Interview mit dem Autor Mario Wurmitzer, dessen Stück „Werbung, Liebe, Zuckerwatte“ im Sommer am Thalhof vom Salon5 uraufgeführt wurde. Eine Neuauflage kommt im November in Wien auf die Bühne.
Wie sind Sie denn eigentlich zum Schreiben gekommen, Herr Wurmitzer? Hat Sie das immer schon interessiert?
Das hat so mit 15 Jahren begonnen, dass ich mich für die Literatur angefangen habe, zu interessieren. Ich habe zuerst einmal so klassische Einstiegsautoren wie Hermann Hesse, Bert Brecht gelesen. Und dann habe ich irgendwann auch selbst angefangen zu schreiben. Zunächst einmal ohne daran zu denken, dass ich das irgendwann veröffentlichen will. Aber ich habe halt immer am gleichen Text weitergeschrieben. Aber irgendwann war es halt so viel, dass ich dann doch draufgekommen bin, es hat jetzt eigentlich schon – na ja, die Länge von etwas, das in Buchform erscheinen könnte. Das habe ich dann zu verschiedenen Kleinverlagen geschickt und da ist ja dann mein Jugendbuch im Jahr 2010 veröffentlicht worden.
Mittlerweile haben Sie schon einige Preise erhalten. Ist das so, dass Sie relativ rasch gewusst haben, wo Sie sich im Literaturbetrieb einklinken müssen?
Ich bin, glaube ich, gar nicht so eingeklinkt, wie man vielleicht denkt. Ich habe halt zunächst mal die Texte verschicken angefangen. Das muss man schon machen. Ich glaube, man darf nicht darauf warten, dass man entdeckt wird und zu Hause einfach vor sich hinschreiben, sondern man muss die Texte schon irgendwie zumindest mal verschicken, irgendwo einreichen. Ich habe aber im Literatur- oder Theaterbetrieb keine Bekanntschaften gehabt, sondern halt meine Texte bei verschiedenen Ausschreibungen eingereicht und da hat man dann manchmal Glück, manchmal nicht. Dann hat halt auch sicher geholfen, dass ich relativ bald einen Theaterverlag gefunden habe, den Thomas Sessler Verlag. Da habe ich aber nur eine Mail hingeschickt. Das ist nicht über Kontakte gelaufen. Durch den Verlag, der ja auch wieder Kontakte hat, bin ich ein bisschen integrierter. Aber es ist nach wie vor nicht so, dass ich extrem viele Bekannte im Literaturbereich hätte. Die habe ich nicht. Ich schreibe so vor mich hin.
Ferdinand Schmalz sagte einmal bei einem Interview, man würde sich, von außen betrachtet, den Schriftstellers als einsamen Wolf vorstellen, was aber gar nicht der Fall sei. Wie ist das bei Ihnen
Also ich glaube, das stimmt schon. Beim Theater ist es wirklich gar nicht einsam. Weil man da auch eben in die Produktion eingebunden ist. Man spricht mit den Regisseuren, mit den Dramaturgen, ist ein wenig in das Team eingebunden. Natürlich hat man als Autor eine Sonderstellung. Man ist jetzt nicht jedes Mal bei den Proben dabei. Das wäre auch nicht wirklich zielführend. Aber da gibt es schon auf jeden Fall viel Austausch. Ich denke mir, wenn man einen Roman schreibt, ist es vielleicht nochmal ein bisschen zurückgezogener. Da gibt es dann zunächst mal nicht so viel Feedback und keine arbeitende Gruppe um einen herum. Ein Theaterstück entsteht ja auch immer gemeinsam. Es ist ein gemeinsames Produkt. Bei einem Roman sitzt man, glaube ich, zunächst schon mal wirklich lange auch allein.
Sie arbeiten jetzt an einem. Oder?
Ja genau. Er soll im Frühjahr erscheinen.
Wie ist der Titel?
„Im Inneren des Klaviers“, heißt er.
Was ist das Hauptthema?
Es geht um eine junge Frau, die versucht, ein repressives Königreich zu verlassen. Sie schlägt sich durch die Wälder, trifft dann irgendwann auch auf einen jungen Mann und die beiden lassen sich zögerlich aufeinander ein. Es gibt einerseits diese Thematik der Beziehungsgeschichte zwischen den beiden Figuren. Andererseits geht es um so etwas wie Widerstand gegen dieses System, in dem sie sich befinden. Das spielt natürlich wieder mit märchenhaften und surrealen Elementen, wie auch in meinen Theaterstücken.
Warum ist das Märchenhafte und Surreale für Sie so ein wichtiger Baustein? Ist es ein Vehikel, mit dem Sie Dinge transportieren können, ohne diese zu konkretisieren?
Ich habe das Gefühl, wenn ich Sachen verzerrt darstelle, überhöht, irgendwie verfremdet, dann kann man manches klarer sehen. Das, was ich im direkten Blick vielleicht nicht sehe. Damit meine ich, dass man unterschiedliche Perspektiven einnimmt und die Realität damit ein bisschen verzerrt. Das ist, finde ich, auch das Potential der Kunst, dass wir nicht nur abbilden können was ist, sondern auch fragen können: Was wäre, wenn? Wie könnte es auch sein? Und, ja, mich hat natürlich auch eine gewisse surrealistische Literatur sehr beeinflusst. Der beinharte Naturalismus interessiert mich nicht so stark. Also es geht los beim Theater, wie bei Daniil Charms oder Alfred Kubin, oder bei der lateinamerikanischen Literatur des Surrealismus. Auch bei Kafka oder Brecht beispielsweise gibt es immer eine bestimmte Verfremdung. Darin liegt für mich das Potential der Kunst.
„Werbung, Liebe, Zuckerwatte“, ihr erstes Stück, das auf einer Bühne gespielt wurde, wurde von Anna Maria Krassnigg in Szene gesetzt. Dabei wurden sie auch mit eingebunden.
Ja genau. Ich denke, es ist immer ganz schön, wenn man noch lebt, dass nicht so getan wird, als wäre man tot. Dass also dieses Angebot, mit dem Autor zu reden, auch angenommen wird. Das ist sicher sinnvoll. Weil man setzt sich als Autor ja eh nicht hin und gibt irgendwie das Regiekonzept vor. Aber man steht halt zur Verfügung für Gespräche. Und das hat gut funktioniert
Mario Wurmitzer (Foto: Christian Mair)
Das ging ja sogar so weit, dass Sie auch im Film eine Rolle gespielt haben.
Genau, ja. Also eigentlich ich sitze ja nur da.
Wie kam es zu dieser Rolle? Die war im Stück ja nicht angelegt.
Stimmt, die war nicht im Stück. Aber ich wurde gefragt, ob ich das machen würde, so einen kleinen Cameoauftritt zu haben. Zunächst habe ich mir gedacht: Ja, viel darf das nicht sein. Ein schauspielerisches Talent habe ich ja wirklich gar nicht. Ich bewundere Schauspieler sehr, aber ich kann nicht schauspielern. Und dann habe ich mich irgendwie drauf eingelassen, weil es ja nicht viel ist. Und dann war es für mich natürlich schon eine spannende Erfahrung, das mal live mitzuerleben: Wie entsteht das überhaupt? Und wie arbeiten die Schauspieler da? Aber im Grunde sitze ich nur da, dann trinke ich mal was. Das ist jetzt nicht die größte Schauspielerei, was ich da mache
Wie gehen Sie denn mit Kritiken um?
Ich habe noch nicht so eine ausgeprägte Einstellung dazu, weil ich noch nicht mit so viel Kritiken konfrontiert war. Ich habe die Kritiken zu „Werbung, Liebe, Zuckerwatte“ natürlich gelesen und ich würde lügen, wenn ich sage, sie wären mir jetzt völlig egal. Natürlich freue ich mich, wenn dann da positives Feedback kommt. Und, dass die jetzt relativ gut alle waren – ja, natürlich finde ich das positiv. Ich wusste ja nicht, ob das ankommt. Das Stück ist doch irgendwie schräg. Mir war nicht klar, wie die Leute reagieren werden. Völlige Gleichgültigkeit gibt es sicher nicht. Manche Autoren spielen so, als wäre es ihnen komplett wurscht. Ich glaube es aber dann auch einer Autorin wie der Terézia Mora, die ja den deutschen Buchpreis und mehr gewonnen hat, die sagt, dass sie keine Kritiken liest. Der glaube ich es dann. Vielleicht hat sie es früher schon gemacht, aber irgendwann, glaube ich, kann man dann vielleicht doch so eine gewisse Abgebrühtheit entwickeln. Aber gerade am Anfang fände ich das sehr schwierig. Vor allem sind die Kritiken gerade am Anfang auch wichtig.
Im Sinne eines Feedbacks?
Ja. Weil man auch sieht: Wie wird das Stück wahrgenommen? Oder: Welche Themen werden da überhaupt jetzt drinnen gesehen? Ich gehe ja nicht unbedingt vom Thema aus, sondern von den Figuren, die ich in Situationen bringe, in denen sie was Spezielles erleben. Und ich denke auch nicht so oft nach, über welche Themen ich geschrieben habe. Das passiert dann immer in einem zweiten Blick darauf.
„Werbung, Liebe, Zuckerwatte“ ist ja ein sehr politisches Stück.
Ja.
Wenn ich Sie richtig verstanden habe, war das aber von Ihnen gar nicht so intendiert?
Ja. Also ich habe mir nicht vorgenommen, ein politisches Stück zu schreiben. Man schreibt halt, glaube ich, über das, was einem am Herzen liegt, oder über etwas, an dem man sich irgendwie abarbeiten kann. Und das sind dann mitunter politische Themen. Und in dem Fall sind doch einige politische Themen zusammengekommen. Ich habe mir zum Beispiel auch nie vorgenommen: Ich will eine Komödie schreiben. Es gibt halt so manche Skurrilitäten, die dann einfach nur oft als Komödiantik bewertet werden können. Aber auch das habe ich mir alles nicht im Vorhinein vorgenommen.
