Zeitgenössischer Tanz, das klingt so hochtrabend!

Zeitgenössischer Tanz, das klingt so hochtrabend!

Interview mit Yvonne Birghan van Kruyssen,  Intendantin des Festival Szene Bunte Wähne

Wie lange sind Sie schon beim Festival Szene Bunte Wähne?

Seit Jänner 2012.

Das ist jetzt Ihre dritte Saison die Sie programmiert haben. Wird das Tanzfestival Szene bunte Wähne außer in Wien noch an einem anderen Ort gezeigt?

Nein, das ist wirklich nur für Wien. Unseren Hauptsitzt haben wir in Horn im Waldviertel und machen dort unsere Arbeit. Wir machen dort Projekte an Schulen, Vermittlungsprogramme und haben jährlich ein Art performing Programm. Begründet wurde dies vor nun schon 25 Jahren durch Stephan Rabl. Der großartige Gedanke dahinter war dass man internationales Theater für junges Publikum für das Landpublikum zugänglich macht. Für die Kinder und Jugend vor Ort. Dass man eben nicht nur einmal im Jahr nach Wien fährt, um ins Theater der Jugend zu gehen, sondern dass man wirklich das Angebot vor Ort nutzen kann. Ich komme ja aus Deutschland und ich muss sagen, ein Festival für zeitgenössischen Tanz in dieser Art ist ja wirklich irre. In Deutschland fängt man damit gerade jetzt erst an. Wir sind dort sehr gut vernetzt. Wir machen zum Beispiel jetzt Projekte mit dem Fußballklub oder wir haben in der Region zwei Theaterschulen laufen. Dort geben wir Theaterunterricht und arbeiten wir mit Schülern. Wir arbeiten mit dem Niederösterreichischen Architekturverband.

Ihr Tanzfestival hat ja jedes Jahr ein eigenes, übergeordnetes Thema.

Genau, dieses Mal ist es ja der „Traum vom Fliegen“. Im letzten Jahr war es „Das Meer in mir“, im nächsten Jahr werden es „Grenzgebiete“ sein. Wir befinden uns in Horn ja an der Grenze. Und Tanz als Kunstform ist ja auch eine Art Grenzgebiet. Das möchten wir gerne öffnen und immer wieder neu hinterfragen. Im Sommer haben wir eine Märchenakademie. Da werden Kinder Märchen erforschen, die auch zu diesem Thema bearbeitet werden.

Sind Sie selbst viel unterwegs, um sich viel anzusehen, oder kommt vieles auch auf Sie zu, weil das Festival ja bekannt ist.

Es gibt viele Gruppen die ich aus meiner früheren Arbeit kenne und die ich auch begleite. Da schaue ich, was es Neues gibt, was ist interessant bei ihnen, wie entwickeln sich die Gruppen. Aber ich schaue auch viel, fahre viel zu Premieren und schaue, was in verschiedenen Ländern gerade aktuell ist. Aber ich bekomme auch viel zugeschickt und dann fahre ich auch los und schaue mir das eine oder andere an, wenn es mich interessiert.

Sie sind schon eine ganze Zeit in diesem Metier tätig, waren es ja auch schon vor dem Festival. Haben sich die Inhalte der Aufführungen in den letzten Jahren verändert?

Es gibt immer aktuell politische Geschichten, die werden auch immer wieder neu bearbeitet oder mit neuen Gesichtsweisen versehen. Ich bin seit 15 Jahren im Kinder- und Jugendtheater und kann sagen, dass sich der zeitgenössische Tanz rasant weiterentwickelt. Das ist schön zu sehen, dass das auch hier in Österreich so ist. Wir können hier auf dem Tanzfestival fünf österreichische Produktionen präsentieren, insgesamt sind es 12. Dasselbe machen wir dann im Herbst genauso. Wir geben internationalen Gästen einen Fokus auf die nationalen Produktionen und zeigen damit, wie sie sich entwickelt. Und sie entwickelt sich sehr gut. Auch nicht zuletzt durch das Haus hier, an dem viel an Grundarbeit geleistet wird. Auch was Herr Rabl mit seinem eigenen Ensemble an zeitgenössischem Tanz hier entwickelt ist zeigens- und sehenswert.

Gibt es Unterschiede bei der Publikumsreaktion von Kindern und Jugendlichen was Tanz oder Theateraufführrungen betrifft?

