von Michaela Preiner | Mai 8, 2018 | Begegnungen
Jörg Weinhöl (Foto: Werner Kmetitsch)
Der Choreograf und Tänzer Jörg Weinöhl legt mit Ende dieser Saison sein Amt als Ballettdirektor der Grazer Oper zurück. Er ist in Stuttgart groß geworden und hat dort bei einem Gastspiel des Hamburger Balletts John Neumeiers „Sommernachtstraum“ kennengelernt. Neumeiers Sommernachtstraum-Interpretation, die der damalige Leiter des Hamburger Balletts an der Hamburger Staatsoper schuf, ist Weinöhl, wie er sagte „tief innerlich bewusst geblieben“.
In diesem Gespräch erzählt er über seine Idee, den Sommernachtstraum nachzuträumen, aber er spricht auch über den Einfluss von Martin Schläpfer und den Grund seiner Auszeit in der kommenden Saison.
Warum haben Sie sich den Sommernachtstraum als letzte Arbeit an der Oper Graz ausgesucht?
Es war mein expliziter Vorschlag, schon als wir in der Planungsphase für das Haus steckten. Ich wollte den Sommernachtstraum nur in einer Zeit machen, in der das Publikum in eine laue Sommernacht entlassen werden kann. Die Arbeit von John Neumeier war eine Initialzündung für mich. Dort wird aber die Geschichte komplett linear erzählt, deswegen war mir klar, dass wir einen anderen Zugang dazu finden mussten.
Möchten Sie das Publikum ganz und gar verzaubern, oder hat die Grundlage für den Abend, Shakespeares Text, für Sie vielleicht sogar zeitgenössische Komponenten?
Das große Thema der Arbeit ist das Träumen und die Frage: Wie wäre es, wenn wir den Sommernachtstraum nochmal nachträumen? Der Aspekt des Träumens ist zwar essentiell, aber die Frage, dass Träumen in ganz andere Bereiche gehen kann, ist darin ebenso wichtig. Im Stück gibt es ja keine fließenden, sondern abrupte Übergänge. Diese Qualität, übergangslos in andere Bilder zu gehen, die reizt mich sehr. Vor allem sind die Figuren nicht in einem großen Weltenganzen aufgehoben, sondern sie sind auf der Suche nach sich. Und hier spielt ein anderes, wichtiges Thema für meine Arbeit eine Rolle: Die Natur. Alle Beteiligten gehen ja in den Wald und machen dort Erfahrungen, nach welchen sie nicht mehr einfach so zurückgehen können. Die Protagonisten werden ganz stark von den Erfahrungen im Wald beeinflusst.

Bárbara Flora (Titania), Simon van Heddegem (Oberon) Foto:© Leszek Januszewski
Das heißt, sie werden in ihrer Fassung von den Träumen nachhaltig beeinflusst. Sprechen Sie von einem großen Traum, oder von vielen, einzelnen Träumen?
Es ist ein großer Traum, den wir nachträumen wollen. Shakespeare hat dafür ja eine kongeniale Sprache geschaffen. Das andere ist die unglaublich faszinierende Musik von Mendelssohn. Als ich in der Vorbereitung über der Partitur saß, dache ich immer: Das ist wirklich ein Genie gewesen! Ich bekomme regelmäßig Gänsehaut, auch bei den Bühnenproben, wenn das Notturno gespielt wird. Mendelsohns Musik muss man auch einen Atem geben, denn jede Komposition steht da für eine eigene Welt. An dem Abend geht es auch darum, wie man diese musikalischen Aussagen verbinden kann und was eigentlich in den Zwischenräumen passiert. Ich habe ganz bewusst noch andere Musik hinzugefügt.
Welche?
Das Lied „Die Götter Griechenlands“ von Franz Schubert, den 2. Satz aus dem Klavierkonzert von Mozart Nr. 23. und von Brahms den fünfstimmigen A-Capella-Chor „Die Waldesnacht“. Der ist für mich wie ein Destillat dessen, was die Figuren im Wald erlebt haben. Und dann „Tous les mêmes“ des belgischen Sängers Stromae und „Immer wieder geht die Sonne auf“ von Udo Jürgens. Diese Dramaturgie der Musik gibt dem Mendelssohn noch mal die Möglichkeit, ganz anders in seiner Kraft zu strahlen.