Heißt das, dass sie beim Schreiben nicht von einer Idee ausgehen, sondern das Geschehen nur anhand der Figuren wachsen lassen?
Nein, ich habe schon so eine Grundidee. Die hängt natürlich in gewisser Weise mit den Figuren und was die erleben werde zusammen. Einen gewissen Handlungsablauf habe ich im Kopf.
Ich sage nicht: Ich schreibe jetzt ein Stück über Terror, über Unsicherheit, und über Liebe. Und kenne halt den Charakter der Figuren und daraus entwickelt sich dann einfach schön langsam der Text. Und ich glaube, dass das schon relativ intuitiv abgeht.
In Österreich gibt es im Moment viele junge Schriftsteller, die im dramatischen Fach arbeiten. Haben Sie eine Idee, womit das zusammenhängen könnte?
Ich kann da natürlich nur für mich sprechen. Ich schreibe sehr gerne Dialoge. Und wenn man irgendwie das Gefühl hat: Ich kann eine Geschichte erzählen, vor allem, über den Dialog, dann ist man schnell beim Theater. Weil dann schreibt man einfach die Dialoge und braucht sonst keine weiteren Paratexte. Das ist für mich der große Reiz, dass ich irgendwie das Gefühl habe, im Dialog kann man so viel zeigen, soviel unmittelbar darstellen, so verschiedene Perspektiven aufeinanderprallen lassen.
Ist vieles von dem, was Sie auch in den Dialogen schreiben, erhört oder ersehen?
Manches, ja. Das übersteigere ich dann aber wieder in irgendeine Richtung. Es ist nicht unbedingt so, dass ich jetzt im Kaffeehaus sitze und einen Dialog genauso höre. Aber vielleicht höre ich einen Teil und verändere das dann wieder in irgendeiner Richtung.
Und haben Sie, abgesehen von der Romanveröffentlichung im Frühling, schon was Neues in Angriff?
Ja, ich schreibe an einem Theaterstück, wieder, bin aber noch relativ am Anfang. Ich kann vielleicht ganz kurz die Grundkonstellation sagen. Also es geht um eine junge Frau, die in ihr Heimatdorf zurückkehrt, zu ihrem Vater, der einen Schlaganfall hatte. Und die haben sich seit Längerem nicht gesehen. Es sind sehr unterschiedliche Persönlichkeiten. Es ist weniger traurig und weniger realistisch, als es sich jetzt vielleicht anhört. Aber es passiert ganz viel. Ich will nur jetzt noch gar nicht ausdefinieren was, weil ich mir selbst über vieles auch noch nicht so im Klaren bin. Das Schreiben fürs Theater macht mir momentan eine große Freude.
Gibt es etwas, das Sie sich wünschen würden? Wo Sie sagen:“ Mensch, das wäre cool. Das würde ich gerne machen.“ Oder: „Das hätte ich gerne.“
Ja. Also ich hoffe immer, dass man sich einfach so die Freiheit bewahrt, das zu machen, was man will. Und dann so ein gewisses Maß an Resonanz damit erreicht. Also beim Theaterstück ist es schon wichtig, dass es gespielt wird. Ein Theaterstück wird in gewisser Weise auch erst durch die Inszenierung fertig geschrieben, finde ich. Und da freue ich mich natürlich, wenn das so weitergeht und dass man sich nicht irgendwie verbiegt, oder auch nicht verbiegen muss. Es kann ja auch eine gewisse Freiheit sein, dass man so einen Sicherheitsanker hat. Dass ich sage:“ Ich unterrichte lieber ein paar Stunden und dafür muss ich mich nicht nach sämtlichen Marktanforderungen richten, die es so gibt.“
Wurde das schon jemals an Sie herangetragen? „Mach einmal das, oder das!“
Natürlich gibt es das. Also gerade in der Prosa gibt es so Vorgaben wie: Es darf halt nicht zu düster sein, nicht zu traurig. Das kauft dann keiner. Oder teilweise ja wirklich auch banale Dinge wie: Die Hauptfigur sollte halt schon sympathisch sein. Natürlich gibt es sowas alles. Aber man kann es leichter ignorieren, wenn man weiß: Ich kann die Miete auch ohne diesen Erfolg zahlen.
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Ein Gespräch von Michaela Preiner mit Bernhard Günther, dem künstlerischen Leiter von Wien Modern, über den Geist des Festivals, herausragende Produktionen dieser Saison, gängige Vorurteile und einen riesigen Skandal.
Wien Modern feiert mit 6 großen Produktionen und gut 3 Dutzend kleineren seine 30. Ausgabe. Grund genug, Bernhard Günther, seit vorigem Jahr künstlerischer Leiter, ein wenig über die Konzeption des Festivals für zeitgenössische Musik und die Highlights dieser Saison zu befragen.
Könnten Sie kurz skizzieren, was den Geist von Wien Modern auszeichnet?
Wien Modern wurde erfunden, damit man durch das Festival einen Einstieg in die zeitgenössische Musik findet. Der Ausgangspunkt von Claudio Abbado 1988 war ja die Überzeugung, dass diese Musik in die großen Säle gehört und das Vertrauen darauf, dass sie diese auch füllen kann. Am Anfang von Wien Modern steht die Behauptung: Diese Musik eignet sich für viel mehr Menschen, als man glaubt.
Wien hat unter den Städten wie Paris, Warschau, Straßburg, Berlin, die große Festivals für zeitgenössische Musik veranstalten, tatsächlich ein besonders großes, musikbegeistertes Publikum. Wir zählen zwischen 500 und 700 Menschen, die zu unserem Stammpublikum gehören, regelmäßig einen Generalpass kaufen und in viele Veranstaltungen gehen. Aber insgesamt ist ein Festival, das nur zeitgenössische Musik präsentiert und wie im letzten Jahr damit 27.000 Leute erreicht, wahrscheinlich weltweit einzigartig. Das gibt es so nur in Wien, und das spricht für die Stadt und den Grad ihrer Neugier und Musikbegeisterung. Deswegen ist in Wien ein so großes Ausrufezeichen für die zeitgenössische Musik, wie Wien Modern es ist, am richtigen Ort.
Wenn jemand ein Konzert besuchen möchte, aber keine Ahnung von zeitgenössischer Musik hat, wo soll er oder sie anfangen im diesjährigen Programm zu suchen?
Wir haben heuer im Jubiläumsjahr sehr viele große Produktionen. Beispielsweise die sechs großen Veranstaltungen, die ganz in der Tradition des Kunstvertrauens von Claudio Abbado stehen. Das trauen wir uns, weil wir von dieser Musik begeistert sind und glauben, dass sich die Begeisterung mit noch viel mehr Menschen teilen lässt, als sich ohnehin schon interessieren.
Das diesjährige Generalthema ist „Bilder im Kopf“. Hat man nicht ohnehin bei jedem Musikhören Bilder im Kopf?
Der Titel richtet sich auch an die Menschen, die noch das Klischee von der trockenen, komplizierten, grauen Materie „zeitgenössische Musik“ mit sich herumtragen. Die neue Musik ist ja über Jahrzehnte hinweg in einem sehr technikorientierten, expertenlastig herüberkommenden Diskurs kommuniziert worden. Da gibt es beispielsweise das Stichwort des „Bilderverbots“, das tatsächlich in der deutschsprachigen Musik des 20. Jahrhunderts eine Rolle gespielt hat. Da wurde diskutiert, dass zeitgenössische Musik nicht bildhaft sein dürfe, die Konstruktionsmerkmale standen im Vordergrund, Sinnlichkeit, Assoziationen und Phantasie kamen dabei nicht vor. Der Versuch, diese wilden Assoziationen, die beim Hören von Musik in vielen Fällen in Gang gesetzt werden, in der Kiste zu halten, ist aber nicht ganz gelungen. Ein paar dieser großen Momente in der Musikgeschichte der letzten Jahrzehnte, in denen sich die Bildhaftigkeit wieder freigekämpft hat, zeigen wir heuer im Festival.
Das größte und am umfangreichsten zu erlebende dieser Beispiele ist zugleich auch – in rein musikalischen Metaphern gesprochen – das farbenprächtigste: Ab den 1970er Jahren entstand in Paris die sogenannte „Musique spéctrale“. Die Spektralmusik hatte mit mehreren Dingen zu tun: Einerseits sagte sich eine damals junge Komponistengeneration in Frankreich: „Diese technische Konzeption von Boulez bis Barraqué, der entspricht nicht unserer Vorstellung von Musik.“ Sie haben sich dann neu auf das Phänomen des Hörens fokussiert. Darauf, den Klang als etwas sehr Konkretes zu vermitteln und nicht als etwas, worüber man theoretische Beschreibungen abliefert, oder als etwas, das man quasi mit Hilfe von Konstruktionsplänen erzeugt. Es ging ihnen wirklich um die physische Qualität des Klangs an sich. Und gleichzeitig kamen damit auch Titel in die Musik zurück, wie man sie vielleicht zuletzt bei Debussy hatte, zum Beispiel „Treize couleurs du soleil couchant“ – „Dreizehn Farben der Abendsonne“ oder „La barque mystique“ – „Das mystische Boot“. Die Spektralmusik war tatsächlich einer der großen Befreiungsschläge für die Musik des 20. Jahrhunderts, mit großen Folgen für die Musik des 21. Jahrhunderts. Das ist eine Musik, die vollkommen anders klingt als die Nachkriegsavantgarde. Eine Musik, die wir in vielen sehr spannenden Werken im Festival präsentieren.