Die Zugänge sind ähnlich offen. Man hat ja so eine Angst vor zeitgenössischem Tanz, das klingt schon so hochtrabend. Aber dieses Grundbedürfnis eines Kindes sich zu bewegen und die Bewegung zu sehen wie die Bewegung wieder zurückkommt, das ist einfach da. Ich glaube, dass wir daran arbeiten müssen, den Erwachsenen die Angst davor nehmen müssen in eine Tanzvorstellung zu gehen. Das ist bei Familienvorstellungen oder Vorstellungen für ganz Kleine gar nicht so das Problem. Aber wenn wir so ab 9+ denken, dann wird`s schon schwierig.

Die Entscheidungsträger, ob sie gehen oder nicht sind ja die Erwachsenen.

Genau. Bei den Kleinkindern ist das noch etwas anderes. Da geht man viel schneller als bei den Größeren. Das heißt dann, das interessiert die gar nicht, aber das stimmt nicht. Wir haben das gesehen bei „Nicht zu stoppen“ – das hat sie voll interessiert. Was die Jungs da auf der Bühne gemacht haben war so rasant. Das nehmen die dann auch so auf und zwar pur. Auch weil das ein Teil ihres Bewegungsalltags ist. Das wird oft unterschätzt.

Haben Sie auch direkte Rückmeldungen von Kindern oder Jugendlichen, die nach einer Vorstellung Lust bekommen haben auch so etwas zu machen?

Unsere Tanzvermittler kommen auch aus Tanzschulen oder Institutionen, die sich mit Tanz befassen. Die gehen ja direkt in die Schulen. Ja, es gibt diesen Zulauf, aber wie lange das dann anhält, ist etwas anderes.

Wechselt die Szene von den Choreografinnen und Choreografen sehr schnell oder gibt es einen Kern, der sich immer wieder mit Kinder- und Jugendtanz beschäftigt?

Es gibt tatsächlich welche, die sich nur damit befassen, aber es kommen auch immer wieder neue nach. Natürlich hat man auch immer Gruppen, die man immer wieder einlädt, weil sie so gut sind mit jungem Publikum und sich auch trauen, mit ihm etwas zu machen. So wie zum Beispiel die Eröffnungsproduktion „Tramway, Trott und Tiefkühlfisch“ von Nevski Prospekt mit Yves Duil??, der ja einen großen Namen hat in der Szene für junges Publikum. Und es ist immer wieder schön zu sehen, in welchen Konstellationen sie neue Sachen erarbeiten. Es war sehr schwer zu verkaufen. Denn war wir als Erwachsene kennen, diesen Trott, den wir jeden Tag immer wieder aufs Selbe erleben, projizieren wir ja eigentlich immer nur auf uns. Die Kids haben aber auch dasselbe Problem. Und die hatten so einen krassen Zugang zu diesem Stück, das war unglaublich. Wie sie sich gefreut haben, als plötzlich so ein Störelement in diesen Alltagstrott kam. Aber dadurch dass wir ja an zwei Schulen arbeiten, erfahren wir auch von den Kindern, die ihren Tagesablauf erzählen, der immer wieder derselbe ist und dass sie sich total freuen, wenn sie bei uns sind und mit uns spielen. Da merkt man dann auch, wenn die in gewisser Weise manchmal austicken. Weil es ihren Alltagsstress und Trott komplett durchkreuzt.

Ist es für Sie schwer, aus einer großen Fülle letztendlich nur eine kleine Schar an Produktionen zu präsentieren? Ich nehem an, dass der Hauptgrund ein budgetärer für die Auswahl ist.

Ja, in erster Linie ist das eine finanzielle Geschichte und: Ja, es ist schwierig. Man muss ja manches Mal auch „bedienen“. Man kann ja auch nicht sagen: Ich bringe jetzt nur das Beste vom Besten, das wäre natürlich großartig. Es ist zwar alles gut, was wir zeigen, dass ist ja nicht die Frage. Aber ich muss auch schauen, dass sich Produktionen für Altersgruppen, die einfach kommen, auch gut verkaufen lassen. Da muss ich auch manches Mal einen Kompromiss eingehen.

Welche Altersgruppe ist bei dem Festival am stärksten vertreten?

Das ist sehr gut aufgeteilt. Ich könnte aber viel mehr für die Allerkleinsten spielen. Das geht eigentlich automatisch. Damit hadere ich aber auch noch immer ein bisschen.

Warum?

Ein, zwei Produktionen finde ich in Ordnung. Aber ich möchte auch immer gerne Geschichten präsentieren und neue Formen zeigen. Wenn man zu viel für Kleine programmiert dann stimmt die Balance nicht mehr.

Gefällt Ihnen das Umfeld in dem Sie arbeiten, macht Ihnen das Spaß? Haben Sie für sich das gefunden, was Sie gerne machen?