Der Traum wird ja zunehmend aus unserer heutigen Gesellschaft verbannt. Wenn man sagt: „Du bist ein Träumer“, so hat das schon einen negativen Beigeschmack. Auf der anderen Seite hat seit Freud die Traumdeutung einen ganz zentralen Platz in der Psychoanalyse. Sie sprechen aber von einer Wandlung im Traum. Von etwas, aus dem man anders herauskommt, als man hineinging. Steht der Traum in Ihrer Interpretation vielleicht auch für etwas Anderes?
Ja, ich glaube, das sind so etwas wie Erkenntnismomente. Wenn ich in der Traumdeutung oder der Psychoanalyse über einen Traum gesprochen habe, so waren das immer Erkenntnisse. Ich würde Traum als Erfahrung, aber auch als Vision bezeichnen. Auch ich brauche meine Träume und Visionen, sonst würde es nicht zu so einem Abend kommen. Ein anderer Aspekt ist auch das Spielen, das kindliche Spielen. Für die Kinder ist der Rasen plötzlich das große, weite Meer, oder der Baum eine Palme. Diese Kraft gilt es auch für uns erwachsene Menschen wieder wachzurufen. Mendelssohn, der die Ouvertüre mit 16 geschrieben hat, hatte sicher auch Träume und ging einen eigenen Weg. Bei dieser künstlerischen Aufgabe ging es auch um die Frage: Wie begegnen wir diesen Werken? Nachspielen im Schauspiel ist etwas anderes, weil die Sprache anders zur Geltung kommt. Auch deswegen geht es mir nicht um die lineare Erzählung, sondern um das Thema des Traums.
Im Lauf der Arbeit hat sich für mich auch klar herauskristallisiert, dass der Abend auch einen Untertitel haben muss. Der heißt jetzt: „Sommernacht, geträumt. Ein Tanzspiel frei nach Motiven von William Shakespeares Sommernachtstraum“.
Inwiefern dirigiert Shakespeares Sprache auch Ihre Choreografie? Die Musik von Mendelsohn ist ja nicht mit Sprache unterlegt. Fließt Shakespears Diktum dennoch in die Arbeit ein?
Erstens gibt es eine Gemeinsamkeit zwischen dem Text und der Choreografie: Das ist die große Präzision, die große Genauigkeit. Es gibt an diesem Abend keine beliebige Bewegung. Jede Bewegung hat einen Sinn. Nicht in der Form, dass sie vom Publikum rückübersetzt werden muss, aber dass die Tänzer genau wissen, was sie machen und tanzen. Das zieht sich allgemein durch meine Arbeit. Es gibt kleine, humorvolle Stellen wie im Tanz der Elfen. Die kommen einmal zur Bühnenrampe vor und verziehen dann den Mund und machen sich in gewisser Weise über den Gesang lustig. Gleichzeitig geht es ja um die Wortlautbildung. Das ist ganz wichtig. Das andere ist die Arbeit mit den Protagonisten, bei der mit wenigen Bewegungen die jeweilige Figur charakterisiert werden soll. Dafür muss man den Shakespeare genau lesen und studieren und dann aber auch alles loslassen und schauen, was bleibt, um daraus dann die Bewegungen zu entwickeln, gemeinsam mit der Musik.
Ich habe zum ersten Mal mit der Dramaturgin Yvonne Gebauer zusammengearbeitet und mit ihr eine Partnerin gefunden, mit der ich ganz genau jede kleine Situation angeschaut habe. Das hat mich ganz stark in dieser Arbeit beeinflusst und unterstützt.
Die Udo Jürgens-Melodie steht an jener Stelle, an der alle den Wald wieder verlassen. Das ist ein Erkenntnismoment, aus der sich die Frage entwickelt: Wie geht man aus so einer Nacht eigentlich hervor? Wie geht man in etwas weiter von dem man weiß, dass man in das, was es vorher war, nicht mehr zurückgehen kann? Auch in die Konvention und Form, die es gab.
Würden Sie diese, Ihre letzte Produktion in diesem Haus als Ihren choreografischen Höhepunkt bezeichnen?
