hinweis darauf, dass eine Referenz dieser neuen Oper die Tragödie von Tschernobyl ist. Die Kombination mit dem Substantiv-Anhang ‚dorf‘ kam zustande, da das Ensemble zu Beginn der Arbeit Zwentendorf und seine Umgebung besuchte. Das nie in Betrieb genommene Kernkraftwerk in Österreich und jenes in der Ukraine, dessen Baubeginn 1970 war, also noch vor der Unabhängigkeit des Landes, veranlasste die ukrainischen Kulturschaffenden zur Idee einer globalen Sichtweise auf das Thema Kernkraftwerk und dessen dystopische Auswirkungen; unabhängig davon, wo diese Meiler stehen, stellen sie eine grenzübergreifende Bedrohung der Menschheit dar.
Die Oper spielt zwischen dem 23. – 27. Jahrhundert, in einer Zeit, in der wir längst Geschichte sind und verschwunden sein werden. Sie geht von der Annahme einer weltumspannenden Katastrophe aus, in der sich die Überlebenden erneut ihrer Identität bewusst werden müssen. In einer Zukunft, in der neue Rituale erschaffen werden und dennoch all das, was zwischenmenschlich in Gesellschaften abläuft, bewusst oder unbewusst auf historische Vorbilder zurückgreift.
Die sieben Kapitel, die ohne Pause, aber doch erkennbar, ineinander übergehen, tragen die Überschriften: Elektra, Dramma per musica, Rhea, The little Akkorden girl, Messe de Chornobyldorf, Orfeo ed Euridice sowie Saturnalia. Damit greifen die beiden Komponisten Roman Grygoriv und Illia Razumeiko einerseits große griechische Mythen auf, die zum primären Nährboden der europäischen Kunstproduktion wurden. Andererseits verweisen sie direkt auf slawische Musiktraditionen. Diese künstlerische Verzahnung, in der unterschiedliche musikalische Stilmittel verwendet werden, macht eines klar: Die Menschen, die hier auf der Bühne stehen und all jene, die an dieser Oper arbeiteten, verstehen sich zutiefst Europa zugehörig. Die aktuelle Diskussion, die Ukraine in die EU aufzunehmen, wird in den historischen Bezügen, die hier hergestellt werden, quasi kulturhistorisch legitimiert. Aber auch das, was Europa ausmacht, die Individualität der Länder und ihre darin befindlichen, unterschiedlichen Ethnien, kommt vehement zum Ausdruck. Immer wieder werden historisch-musikalische Zitate – umgewandelt in moderne Klangbilder – von bosnien-herzegowinischen und ukrainischen Volksweisen abgelöst. Klage- aber auch Hochzeitslieder werden dafür angestimmt und in ihrer typischen Melodieführung gesungen. Unisono-Linien trennen sich in eine kurz hörbar werdende Mikrotonalität, die jahrhundertealt ist und dennoch neu und frisch klingt. Sich davon ablösende, schon beinahe rein empfundene Sekunden, sowie anschließende Septsprünge verstärken den emotional-schmerzlichen Ausdruck. Mahler’sche Akkordabfolgen, chorisch gesungen, und eine Fuge von Bach, die außer Rand und Band zu geraten scheint, legen eine musikhistorische Spur in jenen Kern Europas, der vom Barock bis ins vergangene Jahrhundert im wahrsten Sinn des Wortes tonangebend war.
Auf all dies trifft eine Füllte von neuem Klangmaterial: schräge Saitenklänge, unterschiedlichste, zum Teil stark akzentuierte Rhythmen, gespielt auf einem Percussion-Konstrukt, das aus verschiedenen Fundstücken zusammengesetzt wurde (Evhen Bal), sowie elektronische Ergänzungen, die Windstimmungen oder ein bedrohliches, undefinierbares Dröhnen hörbar machen.