Ja, voll! Das war mein Traum und ist mein Traum.

Wünschen Sie sich etwas für die nächste Zukunft?

Dass wir weiter arbeiten können und dass wir uns entwickeln können. Manchmal wünsche ich mir ein bisschen mehr Zeit. Wir sind drei Leute und wir drei wuchten die gesamte Geschichte. Diese zwei Festivals im Jahr plus unsere Projekte und Produktionen. Wir selbst produzieren nicht, aber wie co-produzieren . Wie zum Beispiel vor zwei Jahren mit einer holländischen Tanzkompanie und einer Berliner Theaterkompanie. (roses???), die wir im letzten Jahr gespielt haben. Und damit haben wir viel in Bewegung gesetzt, was zeitgenössischen Tanz für Kinder und Jugendliche in Deutschland betrifft. Wir haben auch Preise gewonnen usw. weil es eine besondere Form der Zusammenarbeit war und eine spezielle Form der Präsentation. Das ist wirklich viel. Wir haben im Mai eine große Produktion und im Juni eine große Produktion, alles mit Schülern. Das ist dann schon irgendwann ein wenig „fffhui“. Dann haben wir das große Festival im Waldviertel. Wir werden ja 25 Jahre alt. Da gibt es Feiern und viele Extra-Geschichten.

Wie sieht es denn mit der Finanzierung aus? Ist die stabil? Brauchen Sie mehr oder sagen Sie wir sind froh, dass wir das haben.

Wir mussten einen neuen Antrag stellen und haben eine Vierjahresförderung, die niedriger ist als vorher, aber ich bin sehr froh, dass wir sie bekommen haben. Es ist nicht viel, finde ich, für das, was ich eigentlich auferlegt leisten soll, weil die Häuser in denen wir spielen ja auch bezahlt werden wollen. Wir spielen ja auch hier nicht frei, sondern wir müssen das hier alles frei finanzieren. Ein bisschen mehr wäre schon schön? 2017 läuft die Förderung aus. Meine erste Amtshandlung war, den Antrag zu schreiben. Aber wir haben das Geld dann bekommen. Ich musste mich entscheiden, ob ich mit der Reduzierung auskomme oder mit der Unsicherheit, dass ich jedes Jahr neu beantragen muss. Ich habe mich für die Sicherheit der vier Jahre entschieden. Wir sind heuer in der großartigen Situation, dass uns drei Botschaften unterstützen. Das gab es bisher noch nicht. Das ist das erste Mal, dass auch die Botschaften an uns herangetreten sind.

Welche Botschaften sind das?

Luxemburg, die flämische und die holländische Repräsentanz. Ich habe selten so schöne Gespräche gehabt, das ist etwas ganz Seltenes. Und ich habe auch für das Herbstfestival Botschaften, die uns angerufen haben.

Woher kommt das Interesse von dieser Seite?

Wir hatten letztes Jahr im Herbst einen Dänemark-Schwerpunkt und die Dänische Botschaft war so begeistert, dass sie uns in diesem Jahr das selbe Geld noch einmal zur Verfügung stellen. Wir hatten eine tolle Eröffnung, den Menschen hat es voll getaugt. Es waren so viele Leute aus dem Waldviertel da.

Wie geht´s Ihnen persönlich im Waldviertel?

Sehr gut! Ich liebe es.

Ist Ihnen dort nicht zu viel Wald und zu viel Viertel?

Am Anfang schon. Ich bin ja direkt aus Berlin nach Horn gezogen. Die erste Woche war ein bisschen schwierig, die zweite auch noch, weil es  dort so ruhig ist, dass ich gar nicht schlafen konnte. Dann habe ich aber einfach tolle Menschen kennengelernt. Und ich bin dort jetzt ein Teil der Stadt. Das ist einfach ein ganz, ganz tolles Gefühl. Ich habe das gerade erlebt, dass jemand zu mir gesagt hat: Du, wir haben Dir das noch nicht gesagt, aber Du gehörst zu uns. Das ist etwas ganz Schönes, weil man weiß, dass man etwas in den drei Jahren richtig gemacht hat.

Das heißt, sie haben auch vor, zu bleiben.

Ja, auf jeden Fall. Ich bleibe da.

Dosen sind zum Spielen da. Und Ketchup auch!

Dosen sind zum Spielen da. Und Ketchup auch!