Ich habe im „Sommernachtstraum, geträumt“ viel, viel freier gearbeitet und mir liegt diese Arbeit tatsächlich ganz stark am Herzen. Nach „Meine Seele hört im Sehen“ dachte ich: Da ist mir jetzt etwas gelungen! Zugleich aber musste ich mich auch fragen, Wie mach ich das jetzt im Sommernachtstraum? Es ist eine schöne Arbeit mit dem Anspruch von mir, dem Publikum etwas Schönes als letztes Geschenk zu geben.

Chris Wang, Marina Schmied, Fabio Toraldo, Kana Imagawa, Daniel Myers, Astrid Julen © Laurent Ziegler
Wie würden Sie denn in aller Kürze Ihren eigenen, choreografischen Stil bezeichnen? Wenn Sie dafür in einem Lift nur die kurze Zeit einer Fahrt zwischen einigen Stockwerken zur Verfügung hätten?
Ich würde erzählen, dass Musik und die Stille eine wesentliche Grundlage meiner Arbeit ist und dass ich gemeinsam mit den Tanzkünstlerinnen und -künstlern die Bewegungen aus den Gesten des Alltags entwickle. Und zwar so, dass dann irgendwann die Gesten völlig verschwinden, aber eine Grundlage bilden. Und dann würde ich sagen, dass das jeweilige Thema, um das ich kreise, wesentlich ist.
Sie haben ja auch eine prägende Zeit mit Martin Schläpfer erlebt. Was war denn der wichtigste Impetus, den Sie von ihm mitbekommen haben?
Das eine ist das Vertrauen, das er mir in unserer Zusammenarbeit in der Entwicklung der tänzerischen Rollen geschenkt hat. Das andere aber auch die große Fürsorge und die Gewissenhaftigkeit, die man braucht, um für die Tanzkunst zu arbeiten, die er vermittelt hat. Ich glaube, dass ich von Null auf Hundert hier in die Position gehen konnte, Ballettdirektor zu werden – ich hatte ja vorher nur immer eine Garderobe und niemals ein Büro – hat sehr viel damit zu tun, dass ich die Arbeit von Martin unbewusst sehr genau beobachtet habe und mit ihm drei Neuanfänge erleben konnte. In Bern, in Mainz und in Düsseldorf. Das eine ist sein künstlerisches Arbeiten, aber das andere sind die Rahmenbedingungen, die er schafft und für die Tänzerinnen und Tänzer gesorgt hat.
Es gibt bei mir viele Situationen, in denen ich mir still denke: Ja genau Martin, das hast du mir gezeigt! Ich weiß, du hast es so gemacht, aber wie entscheide ich mich jetzt? Was noch dazukommt ist sein unermüdliches Schaffen, das mich beeinflusst hat . Wenn ein Tag hier am Haus 12 Stunden hat, dann gehe ich zwar müde, aber erfüllt nach Hause.
Wo geht denn Ihre weitere Reise hin?
In die Schweiz. Dadurch, dass ich mich relativ spät entschlossen habe, hier nicht mehr zu bleiben, gehe ich in ein Jahr, in dem ich eine Pause habe, um in Ruhe drüber nachzudenken, was alles gelungen ist, was alles war und wie ich gerne weiterarbeiten möchte. Es gibt derzeit noch keine künstlerischen Projekte und keine Perspektive, wie es weitergehen könnte. Ich muss sagen, dass mich die Arbeit als Ballettdirektor sehr erfüllt. Da gibt es keinen Bereich, von dem ich sagen könnte: Den möchte ich nicht machen. Ich finde es eine tolle Aufgabe. Es ist hier am Haus ja auch alles gut organisiert. Ich bin gerne Ballettdirektor und habe das Gefühl, dass wir hier in Graz etwas geschaffen haben, das vom Publikum bewusst wahrgenommen und geschätzt wird.
Was erwarten Sie sich von Ihrer bewusst gewählten Auszeit?