Zu Beginn bei „Burning Bright“ im Museumsquartier, am 3. November mit den „Percussions de Strasbourg“: Sechs Schlagzeuger spielen auf hunderten von Instrumenten aus allen Kontinenten in einem wunderschönen Bühnenaufbau und Lichtdesign von Enrico Bagnoli ein abendfüllendes Schlagzeugstück von Hugues Dufourt. Zentrales Bühnenelement ist ein Wasserspiegel, in den man durch diese Klangwelt wirklich eintaucht. Dufourt hat sich lange damit beschäftigt, welche Schlagzeuginstrumente irgendwo auf der Welt neu entwickelt worden sind, die er nicht schon vorher in seinem vor 40 Jahren ebenfalls für die „Percussions de Strasbourg“ geschriebenen ersten abendfüllenden Stück verwendet hatte, und er schuf damit ein Werk mit einer unglaublichen Klangsinnlichkeit. Die Bühne von Enrico Bagnoli in Verbindung mit dieser Musik haben etwas, das es sehr einfach macht, einen Einstieg in die „Musique spéctrale“ zu finden. Bagnoli hat Licht und Bühne für die berühmte Ring-Inszenierung mit Barenboim an der Scala gemacht. Ich habe ihn mit Dufourt in meiner früheren Funktion als Leiter des Festivals „rainy days“ in Luxemburg zusammengebracht und bin über diese Kombination sehr glücklich.
Der Besuch von „Burning Bright“ lohnt sich allein schon deswegen, weil die Aufführung ein Schritt der Weiterentwicklung vom „bloßen“ Konzert hin zu einer theatralen Form ist. Natürlich ist es rein instrumental, aber das Visuelle bekommt plötzlich dieselbe Aufmerksamkeit wie die Klangqualität. Beides fügt sich zu einer Art Gesamtkunstwerk zusammen, das gut dazu geeignet ist, einen Einstieg in diese Klangwelt zu finden.
Warum gibt es in diesem Jahr einen Frankreich-Schwerpunkt?
In diesem erwähnten Öffnen der zeitgenössischen Musik gab es immer wieder ganz große Impulse aus Frankreich. Die erwähnte „Musique spéctrale“ zählt dazu, die „Musique acousmatique“ oder die „Musique concrète“, auch der Umgang mit Filmmusik, wie man sie am 31. Oktober von Philippe Schoeller für den Film von Abel Gance „J`accuse“ erlebt. Was in Frankreich entstanden ist, ist in erstaunlicher Weise komplementär zu dem, was in Wien selbstverständlich ist. Wir zeigen dieses Mal einen vollkommen anderen Blick auf das Feld der zeitgenössischen Musik. Da ist Frankreich aus Wiener Sicht ein idealer Ohrenöffner, weil diese Musik teilweise eine so andere Ästhetik hat, als wir es aus der Wiener Tradition gewohnt sind – um es auf einen vereinfachten Nenner zu bringen.
Das merkt man eben beispielsweise an der vollkommenen Ungeniertheit, mit der orchestrale Farben gehandhabt werden. Gérard Grisey trägt in seinem Hauptwerk „Les Espaces acoustiques“ – ein weiterer der ganz großen Momente der „Musique spèctrale“ – an manchen Stellen einfach unverschämt dick auf. Das ist großartig, das hat etwas extrem Wohltuendes. Beispielsweise ist am Ende von „Modulations“, dem vierten der sechs Teile, ein unglaubliches Pulsieren des Orchesterklanges zu hören. Das hat tatsächlich eine extrem erfrischende Qualität in die neue Musik gebracht. Ich will in keiner Weise behaupten, dass das in Wien jetzt neu und noch nie da gewesen wäre. Es gehört ja sogar zu einer guten alten Wien-Modern-Tradition, einmal pro Jahrzehnt „Les Espaces acoustiques“ live in Wien zu spielen. Aber ich habe mir beim Lesen der Kritiken aus Salzburg, wo es heuer im Sommer aufgeführt wurde, wieder gedacht, dass diese Musik doch noch nicht genug bei uns angekommen ist. Ich bin aber der Überzeugung, dass wir inzwischen einen anderen Blick auf diese Musik haben können als vor 10 Jahren, weil mit jedem Jahrzehnt der Entfernung sich der Blick darauf schärft, was denn eigentlich die besondere Innovation gerade dieser Musik war.
Die zeitgenössische Musik, die wir heute haben, hat in ihrer enormen Breite, gerade wenn man zum ersten Mal hineinschnuppert, etwas Überwältigendes und Unübersichtliches. Deswegen bin ich sehr dankbar dafür, dass Wien Modern so ein großes Festivalformat ist, in dem man dann auch einmal einen Schritt zurücktreten und tatsächlich mit dem Abstand von einigen Jahrzehnten einen neuen Blick auf ein Meisterwerk werfen kann. Das tun wir an mehreren Stellen.
An welchen noch?
Das Floß der Medussa – Hans Werner Henze (Foto: Archiv – Wien Modern)
Eines der größten Beispiele ist Henzes Oratorium „Das Floß der Medusa“. Es war 1968 ein unerhörter Skandal, die Uraufführung ging in Hamburg in einem Tumult unter. 1971 fand dann die umjubelte Uraufführung in Wien statt. Das Werk hat erheblich dazu beigetragen, dass Henze mit seiner damals bekennend linkspolitischen Art, sich als Komponist in der Gesellschaft zu äußern, einen schweren Stand hatte. Wenn man das Werk aber heute anschaut, mit der Distanz von fast 50 Jahren, ist es absolut visionär. Wir haben im Katalog versucht, die damaligen Konflikte ein wenig sichtbar zu machen. Beispielsweise hat der „Spiegel“ 1988 Henze nicht dafür angegriffen, dass er – mit der Widmung an Che Guevara und dem Skandieren von Ho-Chi-Minh-Rufen am Schluss – zu linkslastig wäre, sondern dafür, dass seine Musik zu bürgerlich sei. Jetzt haben wir innerhalb dieses einen Werkes eine sehr komplexe, widersprüchliche Gemengelage: Ist es jetzt zu radikal oder zu rückwärtsgewandt? In der Aufregung rund um die Jahre der Uraufführung ist beträchtlicher Staub aufgewirbelt worden, der sich inzwischen gelegt hat. Man kann heute tatsächlich das Werk anschauen als das, was es ist: Ein großer Wurf eines Künstlers, der Ungerechtigkeiten seiner gegenwärtigen Gesellschaft wahrnimmt und der dazu Stellung nehmen und im Prinzip die Welt verbessern möchte.
Das ist ja ein absolut aktuelles Thema.
Vor Kurzem hat sogar der Internationale Währungsfonds dazu Stellung genommen, dass die Vermögen zu ungleich verteilt sind. Ganz davon abgesehen, dass man fast jeden Tag von auf dem Meer untergehenden Flüchtlingen hört, womit man wieder bei der Ursprungsgeschichte wäre, die Henze aufgegriffen hat, nämlich dem Untergang des Floßes der Fregatte Medusa im Jahre 1816. Das Thema ist tatsächlich heute von einer offensichtlichen Aktualität.
Gibt es heute wieder Musik, die sich politisch äußert?
Ich glaube, für die neue Musik ist schon viel gewonnen, wenn man spürt, dass sie von Menschen gemacht wird, die mit beiden Beinen auf der Erde stehen. Von Menschen, die sich Gedanken über unsere Welt, wie sie aktuell ist, machen, und die mit ihrer Kunst sich dazu äußern wollen. Damit ist ja nicht Parteipolitik gemeint, das kann schlicht und einfach ein Nachdenken über die Gesellschaft sein, über aktuelle oder ewige Fragen, die den Künstlern und Künstlerinnen am Herz liegen. Ich denke, im Vergleich zu diesem technischen, akademischen, abgehobenen Klischee, das sich manche noch von der neuen Musik machen, zeigt das gesellschaftliche Engagement und das Stellen wirklich zeitgenössischer Fragen in dieser Gegenwartsmusik, dass wir es hier durchaus mit einem sehr lebendigen Kunstbereich zu tun haben. Das sind genauso inmitten der Gesellschaft lebende Künstlerinnen und Künstler, wie es auch Theatermacher, MalerInnen oder TänzerInnen sind. Die Musik stellt die Fragen mit ihren Mitteln, aber ich finde es wichtig, dass man spürt, dass dieser Kunstbereich etwas zu sagen hat und sich zu den Fragen der Gegenwart artikuliert.
Gibt es etwas, worauf Sie selbst in diesem Programm besonders stolz sind?
Das große Wagnis, das wir heuer eingehen, ist tatsächlich diese Kombination großer Produktionen, von denen man gar nicht glauben möchte, dass ein Festival mit einem Budget in der Größenordnung von rund 1/60 der Salzburger Festspiele oder 1/15 der Wiener Festwochen so etwas zustande bringt. Die Kombination von „Floß der Medusa“ mit dem RSO, „J´accuse“ mit den Symphonikern, dem Eötvös-Portrait mit dem Klangforum Wien, dem Claudio Abbado-Konzert mit jungen Musikern der Musikuniversität Wien und des Conservatoire de Paris, „Les éspaces acoustiques“, und schließlich die herausragende Olga-Neuwirth-Produktion „Le encantadas“ mit dem Ensemble intercontemporain unter seinem Chefdirigenten Matthias Pintscher – diese 6 Produktionen zum 30. Jubiläum sind für mich tatsächlich das, worauf ich heuer stolz bin. Dass Wien Modern in der Lage ist, ein solches Paket zu schnüren – ich hoffe sehr, dass das tatsächlich auf viele, begeisterte Zuhörer trifft.
Könnten Sie auch ein einzelnes Konzert herausheben?