 „Blechgeflüster“ vom Theater der Figur bezauberte die Allerkleinsten bei einem Gastspiel im Lilarum in Wien

Na das ist ja unglaublich, was diese bunten Dosen da so anstellen! Schau mal, die tanzt! Und die Blaue da, nein, das ist ja ein Blauer – der balanciert doch tatsächlich auf einem Seil. Hoch hinauf, zu seiner verehrten Gelben.

 Rot, gelb, weiß, grün und blau sind sie. Und zwei Augen haben sie und einen roten Mund. Klein sind sie und mittelgroß und gaaaanz groß, die bunten Dosen im Stück „Blechgeflüster“ vom Theater der Figur aus Nenzing in Vorarlberg. Mit dem musikalischen Theaterstück für Kinder ab 3 Jahren gastierte es im Lilarum in Wien und verzauberte das junge Publikum im Handumdrehen. Dabei beginnt doch alles ganz unspektakulär. Ein Mann geht in den Supermarkt einkaufen – Dosen klarerweise. Wieder und wieder kommt er, und die Dame an der Kasse macht, was alle Kassendamen so machen. Sie zieht eine Dose nach der anderen über die Registrierung, die jedes Mal laut piepst. Jedes Kind kennt diese Ausgangssituation. Hat es sie auch schon ungezählte Male selbst erlebt.

Doch dann geschieht etwas Unerwartetes. Die Kassierin steckt ihre Arme in zwei gelbe Dosen und beginnt ein kleines Dosenballett zu den Klängen einer Rumba. Jetzt ist der Alltagstrott durchbrochen und die Dosen sind unter der Patronanz von Sabine Wöllgens und Johannes Rausch die Hauptdarsteller in einer kleinen Revue. Sie schaukeln auf Wippen und heben damit in die Lüfte ab, versuchen eine Schräge zu erklimmen, ohne dabei abzurutschen, oder präsentieren unter Trommelwirbel einen Balanceakt. Als es der Blauen schließlich gelingt, das Seil hinter sich zu lassen und sich neben die verehrte Gelbe auf sicheren Boden zu stellen, applaudieren die Kinder laut.

Schwuppdiwupp – schon verändert sich die Szenerie zu einem Fußballfeld. Ganz wie in den großen Arenen erklingen Schlachtgesänge der Fans, aber auch eine feine Interpretation des international bekannten Fußballliedes Olé und gleich darauf die Melodie „Auf in den Kampf“ aus Bizets Carmen. Zwar haben die Kleinen hier noch keinen auditiven Wiedererkennungswert, aber den Erwachsenen macht eine so liebevoll gestaltete musikalische Begleitung natürlich großen Spaß. Matthias Bitschnau hat mit dieser Musik Witz und Feingefühl zugleich bewiesen.

Nach all diesem Dosengeplänkel geht es jetzt erst richtig zur Sache, denn auf der Bühne erscheint der eigentliche Herrscher über dieses bunte Blechreich – eine Ketchup-Flasche. Sie bringt gehörig Unruhe in die bunte Schar, schafft es aber schließlich doch, dass alle in Reih und Glied stehen und sich schrecklich vor ihr fürchten. Bis auf die Allerkleinste. Rot ist sie, so wie die Ketchup-Flasche selbst und vielleicht deswegen mit so viel Mut ausgestattet. Denn sie ist es nicht nur, die der Ketchup-Flasche Paroli bietet, sondern auch gegen die riesige Dosenquetsche in den Kampf zieht, die die bunten Freunde bedroht. Donner und Regenprasseln stimmen das junge Publikum darauf ein, dass jetzt ein dramatischer Augenblick kommt – und tatsächlich herrscht im Saal plötzlich Stille. In den ungleichen Kampf zwischen David und Goliath mischt sich schließlich doch noch die Ketchup-Flasche ein und rettet – in letzter Sekunde, das kleine Döschen durch wildes Bespritzen der Todesmaschine mit rotem Ketchup. Unter lautem Gejohle der Kinder – das versteht sich fast von selbst.

Im Anschluss an die Vorführung durften die Kleinen auf die Bühne und die blechernen Darstellerinnen und Darsteller auch angreifen. „Das sind ja richtige Dosen!“ rief ganz erstaunt ein Dreikäsehoch. Gibt es ein bezaubernderes Lob?

Eine kleine Geschichte zu einem ganz großen Thema

Eine kleine Geschichte zu einem ganz großen Thema

„Flugversuche“ des Agora Theater beim Tanzfestival Szene bunte Wähne im Dschungel Wien beeindruckte mit einem schwierigen Thema

Gutes Kindertheater unterscheidet sich nicht von gutem Theater für Erwachsene. Es muss spannend sein, berühren, es muss eine Geschichte erzählen, die zum Nachdenken anregt und es muss gut gemacht sein. Alle diese Kriterien treffen auf die Inszenierung „Flugversuche“ des Agora Theater aus Belgien zu. Unter der Regie von Daniela Scheuren gastierte die Truppe beim 18. Internationalen Tanzfestival Szene Bunte Wähne im Dschungel in Wien. Und beeindruckte außerordentlich.