Ich erwarte mir von der Auszeit, dass etwas Neues kommen kann. Was immer dieses Neue auch ist. Wenn man so tief in den Abläufen des Alltages drin ist, kann das Neue nicht entstehen. Wenn ich etwas wirklich üben, lernen und vorbereiten möchte, sollte es in dieser Berufung weitergehen, dann: Wie kann ich mir im täglichen Geschäft Momente schaffen, in denen ich neue Inspirationen bekommen kann. Ich glaube, dass das eine Technik ist. Als Tänzer war es für mich kein Problem, wenn ich in der Kreativphase war, woanders hinzufahren und mir Stücke anzuschauen. Aber wenn ich als Ballettdirektor an einem Stück arbeite, kann ich das nicht mehr. Dann wird sogar eine Opernpremiere hier im Haus zur Qual, weil dann der Kopf die ganze Zeit woanders ist und ich mich fast schäme, weil ich nicht richtig in der Aufführung drin sitze. Ich möchte in der Auszeit auch verstehen, was alles gelungen ist und wo und wie es weitergehen könnte.
von Michaela Preiner | Mai 19, 2017 | Begegnungen
Lemi Ponifaso wurde 1964 in Samoa geboren. Einzig seine grau melierten Haare deuten auf sein Alter hin. Die herzliche und offene Art, mit der Ponifasio einem begegnet und sein Lachen vermitteln aber eher das Gefühl, jemandem gegenüber zu sitzen, der noch sehr jugendlich ist.
Der Tänzer, Choreograf, Regisseur, Künstler und Designer lässt sich nicht in eine bestimmte Schublade stecken. Und er will alle diese Zuschreibungen nicht gelten lassen. Nach Jahren als Tänzer gründete er 1995 seine eigene Gruppe namens MAU. Die Menschen, mit denen er zusammenarbeitet, kommen wie er nicht vom Theater oder vom Tanz, sondern stammen aus seiner Communitiy – oft mit maorischen Wurzeln.
Er gastiert in den großen Metropolen der Welt, Hamburg, New York, Paris und pendelt dennoch ständig zu seiner Homebase Auckland, nach Neuseeland. Er wurde zur Biennale nach Venedig eingeladen und inszenierte in Canada ein Werk mit über 900 Menschen. In St. Pölten ist er nun bereits zum zweiten Mal. In seinem neuen Stück sind es „nur“ 9 Frauen, die auf der Bühne sind. Frauen, mit denen Ponifasio schon zusammengearbeitet hat und die ebenfalls aus seiner Community stammen.
Bereits seit über 10 Jahren arbeitet er verstärkt mit Frauen und Kindern zusammen, „vielleicht, um ihre Verletzlichkeit aufzuzeigen“. „Ich weiß eigentlich nicht wirklich, warum das so ist“, sagt er und fügt auch dazu, dass er eigentlich nicht glaubt, dass es Theater oder Tanz ist, was er macht.

Lemi Ponifasio (c) MAU
Theater ist eine bestimmte Art von Kultur, aber nicht zwangsläufig Kunst. Zu oft verwenden wir den Begriff von Kultur dazu, um die Unterschiede zu beleuchten. Das mag ich nicht. Ich möchte vielmehr das aufzeigen, was in allen Menschen gleich ist. Sonst können wir ja nicht darüber reden, wo wir leben und wie die Zukunft unserer Welt ausschauen kann. Das ist meine Haltung. Was immer ich auch mache – es kommt aus dieser Haltung. Egal ob das, was ich mache gut ist oder nicht. Ich mache das, weil ich Menschen zusammenbringen will. Aber ich muss das nicht unbedingt in ihrer oder meiner Sprache machen. Ich bringe nicht absichtlich europäische oder samoanische Kultur auf die Bühne. Ich arbeite mit dem, was ich kenne.
Entdecken Sie für sich Ihre Idee der Welt, wenn Sie mit verschiedenen Menschen zusammenarbeiten?
Nein, ich bin nicht Kapitän Cook! (Ponifasio lacht herzlich) Nein, das ist keine persönliche Arbeit. Ich möchte einfach Dinge verständlicher machen. Warum haben wir Flüchtlinge? Warum haben wir Kriege, warum haben wir Gewalt? Das sind keine persönlichen Fragen, sondern Fragen nach unserer Existenz. Ich habe einen Weg gefunden, diese Dinge aufzuzeigen.
Glauben Sie, dass Ihre Arbeit Menschen helfen kann?