Wenn ich einen Moment gezielt herausgreifen soll, in dem das Festival etwas Besonderes wagt – ein Experiment mit durchaus offenem Ausgang –, dann ist es im Abbado-Konzert die Uraufführung von Iris ter Schiphorst, die sich wiederum ein sehr aktuelles Thema ausgesucht hat. Ich habe sie vor rund 2 Jahren auf das Thema „Bilder im Kopf“ angesprochen und sie gefragt, ob sie sich dafür interessiere, ein neues Orchesterstück dazu zu schreiben. Sie hat darüber nachgedacht und gesagt, das, was sie interessiere, sei ein Experiment rund um die Frage: Wie entstehen eigentlich die Bilder in unseren Köpfen? Dazu hat sie sich konkret ein Thema ausgesucht, das vor zwei Jahren schon aktuell war und jetzt brandaktuell ist: Was richtet es mit unserer Wahrnehmung an, wenn wir ein und denselben Text – in dem Fall altarabische Gedichte aus dem 6. Jhdt. nach Christus, in denen es darum geht, dass die Welt auf dem Kopf steht und nur tiefer Humanismus uns da heraushelfen kann – einmal von einer wie gewohnt aussehenden, westlichen Solistin gesungen hören und ein anderes Mal von einer Sängerin, die als verschleierte arabische Frau auftritt. Was passiert da in unseren Köpfen? Wir befinden uns heute inmitten einer öffentlichen Debatte um ein Verschleierungsverbot, das sich fast jeden Tag medial darin äußert, dass die Polizei irgendwelche Plüschhasen oder eine junge Studentin mit einem modischen Schal auf der Straße anhält. Das Thema ist gerade in aller Köpfe und löst ganz unterschiedliche Dinge aus. Das künstlerisch zu untersuchen ist tatsächlich ein Experiment, auf dessen Ausgang ich sehr gespannt bin.
Das Programm von Wien Modern finden Sie hier: Programm
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Ein Zimmer zu buchen ist nicht einfach. Wenn man nicht früh genug dran ist, mehrere Monate im Voraus. Die Rede ist nicht von In-Destinationen in Spanien oder von Salzburg zur Festspielzeit. Die Rede ist vom Semmering. Eine gute Autostunde von Wien entfernt.
Das Semmeringer Dilemma
Das hat ursächlich aber auch damit zu tun, dass das Zimmerangebot am Semmering seit diesem Jahr drastisch geschrumpft ist. Das Panhans, seit Jahren schon mit wechselnden Besitzern in den Schlagzeilen, hat nun endgültig seine Tore geschlossen. Angeblich sollen sie im Winter wieder geöffnet werden. Die Semmeringer selbst glauben aber nicht mehr daran. Zu oft wurden sie schon herb enttäuscht. Vor allem, wenn es um die großen, traditionsreichen Bauten ihrer Gegend ging. Einst Anziehungspunkte für eine mondäne, internationale Gesellschaft, ist vieles heute heruntergekommen und so manches an dubiose Investoren verkauft, die sich einen ordentlichen Profit mit einem Weiterverkauf der Immobilie nach einer Zeit x erhoffen.
Der Ort selbst weist noch einen Bäcker und einen Billa-Shop auf. Für alles andere muss man entweder auf der einen oder anderen Semmeringseite ins Tal fahren. Nach Gloggnitz oder nach Mürzzuschlag. Es ist schwer vorstellbar, dass in diesem Ort sommers einst ein reger Kurbetrieb herrschte und winters Tausende zum Skifahren kamen. Ruhig und beschaulich geht es dort heute zu. Ein gastronomisches Angebot ist zwar vorhanden, aber überschaubar. Wanderwege direkt vom Ort aus werden von Erholungssuchenden aber gerne begangen, defiliert man dabei doch bei der einen oder anderen Villa aus dem 19. Jahrhundert vorbei, die auch heute noch mit ihrer prachtvollen Architektur bezaubert. „Zu vermieten oder zu verkaufen“ ist dabei immer wieder an aufgestellten, gut lesbaren Schildern zu erfahren. Einige wenige dienen als Pensionen oder werden als Hotel genutzt. Einige wenige sind offenbar in guten Händen, renoviert und gepflegt, bei anderen aber scheint die Zeit stehen geblieben zu sein.
Kurhaus Semmering (Foto: European Cultural News)
Kurhaus Semmering (Foto: European Cultural News.com)
Die Kultur ist zurückgekehrt
Seit sechs Jahren aber ist am Semmering im Sommer – zumindest jeweils von Donnerstag bis Sonntag – dennoch wieder verstärkt Leben spürbar. Der Pianist und Dirigent Florian Krumpöck hat mit seiner Frau Nina Sengstschmid den Kultur.Sommer.Semmering vor drei Jahren übernommen. Er war 2011 vom inzwischen verstorbenen Präsidenten des Kulturvereines Semmering, Erich Reiter, ins Leben gerufen worden. Mit einem dichten Programm von heuer über 40! Veranstaltungen werden es bis Saisonende, Anfang September über 7000 Gäste gewesen sein, die zum Kunstgenuss auf den Semmering gekommen sein werden. Das mag man kaum glauben, wenn man einige Tage in der Beschaulichkeit des Luftkurortes verbringt.
„Wir hatten in diesem Jahr auch ein Paar, das für 13 verschiedene Vorstellungen Karten gekauft hat“, erklärte Krumpöck in einem Interview. Das zeigt, dass es neben Tagespublikum mittlerweile aber auch solches gibt, das zumindest einige Tage vor Ort bleibt. Wenn man von jeweils Donnerstag bis Sonntag alle angebotenen Vorstellungen konsumiert, ist es auch nicht schwer, bis zum Wochenendausklang schon die ein- oder andere Bekanntschaft gemacht zu haben. Zwar keine Kurbekanntschaft, wie dies früher der Fall war, aber immerhin eine Kulturbekanntschaft. Denn gerade die Möglichkeit, an vier, drei oder zumindest zwei aufeinander folgenden Tagen unterschiedliche, kulturelle Veranstaltungen besuchen zu können, ist für viele interessant.
Das Programm reicht von Lesungen über Konzerte, von Kabarett- und Zauberabenden bis hin zu einer Theateraufführung, die in diesem Jahr im Auftrag des Kultur.Sommer.Semmering entstand. Keine Geringere als Friederike Mayröcker konnte dafür gewonnen werden. „Oper!“ ist der etwas irreführende Titel des Werkes, das Otto Brusatti in Szene setzt. Darin zieht die Autorin ein, wie es im Programmheft angekündigt ist, „bewegendes Resümee über ihr Leben und ihr Schaffen.“
Kurhaus Semmering (Foto: European Cultural News.com)
Ein breit gefächertes Programm
„Es war eine ganz bewusste Entscheidung, unser Programm breit aufzustellen. Erstens gibt es ohnehin viele Spartenfestivals im Sommer und andererseits wollen wir auch wieder ganz bewusst an jene Tradition um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert anknüpfen, bei der sich Literaten, Musiker und Schauspieler am Semmering trafen. Diese bunte, kulturelle Vielfalt möchten wir einfach wiederbeleben“. Das gelingt dem Ehepaar Krumpöck / Sengstschmid vor allem durch sein großes Künstlernetzwerk, das es ihm erlaubt, viele klingende Namen auf den Semmering zu holen.
In diesem Jahr standen und stehen zum Teil noch Elisabeth Leonskaja, Tamara Metelka und ihr Ehemann Nicholas Ofczarek, Claus Peymann, Sunnyi Melles, Robert Meyer sowie viele, viele andere bekannt Namen auf den beiden bespielten Bühnen. „Dankenswerter Weise können wir sowohl im alten Kurhaus spielen, als heuer erstmals auch im Südbahnhotel. Das war eine Rettung in letzter Sekunde, nachdem das Panhans, in dem wir immer spielten, zusperrte“. Möglich macht dies im Südbahnhotel ein deutscher Industrieller, der einst Pläne hatte, in dem Haus wieder einen Kurbetrieb zu installieren, aber an mehreren Fronten damit scheiterte. Nun wartet das Haus, mittlerweile mit einem neuen Dach versehen, darauf, dass es von jemandem entdeckt wird, der damit vor Ort wieder Leben auf den Semmering bringt.
Das ehemalige Kurhaus gehört wiederum Kasachen. „Sie waren so kooperativ und haben die Spielstätte – den einstigen Speisesaal – und einige andere angrenzenden Räume – wieder so instandgesetzt, dass ein geordneter Spielbetrieb stattfinden kann.“ Krumpöck weiß um die Generosität der Besitzer, aber auch um die Fragilität des Veranstaltungsmodus, die damit zusammenhängt.
Südbahnhotel (Foto: European Cultural News.com)
Südbahnhotel (Foto: European Cultural News.com)
Der unglaubliche Charme der beiden Spielstätten
Auch wenn man alten Zeiten nachtrauert, ist es doch gerade der Charme dieser beiden alten Gebäude, der einen großen Reiz des Festivals ausmacht. Dabei wünschte man sich, dass die alte Meublage, ein Mix aus ursprünglicher und späterer Ausstattung, in beiden Häusern noch möglichst lange erhalten bliebe. Blank geputzte Messingtürgriffe, abgewetzte Kommoden, weich gepolsterte Fauteuils aus den 50er Jahren, originale Jugendstillampen – so aufgeputzt präsentiert sich das alte Kurhaus. Seine Balkone, einer vom anderen einst fein säuberlich abgetrennt, versprüht eine Zauberberg-Atmosphäre, wie sie Thomas Mann in seinem gleichnamigen Roman so anschaulich beschrieb. Dass es wenige hundert Meter Luftlinie tatsächlich auch am Semmering einen Zauberberg gibt, überrascht keineswegs. Im Sommer tummeln sich dort Rucksacktouristen, im Winter wird dort, dank Beschneiungs- und Lichtanlagen, auch nachts Ski gefahren.