Sie sind zu Dritt. Gabriella, Lucie und Raph. Letzterer befindet sich noch im Status eines Praktikanten oder zumindest eines Berufsanfängers, die beiden anderen haben schon Übung in ihrem Metier. Sie verrichten eine Arbeit, die überaus schwierig ist, sind sie doch dazu auserkoren, Sterbende zu begleiten. Sterbende auf der ganzen Welt, egal ob in Europa, Afrika oder Amerika. Sie sind überall dort, wo man sie braucht und begleiten die Menschen in ihren letzten Tagen und Stunden oder auch nur Sekunden und sie sammeln ihre Seelen ein.

Sie sehen aus wie du und ich, tragen keine Flügel, aber gebärden sich, als ob sie sich in einem Büro befänden. Chefin (Annika Serong), Angestellte (Viola Streicher) und der Jungspund (Joé Keil) erhalten ihre Aufträge von ganz oben und sind bemüht, diese gewissenvoll auszuführen. Um ihre Arbeit zu erklären, heften sie Portraitfotos von Menschen an eine Leine, deren Namen, Todesursache und Kontinent benennen, den sie bewohnten. Ausgestattet sind sie mit zwei Multifunktionsmöbelstücken, die leicht antik wirken und mit allerlei Gerätschaften versehen sind. Als Flügelersatz trägt Raph zwei überkreuzte Gitarren auf seinem Rücken, die später zum Einsatz kommen werden. Lucie hingegen hat ein kleine Harmonika bei sich auf der sie hin und wieder spielt.

Die Geschichte von Peter, Bella und seinem Urgroßvater

Der Plot bleibt aber nicht abstrakt, sondern schon bald wird die Geschichte von Peter, seiner Großmutter Bella und seinem Urgroßvater erzählt. Jenem Mann, der als Rebell starb und der seiner Tochter das bekannte Revolutionslied „Ciao bella“ hinterließ. Der kleine Junge wird durch eine berührende Puppe dargestellt, die mit großen Augen in die Welt schaut. Er liebt seine Oma und kann gar nicht genug davon bekommen, wenn sie von seinem Urgroßvater erzählt und ihm das Lied vorsingt. Bis seine Großmutter stirbt. Daniela Scheuren verpackt das in eine einfühlsame Szene, abermals mit einer Puppe, welche die alte Dame mit einem Kopftuch in einem Krankenhausbett liegend zeigt. Lucie an ihrer Seite lässt sie nicht allein, aber hilft ihr auch dabei, sich an alte Zeiten zu erinnern und lauthals Janis Joplin zu intonieren. Die unglaublich kreativen und wandelbaren Requisiten, aber auch die Puppen schuf Céline Leuchter und drückte der Inszenierung damit einen ganz persönlichen Stempel auf.

Nachdem die Seele der Großmutter durch das Öffnen der Saaltüre aus dem Raum fliegen durfte, muss der kleine Peter in der Trauergemeinschaft den Totencafé über sich ergehen lassen. „Die Trauer ist die große Schwester der Traurigkeit, die nie gehen will und einen wie ein schwarzer Hund begleitet“. In dieser bildhaften Metapher wird jenes Gefühl beschrieben, mit dem der kleine Junge überhaupt nicht umgehen kann und das ihn schließlich dazu führt, auf den Kirchturm zu steigen. Dort möchte er nichts anderes mehr als fliegen. Und wird schließlich durch den unerlaubten Eingriff der drei Cherubime vor dem Tod gerettet. Dass das für sie Konsequenzen hat, ist klar. Mit harten Schlägen fallen sie auf den Boden ins Hier und Jetzt, beraubt ihres Amtes.