Wenn Sie helfen im Sinne eines Arztes meinen, dann nicht. (lacht) Im bin ein Teil von dem, was Sie machen. Für mich gibt es zwischen Ihnen und mir keinen Unterschied. Sie sind ein Kommunikator und ich tue das gleiche. Ich bin einfach ein Teil davon. Und hoffentlich wird dadurch ein offener Raum und eine Öffnung zu allen Menschen hin kreiert.
Glauben Sie, dass das Publikum immer weiß, was Sie ihm erzählen wollen?
Ponifasio antwortet wie aus der Pistole geschossen: Nein! Und ich möchte auch gar nicht, dass sie etwas verstehen.
Was möchten Sie dann von den Menschen?
Ich möchte, dass sie sich etwas vorstellen. Eine Aufführung ist ja keine Situation wie in einem Klassenzimmer, sondern eine kreative Situation. Ich mache an Sie als Teil des Publikums einen Vorschlag und wir machen einen Austausch.
Die Beziehung von mir zum Publikum ist eine wechselseitige, das ist für mich wichtig. Ich bin kein Entertainer, der ein Produkt kreiert, damit Sie sich daran erfreuen können.

Standing in Time von Lemi Ponifasio (c) MAU
Was erwartet das Publikum denn in Ihrer neuen Arbeit?
In einer meiner Arbeiten „Tempest – without a body“ kam ein Engel vor, der herumwanderte und wie verrückt schrie. Das ist eine Vorstellung, die in mir nach wie vor eine Art von Meditation auslöst. Ich denke da an den „Engel der Geschichte“ von Paul Klee (Anm: Angelus novus), der von Walter Benjamin auch literarisch bearbeitet wurde. Und in diesem Stück nun nehme ich ihn wieder auf, denn ich glaube, dass der Engel immer versucht, die Welt besser zu machen. Ich habe das zwar nicht beabsichtigt, aber es fühlt sich jetzt so an.
Der Engel versucht sein Bestes, die Welt zu rekonstruieren und die Toten richtig zu begraben, was im Moment ein richtiges Problem in unserem Leben ist. Das ist das, was mir im Moment jetzt in meinen Kopf kommt, wenn ich darüber erzähle.
Was meinen Sie damit, die Toten richtig zu begraben?
Sie müssen ja nur Zeitung lesen!
Sprechen Sie damit die Kriege an?
Ja, selbstverständlich! Wir exekutieren Menschen, verbrennen sie oder werfen sie in Massengräber. Dabei vergessen wir ganz auf ihre Würde. Wenn wir ihnen diese Würde nicht geben, dann glaube ich, dass wir verrückt werden, das fühle ich. Für mich ist das auch ein Zeichen.
Das ist, als wenn man Kinder umbrächte, auch da wird man verrückt. Ich habe in Hamburg eine Arbeit mit dem Titel „The children of gods“ präsentiert, in dem es auch um diese Problematik geht. Das hört sich jetzt alles sehr schwierig an. Aber ich bin total optimistisch, dass in der Kunst, in einer bestimmten Weise, ein positives Gefühl herrscht, mit dem wir Probleme ganz offen ansehen können – sowohl mit unserem Bewusstsein als auch mit unseren Gefühlen.
Was machen die Frauen auf der Bühne eigentlich?
Die Frauen bringen Zeremonien auf die Bühne. Ich finde, wir haben das Theater so weit von der kosmischen Welt entfernt. Wir konzentrieren uns auf das menschliche Leben, als ob es eine Soap Oper wäre. Wir sprechen nur zu uns selbst. Wir vergessen die Bäume, den Himmel, die sind alle ein Teil davon. Ich bin der Meinung, dass wir die Zeremonien, die Götter, die anderen unbekannten Dimensionen auf die Bühne zurückbringen müssen.
Über Frauen denke ich zuallererst in einer sehr persönlichen Weise nach. Ich denke mir immer, was passiert eigentlich mit all diesen Frauen? Was passiert mit ihnen, wenn sie 25 sind – in einer Welt der Männer? Warum verschwinden sie? Das sind Fragen, die ich mir als Mensch stelle. Ich bin kein Feminist oder Frauenbefreier. Von dieser Seite komme ich nicht. Ich bin aber jemand, der etwas anspricht. Die Frauen auf der Bühne singen Lieder, die von ihnen selbst sind. Für mich ist das eine Stimme, die wir hören müssen, auch wenn wir sie nicht verstehen. Es kommen verschiedene Sprachen im Stück vor. Man muss aber nicht verstehen, was sie sagen, aber es ist wichtig, bei ihnen zu sein.