Ganz anders wirkt das ehemalige Südbahnhotel. Ein von der Straße aus klobiger, riesiger Kasten, an dessen Schmalseite von der einstigen Aufschrift Südbahnhotel nur mehr die Lettern Hotel zu lesen sind. Aber auch sie sind irreführend. Zwar wartet es mit einem revitalisierten Gebäudeteil auf, in dem sich Wohnungen und sogar Büros befinden, Hotelbetrieb gibt es aber längst keinen mehr. Die Aufschrift Frisör und Atelier über ziemlich maroden Geschäftseingängen zeugen noch von Zeiten, in denen sich Damen und Herren bei längeren und kürzeren Kuraufenthalten einer dementsprechenden Verschönerung unterzogen. Heute herrscht im Inneren des Gebäudes aber nur mehr an jenen Tagen Betriebsamkeit, in welchen die Kunst regiert. Die schwere, dunkle Holzvertäfelung lässt bewusst getaktete Ausblicke auf einzelne, wohl platzierte Sitzgruppen zu. Neben der ehemaligen Bar – einst der letzte Designschrei mit seiner schwarzen Vertäfelung und der elegant geschwungenen Messingstange entlang des Bartresens – befindet sich heute eine improvisierte Labestelle mit dem Angebot von Cafe, Kuchen, Brötchen, Sacherwürsteln und Sekt – an Vorstellungstagen. Gesehen haben muss man die Toiletten, in denen sich bis auf neumodisch platzierte Mistkübel, seit rund hundert Jahren nichts verändert zu haben scheint.
Hohe Kunst mit viel Herz
Zu all dieser innenarchitektonisch exquisiten Atmosphäre kommt aber noch, dass die Künstlerinnen und Künstler in offensichtlicher Sommerfrischelaune ihre jeweiligen Programme darbieten. Ein gutes Beispiel dafür war das Duo Kropfitsch. Unter dem Titel „Wenn der Vater mit dem Sohne“ präsentierte Johannes Kropfitsch, Pianist und Prodekan der Fakultät Musik an der Musik und Kunst Privatuniversität Wien, seinen 11-jährigen Sohn Jakob. Abwechselnd intonierten sie Werke von Beethoven, Chopin, Schubert oder Haydn. Nicht nur die pianistischen Qualitäten, die dabei hörbar wurden, bezauberten das Publikum. Zu spüren, wie viel Spaß Jakob beim Spielen hat und zu sehen, wie stolz und liebevoll er von seinem Vater dabei unterstützt wurde, war ein ganz besonderes Erlebnis. Im hellen, großen Saal des Südbahnhotels, der auch heute noch durch seine historistischen Stuckaturen und großen Kronleuchter bezaubert, schwappten die Emotionen zwischen den beiden Künstlern und dem Publikum fühlbar hin und her.
Kropfitsch & Kropfitsch (Foto: Pia Klawatsch)
Zwischen drei und fünf Stunden würde er vor einem Konzert wie diesem üben, konnte man in der Pause von Kropfitsch Junior erfahren und auch, dass ihm das Spielen einen Riesenspaß machen würde. Der zufällige, kleine Gedankenaustausch ergab sich just vor der Herrentoilette, als der junge Pianist höchst charmant einer Besucherin den Weg zur Damentoilette wies. Er ist nicht nur jetzt schon ein wunderbarer Musiker, sondern auch ein scharfer Beobachter, ausgestattet mit der Fähigkeit, auf Menschen zuzugehen.
Man sollte sich unbedingt das Jahr 2025 in seinen Kalender eintragen, um sich dann eine Karte für eines seiner Konzerte zu sichern. Die technische Perfektion und die Spielfreude, die jetzt schon vorhanden sind, werden sich dann mit einer Lebenserfahrung gepaart haben, durch die Interpretationen zustande kommen können, die wahrscheinlich wie von einem anderen Stern klingen werden. Die Persönlichkeit, die dabei immer dahintersteht, stehen muss, ist schon heute bei Jakob Kropfitsch spürbar.
Petra Morzé wiederum gelang ein ganz anderer Draht zu ihrem Publikum. Sie las, begleitet vom Concilium musicum Wien, Texte rund um die Sommerfrische vor. Einige davon hatten direkten Bezug zum Semmering. So zum Beispiel jene Anekdote, nach der Peter Altenberg nach wenigen Tagen wieder abreisen wollte, da er keine Verbesserung seines Gesundheitszustandes bemerkte. Auf die Anmerkung, dass ein Homöopath die Aussage getroffen hätte, dass die Heilung einer Krankheit genauso lange dauern würde wie ihre Akquise, antwortete der scharfzüngige Literatur höchst pointiert: „Na, 16 Jahre kann ich aber nicht auf dem Semmering verbringen.“
Vor allem Morzés Interaktion am Ende ihres Programmes mit dem Klarinettisten Ernst Schlader, sorgte für allgemeine Heiterkeit im Saal. Während eines Vortrages, in dem eine Sommerfrische-Schönheit einem jungen Mann Avancen machte, berührte sie ihn ab und zu an seiner Schulter und warf ihm schmachtende Blicke zu, was den Musiker beinahe aus der Fassung brachte. Er, Meister seines Faches, der auf einem seltenen Nachbau einer Klarinette aus Mozarts Zeiten spielte, musste sich dem Charme der Burgschauspielerin geschlagen geben, die mit ihrer kleinen, aber umso feiner gesetzten Aktion die Herzen ihres Publikums eroberte. Der ehemalige Speisesaal des Kurhauses, in dem die Bühne unter der Musikerloge aufgebaut wurde, verströmt noch immer jene Eleganz, in welcher die noblen Kurgäste einst dinierten.
Petra Morzé (Foto: Pia Klawatsch)
Mit einem Minimalbudget zum Erfolg
Es sind diese ganz persönlichen Erlebnisse, in denen die Künstlerinnen und Künstler als Menschen spürbar werden, die den Zauber der Vorstellungen am Semmering ausmachen. Vielleicht liegt es auch daran, dass allen, die der Einladung von Krumpöck und Sengstschmid folgen, dieser Ort am Herzen liegt. „Wir können uns diese wunderbaren Künstlerinnen und Künstler eigentlich gar nicht leisten. Dazu haben wir zu wenig Budget. Es sind nicht einmal Freundschaftsgagen, die wir hier bezahlen. Deswegen freuen wir uns umso mehr, dass wir nun im dritten Jahr sehen, dass der Publikumszuspruch ständig steigt. Auch die Menschen, die uns vor Ort bei den Veranstaltungen helfen, tun dies nur, weil ihnen die Idee des Kultur.Sommer.Semmering am Herzen liegt.“
Ein Zimmer zu buchen ist nicht einfach. Wer sich aber noch in den nächsten Wochen dazu entschließt, den Kultur.Sommer.Semmering zu besuchen, sollte es dennoch versuchen. Wenn nicht im Ort direkt, dann eben in Gloggnitz oder Mürzzuschlag – oder irgendwo dazwischen.
Lemi Ponifaso wurde 1964 in Samoa geboren. Einzig seine grau melierten Haare deuten auf sein Alter hin. Die herzliche und offene Art, mit der Ponifasio einem begegnet und sein Lachen vermitteln aber eher das Gefühl, jemandem gegenüber zu sitzen, der noch sehr jugendlich ist.
Der Tänzer, Choreograf, Regisseur, Künstler und Designer lässt sich nicht in eine bestimmte Schublade stecken. Und er will alle diese Zuschreibungen nicht gelten lassen. Nach Jahren als Tänzer gründete er 1995 seine eigene Gruppe namens MAU. Die Menschen, mit denen er zusammenarbeitet, kommen wie er nicht vom Theater oder vom Tanz, sondern stammen aus seiner Communitiy – oft mit maorischen Wurzeln.
Er gastiert in den großen Metropolen der Welt, Hamburg, New York, Paris und pendelt dennoch ständig zu seiner Homebase Auckland, nach Neuseeland. Er wurde zur Biennale nach Venedig eingeladen und inszenierte in Canada ein Werk mit über 900 Menschen. In St. Pölten ist er nun bereits zum zweiten Mal. In seinem neuen Stück sind es „nur“ 9 Frauen, die auf der Bühne sind. Frauen, mit denen Ponifasio schon zusammengearbeitet hat und die ebenfalls aus seiner Community stammen.
Bereits seit über 10 Jahren arbeitet er verstärkt mit Frauen und Kindern zusammen, „vielleicht, um ihre Verletzlichkeit aufzuzeigen“. „Ich weiß eigentlich nicht wirklich, warum das so ist“, sagt er und fügt auch dazu, dass er eigentlich nicht glaubt, dass es Theater oder Tanz ist, was er macht.
Lemi Ponifasio (c) MAU
Theater ist eine bestimmte Art von Kultur, aber nicht zwangsläufig Kunst. Zu oft verwenden wir den Begriff von Kultur dazu, um die Unterschiede zu beleuchten. Das mag ich nicht. Ich möchte vielmehr das aufzeigen, was in allen Menschen gleich ist. Sonst können wir ja nicht darüber reden, wo wir leben und wie die Zukunft unserer Welt ausschauen kann. Das ist meine Haltung. Was immer ich auch mache – es kommt aus dieser Haltung. Egal ob das, was ich mache gut ist oder nicht. Ich mache das, weil ich Menschen zusammenbringen will. Aber ich muss das nicht unbedingt in ihrer oder meiner Sprache machen. Ich bringe nicht absichtlich europäische oder samoanische Kultur auf die Bühne. Ich arbeite mit dem, was ich kenne.
Entdecken Sie für sich Ihre Idee der Welt, wenn Sie mit verschiedenen Menschen zusammenarbeiten?
Nein, ich bin nicht Kapitän Cook! (Ponifasio lacht herzlich) Nein, das ist keine persönliche Arbeit. Ich möchte einfach Dinge verständlicher machen. Warum haben wir Flüchtlinge? Warum haben wir Kriege, warum haben wir Gewalt? Das sind keine persönlichen Fragen, sondern Fragen nach unserer Existenz. Ich habe einen Weg gefunden, diese Dinge aufzuzeigen.
Glauben Sie, dass Ihre Arbeit Menschen helfen kann?
Wenn Sie helfen im Sinne eines Arztes meinen, dann nicht. (lacht) Im bin ein Teil von dem, was Sie machen. Für mich gibt es zwischen Ihnen und mir keinen Unterschied. Sie sind ein Kommunikator und ich tue das gleiche. Ich bin einfach ein Teil davon. Und hoffentlich wird dadurch ein offener Raum und eine Öffnung zu allen Menschen hin kreiert.