Der wunderbare Text, der so viele poetische wie auch kluge Sätze zugleich enthält und zum Schluss noch mit einem zabuerhaften Engelsgedicht von Rainer Maria Rilke aufwartet, gleitet nie in einen sentimentalen Kitsch. Auch wartet das Geschehen mit keinen psychologischen Beschwichtigungspillen auf. Die liebevolle Art der drei Wesen, die zarte Musik, die sie produzieren und die Vermittlung, dass die Seelen der Menschen fliegen können, lässt jedoch keine dumpfen Angstgefühle aufkommen. Zwar gibt es einige Tanzszenen wie jene, in der Lucie unbedingt sterben üben möchte und dies zu den Klängen von Schwanensee und unter der strengen Beobachtung ihrer Chefin auch tut. Das rein spielerische Element ist in der Inszenierung jedoch stärker und die Erzählung auch durch Texte begleitet, sodass sich „Flugversuche“ nicht als klassisches Tanztheater präsentiert. Das Thema, das für diese Produktion gewählt wurde, Tod und Trauer, könnte schwieriger nicht sein. Und doch gelingt hier eine Aufarbeitung, die Kindern, aber auch Erwachsenen dabei hilft, sich damit auf eine Weise auseinanderzusetzen, die man fast als therapeutisch bezeichnen kann.

„Hinsehen, hinsehen, nicht wegsehen, das ist das Schwierigste überhaupt!“ Eine Mahnung, die vordringlich an die Erwachsenen im Publikum gerichtet ist und eindringlicher und liebevoller nicht mehr vermittelt werden kann. Eine kleine Geschichte mit einem großen Thema wird hier zu großer Theaterkunst.

Jeden Tag der gleiche Trott

Jeden Tag der gleiche Trott

„Tramway, Trott & Tiefkühlfisch / Nine to five“ eine bemerkenswerte Produktionen im Rahmen des 18. Internationalen Tanzfestivals Szene Bunte Wähne für junges Publikum

Tanzvorstellungen sind generell schwerer zu verkaufen als Produktionen, die das Label „Theater“ tragen. Tanzvorstellungen für Kinder sind noch einmal ein Kapitel für sich. Dass es aber sogar ein Festival gibt, das sich diesem Genre widmet, ist Stephan Rabl zu verdanken, der dieses vor nunmehr 18 Jahren ins Leben rief. Im Dschungel Wien hat dieses Festival seine Heimstatt. Einige der gezeigten Inszenierungen waren es wert, nicht nur von Kindern, sondern auch von Erwachsenen gesehen zu werden. Sowohl was den Inhalt, aber vor allem, was die künstlerische Arbeit anlangt.

Wie „Tramway, Trott & Tiefkühlfisch / Nine to five“ der Gruppe Nevski Prospekt aus Belgien. Im Original heißt es „Métro Boulot Dodo“ und ist ein umgangssprachlicher Ausdruck für einen eintönigen Tagesablauf. Vier Männer in grauen Anzügen stehen allmorgendlich nach dem Klingeln des Weckers auf, machen sich auf den Weg, treffen sich in immer derselben U-Bahn, fahren ins Büro und arbeiten sich an Bergen von Papier ab. Zu Mittag wird aus einer kleinen Box geluncht, nach Dienstschluss der Körper noch brav im Fitnesscenter trainiert, um danach erschöpft wieder ins Bett zu fallen. Gregory Caers, Tom Ternest, Ives Thuwis-De Leeuw, Wim de Winne, Patrick Vervueren sind für Idee und Choreografie und die Performance selbst verantwortlich. Und wie sie performen! Der hier beschriebene Alltagstrott wird von einem teils realistischen Soundlayer begleitet, der den Eindruck erweckt, sich tatsächlich in der U-Bahn oder im Aufzug zu befinden.

So eng sie sich auch bei ihrer Fahrt ins Büro aneinander quetschen müssen, so sehr sie Hand in Hand ihrer Arbeit nachgehen, kommuniziert wird eigentlich gar nicht. Jeder für sich, keiner für den anderen. Ausscheren kommt gar nicht infrage. Einfach umwerfend, wie in einer zahnrädchengleichen Choreografie jeder einzelne Handgriff und jeder Schritt immer wieder auf die Sekunde sitzt. Wie sich Papierstapel um Stapel von einem Sessel auf den anderen verteilt, das ABC bemüht wird, um die einzelnen Einteilungen der unterschiedlichen Akten genauestens vorzunehmen.