Chornobyldorf (Foto: Anastasiia Yakovenko eSel)
Eine rasche Abfolge von Bildern, unterstützt durch Video-Einspielungen, auf welchen fragile Menschenfiguren in ukrainische Landschaften zu sehen sind, häufige Personen- und Kostümwechsel sowie die Erzeugung von emotionalen Wechselbädern, bewirken eine Fülle von theatralen Ereignissen, die wie ein Tsunami über einen schwappen. Zugleich wird man in das zum Teil somnambule Geschehen derart sogartig hineingezogen, dass es einem schwerfällt, die kognitiven Fähigkeiten über die eigenen, starken Empfindungen zu stellen.
Die beinahe surreal, zugleich jedoch hochromantisch anmutende „Krönung“ einer jungen Akkordeonistin, unterstützt durch eine den Raum erweiternde Videoeinspielung, wird von religiösen Klängen und Bildern abgelöst. Ein passendes, in einem klassisch-harmonischen Gefüge gesungenes Agnus Dei wird durch ein ebensolches, jedoch explosiv-punkartiges unterbrochen. Schockartig befindet man sich im Hier und Heute, in einem Zustand, in dem Romantik keinen Platz mehr findet. Die Grablegung von Euridice, das Lamento ihres Orpheus wird in einer bildstarken Choreografie umgesetzt, in welcher die Nacktheit der Beteiligten besonders ihre Zerbrechlichkeit und ihr Schutzbedürfnis hervorhebt. Den Ausklang bildet eine saturnalische Orgie, um ein auf den Kopf gestelltes Papp-Portrait von Lenin. Alles, was sich an unaussprechbaren Gefühlen und Leid zuvor angesammelt hat, alles, worüber man schwer sprechen kann, löst sich in dieser wilden, ausgelassenen Szene auf, in welcher man selbst gerne mittanzen würde. Dass das Ende mit seinem Windgeräusch an den Beginn der Produktion erinnert, mag wohl einen ewigen Kreislauf symbolisieren. Einen Kreislauf, in dem das existenziell Menschliche letztlich immer und immer wieder gelebt, aber auch neu erfunden wird, ja erfunden werden muss. Wenn nichts mehr so ist, wie es einmal war, dann muss auf das zurückgegriffen werden, was tief im Menschsein schlummert, aber auch das, was ihn als Lebewesen auf der Erde auszeichnet. Er ist ein Wesen, das sich ständig neu formiert und anpasst und dennoch seine vermeintlich gekappten Wurzeln in sich trägt.
Niemand der Künstlerinnen und Künstler hätte sich, als die Oper entstand, träumen lassen, dass so viel davon, was in ihr gezeigt wird, einen aktuellen Bezug erhalten würde. Die Kriegsgräuel und das Leid, das derzeit in der Ukraine herrschen, schwingen in der Rezeption im Moment stark mit. Die Bedrohung der Erde durch den technischen Fortschritt, hybride Menschenformen, die sich in Kunstgattungen üben, die von ihnen dennoch niemals beseelt werden können, auch das beinhaltet „Chornobyldorf“. Es ist zu wünschen, dass die Oper nach ihrer Uraufführung in Rotterdam und der zweiten Station im WUK in Wien, anlässlich der ‚Musiktheatertage Wien‘, noch viele weitere Stationen erleben darf. Und es ist zu wünschen, dass das Ensemble dabei vom Publikum übermittelt bekommt, dass eine Arbeit wie diese gerade in schwierigen Zeiten eine ist, die gebraucht wird, mehr noch: auch zum Überleben beiträgt. Angesichts der Brutalität der Geschehnisse meinte beim Publikumsgespräch eine Sängerin, sie sei nicht mehr davon überzeugt, dass das Theater etwas bewirken könne. Zu sehr stünde das Erlebnis von Gewalt, die alles verdrängt, dieser Idee diametral gegenüber.
Die Aussage „vita brevis, ars longa“ möge ihr und dem Ensemble einen kleinen Shiftwechsel ermöglichen. Sie möge ihnen einen Hoffnungsschimmer bieten, dass die Kunst das Leben überdauert und somit auch diese, ihre Produktion. Sie wird späteren Generationen einmal – in welcher Art und Weise auch immer – zur Verfügung stehen und einen Einblick in jene aktuelle Gegenwart bieten, die für die ukrainische Bevölkerung, aber auch alle anderen, leidenden Beteiligten, so schwer zu ertragen ist.