Glauben Sie, dass das Publikum immer weiß, was Sie ihm erzählen wollen?
Ponifasio antwortet wie aus der Pistole geschossen: Nein! Und ich möchte auch gar nicht, dass sie etwas verstehen.
Was möchten Sie dann von den Menschen?
Ich möchte, dass sie sich etwas vorstellen. Eine Aufführung ist ja keine Situation wie in einem Klassenzimmer, sondern eine kreative Situation. Ich mache an Sie als Teil des Publikums einen Vorschlag und wir machen einen Austausch.
Die Beziehung von mir zum Publikum ist eine wechselseitige, das ist für mich wichtig. Ich bin kein Entertainer, der ein Produkt kreiert, damit Sie sich daran erfreuen können.
Standing in Time von Lemi Ponifasio (c) MAU
Was erwartet das Publikum denn in Ihrer neuen Arbeit?
In einer meiner Arbeiten „Tempest – without a body“ kam ein Engel vor, der herumwanderte und wie verrückt schrie. Das ist eine Vorstellung, die in mir nach wie vor eine Art von Meditation auslöst. Ich denke da an den „Engel der Geschichte“ von Paul Klee (Anm: Angelus novus), der von Walter Benjamin auch literarisch bearbeitet wurde. Und in diesem Stück nun nehme ich ihn wieder auf, denn ich glaube, dass der Engel immer versucht, die Welt besser zu machen. Ich habe das zwar nicht beabsichtigt, aber es fühlt sich jetzt so an.
Der Engel versucht sein Bestes, die Welt zu rekonstruieren und die Toten richtig zu begraben, was im Moment ein richtiges Problem in unserem Leben ist. Das ist das, was mir im Moment jetzt in meinen Kopf kommt, wenn ich darüber erzähle.
Was meinen Sie damit, die Toten richtig zu begraben?
Sie müssen ja nur Zeitung lesen!
Sprechen Sie damit die Kriege an?
Ja, selbstverständlich! Wir exekutieren Menschen, verbrennen sie oder werfen sie in Massengräber. Dabei vergessen wir ganz auf ihre Würde. Wenn wir ihnen diese Würde nicht geben, dann glaube ich, dass wir verrückt werden, das fühle ich. Für mich ist das auch ein Zeichen.
Das ist, als wenn man Kinder umbrächte, auch da wird man verrückt. Ich habe in Hamburg eine Arbeit mit dem Titel „The children of gods“ präsentiert, in dem es auch um diese Problematik geht. Das hört sich jetzt alles sehr schwierig an. Aber ich bin total optimistisch, dass in der Kunst, in einer bestimmten Weise, ein positives Gefühl herrscht, mit dem wir Probleme ganz offen ansehen können – sowohl mit unserem Bewusstsein als auch mit unseren Gefühlen.
Was machen die Frauen auf der Bühne eigentlich?
Die Frauen bringen Zeremonien auf die Bühne. Ich finde, wir haben das Theater so weit von der kosmischen Welt entfernt. Wir konzentrieren uns auf das menschliche Leben, als ob es eine Soap Oper wäre. Wir sprechen nur zu uns selbst. Wir vergessen die Bäume, den Himmel, die sind alle ein Teil davon. Ich bin der Meinung, dass wir die Zeremonien, die Götter, die anderen unbekannten Dimensionen auf die Bühne zurückbringen müssen.
Über Frauen denke ich zuallererst in einer sehr persönlichen Weise nach. Ich denke mir immer, was passiert eigentlich mit all diesen Frauen? Was passiert mit ihnen, wenn sie 25 sind – in einer Welt der Männer? Warum verschwinden sie? Das sind Fragen, die ich mir als Mensch stelle. Ich bin kein Feminist oder Frauenbefreier. Von dieser Seite komme ich nicht. Ich bin aber jemand, der etwas anspricht. Die Frauen auf der Bühne singen Lieder, die von ihnen selbst sind. Für mich ist das eine Stimme, die wir hören müssen, auch wenn wir sie nicht verstehen. Es kommen verschiedene Sprachen im Stück vor. Man muss aber nicht verstehen, was sie sagen, aber es ist wichtig, bei ihnen zu sein.
Zu Beginn dachte ich an die allererste Frau, an die pazifische Idee der allerersten Mutter. Diese Frau entdeckte, dass ihr Ehemann ihr Vater ist. Deswegen entschloss sie sich, in die Unterwelt zu gehen. Dort kümmert sie sich um die toten Kinder. Von hier aus kann ich alle Geschichten von der Welt ganz, ganz einfach verbinden. Und dann gibt es auch eine Frau der Gerechtigkeit, das ist eine wichtige Figur rund um den Erdball in Gerichtshäusern, diese Frau, die das Göttliche der Gerechtigkeit symbolisiert. Ich stelle mir die Frage: Was ist das eigentlich? Was ist Gerechtigkeit?
Warum ist Kunst denn eigentlich wichtig?
Wenn wir Kunst zu einer Sprache oder einem Beruf reduzieren, dann macht das wirklich keinen Sinn, das als Kunst zu bezeichnen, denn das ist dann keine Kunst mehr. Das ist dann einfach nur etwas Soziales, Zivilisiertes. Wenn man Kunst macht, sollte man aber versuchen, gerade von der Zivilisierung wegzukommen. Egal wie viel Geld man jemandem gibt, mit Geld kann man niemanden zu einem Künstler machen.
Kunst wird nicht im Parlament gemacht. Kunst wird auf der Straße gemacht, in den Ecken einer Gesellschaft. Dort, wo die Dinge nicht klar sind. Die Frage ist komplex. Ich bin nie in eine Kunstschule gegangen, aber ich habe einfach das Gefühl, dass ich gewisse Dinge ändern kann. Das Wort Künstler ist für mich irgendwie komisch.
Wie würden Sie sich selbst denn dann bezeichnen?
Ich weiß nicht. Zuallererst bin ich eine Person. Die meisten Leute, die ich kenne, sehen mich nicht als Künstler, sie kennen mich nur als Lemi. Aber ich bin eine Person, die etwas tun möchte, etwas verändern möchte. Ich will keine Karriere in einem bestimmten Beruf. Ich glaube, das ist das Problem mit Kunst. Die meisten Künstler sind nicht genug in ihrer eigenen Community präsent. Sie leiten ihre Communities nicht, sprechen nicht mit ihnen, gehen nicht in Bildungseinrichtungen. Wenn Künstler so etwas täten und dabei wahrgenommen würden, würden die Regierungen den Job der Künstler für wichtig erachten. Wenn das – wie heute – oft nicht der Fall ist, dann werden die Budgets einfach gekürzt. Einfach, weil wir nicht gesehen werden.
Für mich bedeutet Künstlersein eine Führungsposition innezuhaben. Die Frage ist: Wie kreieren wir das? Ich könnte mein ganzes Leben nur klassische Musik hören, mein Leben wäre deswegen nicht anders. Aber wie begeistern wir junge Leute, Führungsrollen zu übernehmen, über die Welt nachzudenken, über die Welt die wir kreieren? Welches Unterrichtssystem könnte gutes Leben anstelle von falschen Karrieren unterrichten?
Das Versprechen, Geld zu verdienen, wenn man Prüfungen abgelegt hat, stimmt nicht. Da ist kein Geld, keine wirklichen Jobs, wenn man einfach Prüfungen bestanden hat. Das ist eine Lüge. Der menschliche Fortschritt besteht darin, wie wir uns wirklich um uns kümmern. Wie wir uns zueinander verhalten, welche Verpflichtungen wir untereinander eingehen. Das definiert, wer wir wirklich sind. Und das sind die Dinge, die am allerwichtigsten sind – beim Kunstmachen, beim Gestalten des Lebens. Denn die Qualität unserer Beziehungen ist die Qualität unseres Seins in dieser Welt. Wenn ich eine schlechte Beziehung zu Ihnen habe, dann werde ich auch ein schlechtes Leben haben. Das ist ganz normal (lacht). Dieser Teil, welcher im Leben der schwerste ist, der Beziehungspart, ist jener, auf den man die meiste Aufmerksamkeit richten sollte. Aber wir kreieren eine Welt, in der es bequem ist, keine Beziehungen zueinander zu haben.
Im Theater versuche ich, dass sich die Menschen gegenseitig aufeinander beziehen. Es ist keine Art kommerzielle Aktivität, die hinter diesen Beziehungen steht. Mein Publikum sind keine Kunden, vielmehr eine Community, die versucht, mit etwas klarzukommen. Mir ist es egal, ob sie eine gute oder schlechte Zeit haben. Kunst ist nicht nur für die, die Kunst lieben. Sie ist auch für jene, die nicht mögen, was du machst. (lacht). Wir müssen einfach schöpferisch tätig sein.
Standing in Time von Lemi Ponifasio (c) MAU
Ich habe gelesen, dass Sie als Oberhaupt ihrer Community in Samoa vorstehen.
Ponifasio erschrickt etwas ob der Frage, windet sich, hält die Hände vor das Gesicht.
Dann die Antwort.
Nun, das ist wieder ein anderes Thema. Er zögert ein wenig. Ja, ich bin der Anführer meiner Leute.
Was heißt das konkret? Wie führen Sie ihre Leute?
Zuallererst muss ich eine gute Person sein. Da versuche ich mein Bestes zu geben. Und ich muss meine Leute versorgen. Mein Titel ist Sala – das die Bezeichnung der ursprünglichen Vorfahren, dem Claim. Ich bin sozusagen der lebende Claim – die Verbindung zu diesem – zum Land, zum Himmel und wo sie auch sind. Das ist etwas sehr, sehr Ernsthaftes. Aber das bedeutet nicht, das ich zum Beispiel der Präsident bin.