Man meint schon, sich in einer Endlosschleife zu befinden, als einer der Protagonisten abends zuhause plötzlich Musik wahrnimmt. Die Barcarole aus Hoffmans Erzählungen ergreift dermaßen sein Herz, dass ab nun alles anders wird. Was erst nur als kleines Irritationslüftchen wahrgenommen wird, ein freundliches „Guten Morgen“ in der U-Bahn, wächst sich schließlich zum Verunsicherungs-Tsunami aus. Da bleibt kein Papier auf dem anderen und kein Auge trocken. Slapstick vom Feinsten kann man dazu nur sagen und eine Wonne, egal für welches Alter. Aus dem Buchstabierungscode wird nun anstelle von Alpha „Ananas“ und aus Beta „Ballerina Bum Bum“. Die mittägliche Pause wird nicht mehr abgewartet, sondern kurzerhand selbst ausgerufen, die abendlichen Fitnessübungen erhalten plötzlich kunstvolle Tanzschritte und das Chaos nimmt zu einem flotten Cha-Cha-Cha kontinuierlich zu. Alles kulminiert schließlich in jener wunderbaren Szene, in der ein vermeintliches Bild plötzlich zum Fenster in die Welt nach außen mutiert. Von dort bläst im wahrsten Sinn des Wortes ein „wind of change“ ins Büro und veranlasst einen weiteren Kollegen, zu seinem Selbst zu finden. Er zieht sich Damenpumps an und beginn einen wunderbaren Befreiungstanz zu Shirley Basseys Interpretation von „I am what I am“.

„Tramway, Trott & Tiefkühlfisch“ ist eine wunderbare Parabel auf die Gleichschaltung der Menschen im Alltagstrott und auf den befreienden Einfluss von Musik. Es ist ein Plädoyer, seine eigenen Träume zu leben, aber auch ein warmherziges Votum mit seinen Mitmenschen zu sprechen anstatt in der Anonymität zu verschwinden. Einzig und allein die Übersetzung des Originaltitels ist nicht wirklich gelungen. Zwar ergibt es eine schöne Alliteration, aber die Tramway ist durch die Soundeinspielungen eine eindeutige U-Bahn und der Tiefkühlfisch ein Lunch-Sandwich. Nur der Trott findet sich auch tatsächlich auf der Bühne wieder. Aber sei´s drum. Eine wirklich bemerkenswerte Produktion, die länger in Wien gezeigt werden könnte.

Unbekannte machen Angst

Unbekannte machen Angst

Eine Tänzerin und ein Mann mit einem Kontrabass betreten die Bühne. Staunen bei den Kindern. Nur wenige haben so ein großes Instrument schon einmal ganz nahe gesehen. Dann beginnt die Vorstellung, wie man es sich von einer Tanzperformance erwartet. Der Mann spielt, die Tänzerin tanzt. Wäre das alles, das Publikum, in diesem Fall Kinder im Alter zwischen fünf und sieben, wäre schon nach kurzer Zeit unaufmerksam. Aber dann geschieht es. Ein großes, weißes Monster erhebt sich und macht die Szenerie unsicher.

„Duo Duu“ nennt sich das Stück von Anu Sistonen, das von Dance Development aus Luxemburg anlässlich des 18. Tanzfestivals Szene Bunte Wähne im Dschungel Wien gezeigt wurde.
Darin erleben die Kinder, wie es ist, jemanden Fremden kennenzulernen, der anfänglich als Bedrohung erscheint, dann aber zum Freund wird. Genauer gesagt zur Freundin. Denn Jennifer Gohier und Julie Barthélémy tanzen zwei Mädchen, die Freundschaft schließen, von denen eines sich jedoch erst einmal aus der Monsterverkleidung herausschälen muss, nachdem es auch beim Publikum zuvor für wohlige Angstschauer sorgte.

Marc Demuth am Kontrabass beginnt nach einer Aufwärmübung mit einer rhythmisch klaren, klassischen Barockkomposition und spielt sich im Laufe der Vorstellung einmal quer durch die Musikgeschichte. Tanz steht neben der Erzählung, in der es um Freundschaftschließen, aber auch um einen gewaltigen Streit geht, im Vordergrund der Inszenierung. Im Mittelteil können die Kinder sogar nachvollziehen, wie Schrittkombinationen eingeübt werden und nach und nach ein komplettes Tanzstück daraus wird. Bis Julie Barthélémy genug hat und ihrer neuen Freundin kurzerhand das hübsche Kleid zerreißt. Die Reaktion des jungen Publikums macht deutlich, dass es sich mit dieser aggressiven Aktion, aber auch mit der wunderbar gespielten Trauer von Jennifer Gohier gut identifizieren kann.

Einen Fehler wieder gut zu machen, ist gar nicht leicht. Auch das wird in dieser Vorstellung vermittelt. Es dauert viele Entschuldigungsversuche und viele abgelehnte Geschenke, bis das Vertrauen zwischen den beiden wieder hergestellt ist und sie wieder gemeinsam tanzen. Solange, bis erneut etwas Unerwartetes geschieht und ein zweites weißes Monster auftaucht.