Zu Beginn dachte ich an die allererste Frau, an die pazifische Idee der allerersten Mutter. Diese Frau entdeckte, dass ihr Ehemann ihr Vater ist. Deswegen entschloss sie sich, in die Unterwelt zu gehen. Dort kümmert sie sich um die toten Kinder. Von hier aus kann ich alle Geschichten von der Welt ganz, ganz einfach verbinden. Und dann gibt es auch eine Frau der Gerechtigkeit, das ist eine wichtige Figur rund um den Erdball in Gerichtshäusern, diese Frau, die das Göttliche der Gerechtigkeit symbolisiert. Ich stelle mir die Frage: Was ist das eigentlich? Was ist Gerechtigkeit?
Warum ist Kunst denn eigentlich wichtig?
Wenn wir Kunst zu einer Sprache oder einem Beruf reduzieren, dann macht das wirklich keinen Sinn, das als Kunst zu bezeichnen, denn das ist dann keine Kunst mehr. Das ist dann einfach nur etwas Soziales, Zivilisiertes. Wenn man Kunst macht, sollte man aber versuchen, gerade von der Zivilisierung wegzukommen. Egal wie viel Geld man jemandem gibt, mit Geld kann man niemanden zu einem Künstler machen.
Kunst wird nicht im Parlament gemacht. Kunst wird auf der Straße gemacht, in den Ecken einer Gesellschaft. Dort, wo die Dinge nicht klar sind. Die Frage ist komplex. Ich bin nie in eine Kunstschule gegangen, aber ich habe einfach das Gefühl, dass ich gewisse Dinge ändern kann. Das Wort Künstler ist für mich irgendwie komisch.
Wie würden Sie sich selbst denn dann bezeichnen?
Ich weiß nicht. Zuallererst bin ich eine Person. Die meisten Leute, die ich kenne, sehen mich nicht als Künstler, sie kennen mich nur als Lemi. Aber ich bin eine Person, die etwas tun möchte, etwas verändern möchte. Ich will keine Karriere in einem bestimmten Beruf. Ich glaube, das ist das Problem mit Kunst. Die meisten Künstler sind nicht genug in ihrer eigenen Community präsent. Sie leiten ihre Communities nicht, sprechen nicht mit ihnen, gehen nicht in Bildungseinrichtungen. Wenn Künstler so etwas täten und dabei wahrgenommen würden, würden die Regierungen den Job der Künstler für wichtig erachten. Wenn das – wie heute – oft nicht der Fall ist, dann werden die Budgets einfach gekürzt. Einfach, weil wir nicht gesehen werden.
Für mich bedeutet Künstlersein eine Führungsposition innezuhaben. Die Frage ist: Wie kreieren wir das? Ich könnte mein ganzes Leben nur klassische Musik hören, mein Leben wäre deswegen nicht anders. Aber wie begeistern wir junge Leute, Führungsrollen zu übernehmen, über die Welt nachzudenken, über die Welt die wir kreieren? Welches Unterrichtssystem könnte gutes Leben anstelle von falschen Karrieren unterrichten?
Das Versprechen, Geld zu verdienen, wenn man Prüfungen abgelegt hat, stimmt nicht. Da ist kein Geld, keine wirklichen Jobs, wenn man einfach Prüfungen bestanden hat. Das ist eine Lüge. Der menschliche Fortschritt besteht darin, wie wir uns wirklich um uns kümmern. Wie wir uns zueinander verhalten, welche Verpflichtungen wir untereinander eingehen. Das definiert, wer wir wirklich sind. Und das sind die Dinge, die am allerwichtigsten sind – beim Kunstmachen, beim Gestalten des Lebens. Denn die Qualität unserer Beziehungen ist die Qualität unseres Seins in dieser Welt. Wenn ich eine schlechte Beziehung zu Ihnen habe, dann werde ich auch ein schlechtes Leben haben. Das ist ganz normal (lacht). Dieser Teil, welcher im Leben der schwerste ist, der Beziehungspart, ist jener, auf den man die meiste Aufmerksamkeit richten sollte. Aber wir kreieren eine Welt, in der es bequem ist, keine Beziehungen zueinander zu haben.