Es ist eine Position mit Verantwortung, auch mit Prestige, aber die Verantwortung überwiegt. Mit Ihnen jetzt zu sprechen gehört zu diesem Job dazu. Das zu tun, was ich tue, auch. Die Frauen, mit denen ich arbeite, sind nicht von Kunst- oder Tanzschulen. Es sind Menschen, von denen ich mir gewünscht habe, ein Teil ihres Lebens zu sein und hoffentlich auch Veränderungen in ihrem Leben und in ihrer Community herbeizuführen. Das ist das, was ich in dieser Position mache. Aber ich habe gerade etwas Angst, zugleich ist es auch sehr komisch, denn: Wenn ich nicht darüber spreche, dann respektiere ich die Menschen nicht, die ich vertrete. Aber wenn ich darüber rede, habe ich zugleich Angst und das Gefühl, ich sollte lieber nicht darüber reden. Denn erstens solle ich wirklich nicht darüber reden und zweitens ist der Rahmen der Menschen hier, die das hier hören, komplett anders als in meiner Commuity.
Möchten Sie Ihrem Publikum etwas sagen?
Nein, denn ich ziehe es vor, die Menschen eher einzuladen als ihnen eine Botschaft zu übermitteln. Ich glaube, jeder entscheidet für sich selbst, was die Welt ist, was man macht, worauf man trifft. Ich glaube, Kunst ist nicht nur dazu da, an der Wand zu hängen. Kunst ist etwas, das auf uns trifft und uns stimuliert, aktiv zu werden in verschiedenen Formen. Wenn nicht, sollte die Regierung uns das Geld dafür wegnehmen. (lacht)
Soll ich das wirklich schreiben?
Ja, das sollten Sie! Ich sage das oft zu Künstlern. Wenn ich zu Politikern gehe, dann sage ich natürlich blablabla. Aber Kunst ist nicht nur die Freiheit, alles zu haben, was man möchte. Es ist keine Freiheit abseits der Gesellschaft oder Regeln. Es ist vielmehr die Freiheit, mit allen zusammen sein zu können. Kunst ist die Freiheit, etwas zu öffnen – Künstler, Communities, Politiker, die Reichen und die Armen – einfach alle. Und es ist Idealismus. Denn ohne Idealismus gibt es keine Kunst.
Die neue Produktion, die die der Dschungel in Zusammenarbeit mit diverCITYLAB auf die Beine gestellt hat, trägt den Titel: „Nirgends in Friede. Antigone.“ Dabei haben Sie Regie geführt. Antigone kommt im Moment verstärkt auf die Bühnen. Hat das mit der aktuellen, politischen Situation zu tun?
Ja, schon. Antigone ist ja das Symbol des jungen, weiblichen Widerstands gegen eine ältere, männlich dominierte Gesellschaft. Sie steht zwar für junge Frauen, ich meine aber für junge Leute an und für sich. Zu dem Zeitpunkt, zu dem wir das Stück ausgesucht haben, gab es noch keinen Trump und keinen Erdogan, der gemeint hat, er müsste alle Macht an sich reißen. Aber es war schon alles in Vorbereitung und am Laufen. Aber schon im arabischen Frühling, auf den sich das Stück bezieht, waren es die Frauen, die sich als Allererste auf den Platz gestellt haben. Und auch in der Türkei waren es zuerst die Frauen, die gegen das Vergewaltigungsgesetz auf die Straße gegangen sind. Nachdem fünf von den Darstellern türkische Wurzeln haben, ist dieses Thema jetzt noch aktueller. Der Demokratiebegriff ist da vermehrt ins Spielgekommen, sei es in Europa mit der Türkei, die ja behauptet, im Gegensatz zu ihnen sei Europa so undemokratisch geworden. Da haben die jungen Leute jetzt noch einen ganz anderen Bezug dazu.
Nirgends in Friede. Antigone. (c) Rainer Berson
Aber ich finde, es zeigt einfach ganz viel. Aber man hat ja auch bei Trump gesehen, wer da schlussendlich auf die Straße gegangen ist, das waren die Frauen. Für mich war es auch wichtig ein Stück zu finden, mit dem junge Menschen etwas zu sagen haben. Das war mir auch ein Anliegen, weil das diverCITYLAB eine politisch sehr motivierte Gruppe ist. Das ist eine Institution, die gesellschaftspolitisch agiert und nicht nur auf dem herkömmlichen Weg ausbildet. Uns war klar, dass wir das Stück mit seinen vielen Facetten und Erzählungen in seiner ganzen Breite gar nicht bringen können und es musste sehr, sehr, sehr viel gestrichen werden. Und ich habe dann, weil das generell ein wichtiger Anteil meiner Arbeit ist, den persönlichen Bezug – es ist ja für Jugendliche ab 16, also für junge Erwachsene – gefragt, wo ist der Bezug zu ihnen? Was ich nicht so interessant finde, ist, ihnen einen Klassiker einfach so hinzuschieben, bei dem sie mit diesem schweren Textanteil dann einfach bombardiert werden und das unterrichtsmäßig abgehandelt wird. Ich finde eher das Aufbrechen und der persönliche Zugang, sowohl von den DarstellerInnen als auch dem Publikum, die Frage – was hat das überhaupt mit uns zu tun – wichtig für Theater für junges Publikum. Das Stück hat auf jeden Fall etwas mit der eigenen Situation zu tun.
Dieser Zugang zum Theater ist ja ein Charakteristikum von Ihnen.
Ja, so ist es.
Für sie ist ja die Beschäftigung mit Theater für junges Publikum, wie es jetzt auch im Dschungel genannt wird, ihr Hauptthema.
Seit es den Dschungel gibt auf alle Fälle. Aber mein Hauptthema war ja schon immer Frauen und der Gender-Aspekt. Es ging mir z.B. bei allen Boys-Stücken, die ich gemacht habe, um einen feministischen Blick, der aber nicht nur mit Frauen, sondern mit Menschen an und für sich zu tun hat.
Stoßen Sie eigentlich bei jungen Frauen mit Migrationshintergrund, die ja oft ein anderes Frauenbild von ihrer Familie vermittelt bekommen haben, bei ihrer Arbeit auch auf Widerstände?
Eigentlich nicht. Man darf diese jungen Frauen nicht unterschätzen, die wissen, was läuft. Diese jungen Frauen sind hier aufgewachsen, die leben vielleicht in zwei verschiedenen Welten, aber die wissen ganz genau, was hier abgeht. Diesbezüglich leben sie vielleicht auch in einer gewissen Diskrepanz, zumindest was ich erlebe. Sie sind aber auch nicht auf den Mund gefallen und wissen sich auch zu verteidigen und ihre Meinung zu sagen. Und ich denke, das stärkt sie in dem Moment, wenn sie andere Bilder von jungen Frauen im Theater sehen und um das geht es mir. Und für junge Männer, die vielleicht ein bisschen ein „eigenwilliges“ Frauenbild haben, haben wir ja auch ein Stück präsentiert. Bei „Blutschwestern“ gab es tatsächlich junge Männer, egal ob migrantisch oder nicht-migrantisch, die sich in Publikumsgesprächen entschuldigt haben. Die sind aufgestanden und haben gesagt: „Das ist nicht o.k., wie wir Frauen behandeln.“ Sie sind richtig betroffen gewesen.
Blutschwestern (c) Rainer Berson
Oder es gab auch junge Männer, die gesagt haben: „Oh mein Gott, ich fühl` mich jetzt eigentlich nicht wirklich gut.“ Es ging nicht darum, dass sich Männer nicht gut fühlen, es ging auf gar keinen Fall darum, dass Männer nicht in Ordnung sind. Sondern das ist ja immer so, dass wenn man für eine Sache spricht, heißt es ja nicht automatisch, dass man gegen eine andere antritt. Das wird oft so gedeutet und dagegen verwehre ich mich immer ganz deutlich. Wenn ich für Frauen spreche, dann spreche ich eben für Frauen und nicht gegen Männer und wenn sich ein Mann dadurch angegriffen fühlt, dann hat das mit ihnen zu tun und nicht mit der Ausgangssituation, mit der sie konfrontiert werden. Es sind 16, 20, 25-jährige junge Männer, Familienväter gekommen, zum Teil an den Wochenenden, sogar ohne ihre Kinder, nur weil sie es sehen wollten. Das zeigt eher, worum es mir geht.
Ich hatte jetzt bei einer Vorstellung der Antigone, in der ich nicht drin war, offensichtlich Stimmen von jungen Männern, die während der Aufführung reingebrüllt haben: „Was ist das für eine linke Scheiße!“ Mein Produktionsassistent hatte mir gesagt, dass ihm aufgefallen sei, dass die das identitäre Zeichen angesteckt hatten. Das habe ich so noch nicht erlebt.
Vielleicht, weil das jetzt ein Stück für 16 plus ist. Es waren aber nicht Menschen mit Migrationshintergrund, die da riefen, sondern Menschen aus Gymnasien, aus einem höher gebildeten Umfeld und das finde ich interessant, wenn dann so etwas kommt. Leider war ich an dem Tag nicht da.
Sie als Theatermacherin verfolgen ja einen politischen Standpunkt.
Ja, dem kommen wir ja nicht mehr aus!
Wie gehen Sie denn abseits ihrer eigenen Produktionen vor, die einen gesellschaftspolitischen Anspruch haben. Wonach suchen Sie sich die freien Gruppen aus, die im Dschungel auftreten?