Die clevere Lichtregie (Eric Vanpouille), die die Szenerie von kühlem Blau manchmal in bedrohliches Rot eintaucht, sowie die Komposition von Emre Sevindik, in der auch zeitgenössische Klänge auftauchen, die Kinderohren vielleicht noch nicht oft gehört haben, machen die Inszenierung zu einem kleinen Gesamtkunstwerk.

Die Vergangenheit ist kein treuer Begleiter

Die Vergangenheit ist kein treuer Begleiter

Die Compagnie 3637 aus Belgien beeindruckte mit einem französischsprachigen Stück beim Szene Bunte Wähne Tanzfestival im Dschungel Wien

Mit einem Knall geht das Licht aus. Die Bühne ist dunkel bis auf den Lichtkegel einer Taschenlampe, die über die Bühne getragen wird.

Zu Beginn von Cortex, einem Stück der belgischen Compagnie 3637, das im Rahmen des Szene Bunte Wähne – Festivals im Dschungel Wien aufgeführt wird, befindet man sich in einem Keller, den man aber durch die Musik von Damien Zuidhoek schnell verlässt. Der Einsatz akustischer Räume ist über das gesamte Stück ebenso unaufgeregt wie spannend. Man folgt den beiden Tänzerinnen in ihr Inneres, ihre Erinnerung. Über Sinneseindrücke wie das Kosten von Marmelade, das Riechen an einem alten Schal oder das Durchwühlen einer Kiste alter Fotos kommen Bilder hervor, die deutlich und doch alles andere als klar sind.

Erst scheint die Orientierung für das Publikum einfach. Eine Tänzerin trägt Trenchcoat und Stöckelschuhe und repräsentiert eine Erwachsene (Bénédicte Mottart), die andere, in kurzen Hosen und mädchenhafter Bluse, ist ihr jüngeres Ich (Coralie Vanderlinden). Schnell fächert sich das Stück jedoch sehr viel komplexer auf. Erinnerungen trügen, werden absichtlich und unabsichtlich verfälscht, sind an der einen Stelle ungenau und an anderen detailreich, so dass vielleicht niemand recht hat in der Frage, ob der Vater immer oder nie unpünktlich, immer oder nie da war und ob die immer gleiche Geschichte, die er erzählt hat, die Lieblingsgeschichte oder langweilig war.

Eigentlich für ein französischsprachiges Publikum konzipiert, wird Cortex in Wien mit akustischen „Untertiteln“ in deutscher Sprache aufgeführt. Was für ein so vieldeutiges Stück eine Chance sein könnte, den Fokus verstärkt auf den tänzerisch-performativen Aspekt und die Freiheit in der Interpretation zu legen, wird durch ein schlecht funktionierendes Mikrofon leider erheblich erschwert. Die Entscheidung, manches unübersetzt zu lassen und somit die Aufmerksamkeit nicht weg von der akustischen Qualität, sondern hin zur Verarbeitung von Information zu lenken, gibt der Aufführung in französischer Sprache jedoch einen eigenen Charme.

Mit zu den spannendsten Momenten zählen jene der Kommunikation zwischen den auf der Bühne Agierenden. Für das Publikum entsteht dadurch eine ernsthafte, wertschätzende Atmosphäre: Hier und jetzt, auf dieser Bühne, wird etwas verhandelt, zwischen der Hauptfigur „Ella“ und ihren Erinnerungen, aber auch zwischen den Tänzerinnen, der Musik und dem Publikum.

So ist am Ende nicht eindeutig, wer wem eine Geschichte erzählt, ob das Kind aus den Erinnerungen die Erwachsene braucht oder umgekehrt und wer sich mit wem am Ende ausgesöhnt hat. Möglich ist auch, dass es sich bei den beiden Figuren um Schwestern oder beste Freundinnen handelt, wie im anschließenden Publikumsgespräch Kinder vorschlagen. „Das ist eine der großen Fragen, die wir nie beantworten.“, sagt Bénédicte Mottart. „Es verändert nicht, was du gesehen und gefühlt hast.“

Es bleibt anzumerken, dass dieses Stück nicht zuletzt durch tänzerisches Können und durchdachte Choreografie überzeugt. Bei aller Genauigkeit in der Inszenierung lässt es Raum, den man als Zuseher oder Zuseherin füllen kann. Der Titel „Cortex“ ist ein Wortspiel aus dem fanzösischen cœur, Herz, und Text. Man kommt mit seinem eigenen „Herztext“ in die Vorstellung und überschreibt, was man sieht, mit der eigenen Erinnerung. Das Spiel damit ist in Cortex gelungen.