Im Theater versuche ich, dass sich die Menschen gegenseitig aufeinander beziehen. Es ist keine Art kommerzielle Aktivität, die hinter diesen Beziehungen steht. Mein Publikum sind keine Kunden, vielmehr eine Community, die versucht, mit etwas klarzukommen. Mir ist es egal, ob sie eine gute oder schlechte Zeit haben. Kunst ist nicht nur für die, die Kunst lieben. Sie ist auch für jene, die nicht mögen, was du machst. (lacht). Wir müssen einfach schöpferisch tätig sein.

Standing in Time von Lemi Ponifasio (c) MAU
Ich habe gelesen, dass Sie als Oberhaupt ihrer Community in Samoa vorstehen.
Ponifasio erschrickt etwas ob der Frage, windet sich, hält die Hände vor das Gesicht.
Dann die Antwort.
Nun, das ist wieder ein anderes Thema. Er zögert ein wenig. Ja, ich bin der Anführer meiner Leute.
Was heißt das konkret? Wie führen Sie ihre Leute?
Zuallererst muss ich eine gute Person sein. Da versuche ich mein Bestes zu geben. Und ich muss meine Leute versorgen. Mein Titel ist Sala – das die Bezeichnung der ursprünglichen Vorfahren, dem Claim. Ich bin sozusagen der lebende Claim – die Verbindung zu diesem – zum Land, zum Himmel und wo sie auch sind. Das ist etwas sehr, sehr Ernsthaftes. Aber das bedeutet nicht, das ich zum Beispiel der Präsident bin.
Es ist eine Position mit Verantwortung, auch mit Prestige, aber die Verantwortung überwiegt. Mit Ihnen jetzt zu sprechen gehört zu diesem Job dazu. Das zu tun, was ich tue, auch. Die Frauen, mit denen ich arbeite, sind nicht von Kunst- oder Tanzschulen. Es sind Menschen, von denen ich mir gewünscht habe, ein Teil ihres Lebens zu sein und hoffentlich auch Veränderungen in ihrem Leben und in ihrer Community herbeizuführen. Das ist das, was ich in dieser Position mache. Aber ich habe gerade etwas Angst, zugleich ist es auch sehr komisch, denn: Wenn ich nicht darüber spreche, dann respektiere ich die Menschen nicht, die ich vertrete. Aber wenn ich darüber rede, habe ich zugleich Angst und das Gefühl, ich sollte lieber nicht darüber reden. Denn erstens solle ich wirklich nicht darüber reden und zweitens ist der Rahmen der Menschen hier, die das hier hören, komplett anders als in meiner Commuity.
Möchten Sie Ihrem Publikum etwas sagen?
Nein, denn ich ziehe es vor, die Menschen eher einzuladen als ihnen eine Botschaft zu übermitteln. Ich glaube, jeder entscheidet für sich selbst, was die Welt ist, was man macht, worauf man trifft. Ich glaube, Kunst ist nicht nur dazu da, an der Wand zu hängen. Kunst ist etwas, das auf uns trifft und uns stimuliert, aktiv zu werden in verschiedenen Formen. Wenn nicht, sollte die Regierung uns das Geld dafür wegnehmen. (lacht)
Soll ich das wirklich schreiben?
Ja, das sollten Sie! Ich sage das oft zu Künstlern. Wenn ich zu Politikern gehe, dann sage ich natürlich blablabla. Aber Kunst ist nicht nur die Freiheit, alles zu haben, was man möchte. Es ist keine Freiheit abseits der Gesellschaft oder Regeln. Es ist vielmehr die Freiheit, mit allen zusammen sein zu können. Kunst ist die Freiheit, etwas zu öffnen – Künstler, Communities, Politiker, die Reichen und die Armen – einfach alle. Und es ist Idealismus. Denn ohne Idealismus gibt es keine Kunst.
Weitere Infos und Kartenbestellungen auf der Homepage des Festspielhauses St. Pölten.