Es kommt erstens ein bisschen auf die Altersgruppe an. Wir haben ein Stück für 1 bis 3-Jährige, da geht es um ganz andere Dinge, um die ersten Worte. Aber es gibt auch im jüngeren Bereich ganz viele Möglichkeiten, gesellschaftspolitisch zu agieren. Ein ganz wesentlicher Teil dabei ist für mich: Wer steht auf der Bühne. Bevor irgendetwas erzählt wird, erzählt das schon am Allermeisten. In welcher Position sind Menschen, die weiß, von ihrer Herkunft „bio-österreichisch“ sind, wenn ich das so ausdrücke, auf der Bühne? Ich mag es überhaupt nicht, von weiß zu sprechen und habe dafür eigentlich gar keinen richtigen Begriff. Aber welche Funktion haben sie auf der Bühne, das ist die Frage. Das kann man von Null bis Hundert durchziehen. Ich sehe die Besetzung ja nie so, dass aufgrund von Haar- Hautfarbe oder schlussendlich des Geschlechtes irgendeine Rolle zugeordnet sein muss. Bei der Besetzung von Antigone stand auch nicht die Herkunft, der Akzent oder das Aussehen im Vordergrund, sondern vielmehr, ob die Rolle zur Persönlichkeit des Schauspielers oder der Schauspielerin passt, oder nicht. Im Film ist diese Art der des Type- Castings ja ganz stark. Als dunkler, arabisch-türkisch-stämmiger Typus spielt man eher dann einen Drogendealer, Flüchtling oder den Türken.
Bis wir das in dem Medium einmal besprochen haben, da geht ja noch einmal was weiß ich welche Zeit ins Land. Das hat mit dem Verismo (Realismus )zu tun, wie man eine Gesellschaft abbilden möchte. Das machen wir nicht. Ich sehe unser Theater als eine Art der Utopie. Dinge anders zu sehen, anders zu benennen, anders zuzuordnen. Das ist ja auch die Kraft des Theaters, deshalb mache ich Theater, weil ich weiß, da kann ich ganz anders agieren, da habe die Möglichkeit, Dinge auch ganz anders zu behaupten, oder andere Bilder zu kreieren.
Sind da die Kinder und Jugendlichen prädestinierter, das offen aufzunehmen?
Zum einen muss man sagen, dass das Publikum durch die Schulklassen schon generell gemischt ist. Bei Gruppen ab 10, 12 Jahren, fragen die aus dem Publikum immer, wenn SchauspielerInnen unterschiedlicher Herkunft auf der Bühne sind: „Woher kommst du? Aha, dein Vater ist von dort und deine Mutter von da. Ja, meine Mutter ist auch von dort, aber mein Vater ist von dort“. Die vielen interkulturellen Eltern, bei welchen beide Teile aus anderen Kulturkreisen kommen, sind für mich heutzutage die Normalität. Die ist aber, außer im Tanz, in dieser Form auf den deutschen Bühnen noch sehr zurückhaltend zu finden. Ganz selten und vereinzelt wird jemand unabhängig der Hautfarbe oder Herkunft besetzt. Für mich ist das aber selbstverständlich, darum geht es mir. Obwohl ich das auch nie thematisiere. Dasselbe gilt für mich, wenn Menschen mit Behinderung auf der Bühne stehen, wie z.B. Adil, der bei mir und in vielen anderen Produktionen schon gespielt hat. Da geht es aber nicht um seine Behinderung, sondern um seine Persönlichkeit, die etwas zu sagen hat. Es geht um das Selbstverständnis, wie er sich innerhalb der Gruppe bewegt. Darum geht es mir. Ich versuche, das immer wieder zu sagen: Das ist so wichtig und so stark – das ist für mich das stärkste politische Zeichen, das ich überhaupt setzen kann und möchte, das ich supporte und forciere und auch immer wieder die anderen Gruppen darauf hinweise.
Boys Awakening (c) Rainer Berson
Ich habe schon den Eindruck, dass die Kinder sehr viel offener sind, was die Vorurteile und ihre eigenen Gefühle in Bezug auf Gerechtigkeit, Wahrheit, Lüge betrifft. Wie wir wissen, sind die Kinder ja alles keine Heilige, sind oft ungerecht und gemein zueinander. Aber im tiefsten Inneren verstehen sie diese ganzen Machenschaften. Sie können ja noch nicht nachvollziehen, warum jemand so oder so zu jemandem ist. Ich habe immer das Gefühl gehabt: Mein eigenes Kind ist farbenblind in der Schule. Der sieht nur, wie jemand ist und nicht, wie jemand aussieht. Je älter sie aber werden, wird das durch die Zuordnung der Schulen, durch das Trennen, anders aufgeteilt. Je nachdem in was für eine Schule man geht, gibt es Unterschiede. Aber mehrheitlich passieren dann andere Dinge wie wir wissen, denn da wird die Gesellschaft ja schon geformt oder zugeordnet, wer zu wem wohin gehört. Insofern glaube ich schon, dass sie eine größere Offenheit haben. Sie sind noch nicht so festgefahren auf irgendeine Meinung.
Wie ist es Ihnen denn im Laufe der letzten Monate in und mit der neuen Aufgabe als Leiterin des Dschungel gegangen?
Das Erste, was ich dazu sagen kann ist: Ich habe dafür 20 Jahre trainiert und ich kann alles, was ich hier brauche. Ich kann Buchhaltung, ich weiß, wie man eine Gruppe leitet, ich kann mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern umgehen, mit unterschiedlichen Künstlern, die Organisation habe ich ja 20 Jahre lang gemacht. Ich habe mich hier hingesetzt und es war eigentlich genauso wie früher, nur habe ich jetzt das Gefühl, dass ich mein Know-how auf einer sehr viel breiteren Ebene weitergeben kann. Dabei bin ich in meinem Verständnis als ältere Kollegin tätig, mache viel dramaturgische Beratung bei verschiedenen Gruppen. Mir ist überhaupt der Austausch, die Kommunikation mit den Künstlerinnen und Künstlern der Gruppen ein total wichtiges Anliegen, auch was das Inhaltliche betrifft. Wir reden einfach miteinander. Natürlich haben sie ihre Ideen und wir reden dann weiter darüber. Oder ich habe zum Beispiel ein Jahresmotto, das mir wichtig ist. Damit meine ich einen offenen Begriff, was dann auch etwas macht, ohne dass ich will, dass Leute Stücke explizit dafür machen. Ganz im Gegenteil.
Können Sie das Motto der nächsten Spielzeit schon nennen?
Ja, das Motto der nächsten Spielzeit kann ich schon sagen, es heißt: Wer rettet die Welt? Das ist auch ein bisschen ironisch gemeint, auch augenzwinkernd, aber auch sehr ernsthaft. Dabei habe ich gemerkt, dass dieses Thema sofort etwas auslöst. Dadurch habe ich das Gefühl, dass wir sehr viel gemeinsam an einer Sache arbeiten. Ich glaube, alle Gruppen hier am Haus sind sich bewusst, dass wir hier ein Theater mit einem gesellschaftspolitischen Anspruch machen.
Corinne Eckenstein (c) Rainer Berson
Sie sehen den Dschungel als ein ganz besonderes Haus mit einem ganz besonderen Auftrag.
Ich glaube, dass gerade dieses Theater kultur- und gesellschaftspolitisch so wichtig ist, weil wir wirklich Menschen erreichen, wo kein anderes Theater hinkommt. In der Musik am ehesten noch, aber sonst gibt es das nicht. Und gerade da gilt es doch, am allermeisten zu investieren. Ich will mich nicht beklagen, aber die Notwendigkeit und Wichtigkeit dieses Hauses hier, wird nicht richtig gesehen. Alleine schon wo dieses Haus liegt, an der besten Kulturadresse Wiens. Es wird international gesehen und ich habe immer wieder, wenn Leute von auswärts kommen, die glauben gar nicht, dass es so etwas gibt. Es ist einzigartig in dieser Form. Man könnte ein bisschen mehr damit leuchten und Wirkung nach außen setzen. Das vermisse ich halt leider nach wie vor, weil es halt „nur“ Theater für Kinder und Jugendliche ist. Das verstehe ich nicht. Die Umverteilung der Fördermittel macht es uns nun zusätzlich schwer, Kooperationen einzugehen. Vielen der Gruppen, mit denen wir zusammenarbeiten, wurden die Förderungen auf Null gekürzt. Das heißt, ich weiß noch nicht wirklich, wie wir hier weiter zusammenarbeiten können, weil hier das Geld nun definitiv fehlt.
Gibt es etwas, was Sie sich für die nächsten vier Jahre vorgenommen haben, was hier noch nicht implementiert ist?
Ja, noch eine größere Publikumsdurchmischung. Mit noch mehr Projekten unterschiedlichster Menschen und unterschiedlichster Herkunft. Mit noch mehr KünstlerInnen, die hier arbeiten. Des Weiteren ist es für mich auch wichtig, dass ein breiteres Angebot von Null bis über Zwanzig stattfindet. Aber auch noch eine stärkere, dafür stehe ich ja auch ein, Beteiligung von Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die mit angehenden Künstlerinnen und Künstlern dieses Haus weiter beleben. Ich möchte weiter dieses Haus als Stätte des Self-empowerments und Agierens anbieten. Da sind wir jetzt schon dabei mit dem Projekt Generation 16+. Wobei mir ganz wichtig ist, dass das auf einem professionellen Level passiert. Es geht auf gar keinen Fall darum, sogenannte Schüleraufführungen zu machen. Da ich ja selber schon seit ewig so arbeite, mit dieser Mischung aus Profis und Jugendlichen und Kindern auf der Bühne, auf einem ganz hohen Level, gibt es hier schon Regisseure, Regisseurinnen und Choreografinnen, die das weiterentwickeln und weiterverfolgen, das aufnehmen und die auch die Kapazität dafür haben. Auch diese Gleichwertigkeit auf der Bühne ist natürlich auch ein ganz klares, politisches Zeichen für mich. Hier sind nicht Kinder nur einfach Kinder oder Jugendliche einfach Jugendliche. Das sind alles Menschen, die eine Stimme haben und diese auf eine künstlerische und gesellschaftspolitische Weise formulieren. Und das in Zusammenhang mit Profis hebt natürlich auch das Niveau einer Produktion. Hier steht niemand auf der Bühne, nur weil es niedlich ist. Niedlichkeit ist nicht angesagt. Sondern ich möchte ein lebendiges, anspruchsvolles Theater.
Würden Sie den Satz unterschreiben: Theater kann etwas bewirken?
Auf jeden Fall! Es hat bei mir als Jugendliche viel bewirkt, sonst würde ich hier nicht sitzen.