Durch dunkle Gänge in die seelische Enge

Durch dunkle Gänge in die seelische Enge

Nach Graz hat die hiesige Schauspielhaus-Direktorin Andrea Vilter eine Inszenierung mitgebracht, die 2015 in Wiesbaden uraufgeführt wurde. Am Schauspielhaus zeichnet sie gemeinsam mit Jan Philip Gloger für die Regie verantwortlich.

Kafka|Heimkehr (Foto: Lex Karelly)

Kafka|Heimkehr (Foto: Lex Karelly)

Die Texte stammen alle von Franz Kafka und sind puzzleartig und auszughaft aneinandergereiht. Alle haben sie eins gemeinsam: Sie beschäftigen sich mit dem schwierigen Verhältnis, das Kafka zu seinem Vater hatte und sie bieten genügend Raum, in Kafkas Seelenleben ein wenig hineinzuhorchen.

Gleich zu Beginn überrascht das Regieduo das Publikum, geht das Spiel doch schon im Foyer des Haupthauses los. Tim Breyvogel, Željko Marović und Anna Rausch spielen eine Szene aus Kafkas „Urteil“, einer Geschichte, die sich wie eine Rahmenhandlung rund um den Abend spannt. Denn auch die Schluss-Szene kehrt zu dieser Erzählung zurück.

Nach dem unerwarteten Auftakt wird das Publikum gebeten, sich hinter dem Ensemble in jenen engen Gang des Schauspielhauses zu begeben, der unterirdisch das Haupt- mit dem Nebenhaus verbindet. Einige Requisiten wie ausgestopfte Vögel und Schreibzeug säumen dabei den Weg; Texteinspielungen erfolgen aus dem Lautsprecher. Bis man im Saal des letzten Stockes des Nebenhauses Platz genommen hat, hat man schon einen Vorgeschmack von dem erhalten, was noch kommen wird.

Im sehr stimmigen Bühnenbild von Franziska Bornkamm befindet sich Kafka mit zwei Alter-Egos in beengten Wohnverhältnissen. Eine Stuhl-Kaskade führt von der Decke herab in eine Wohnung, die mit einem Schreibtisch, Büchern, einem Bett und einer kleinen Küche ausgestattet ist. In ihr klagt Kafka seinen Vater an. Passagen aus dem „Brief an den Vater“, aus „Der Bau“, „Das Unglück des Junggesellen“, „Die Verwandlung“ und anderen ergeben die Charakterbeschreibung eines Mannes, der zeitlebens unter seiner Erziehung litt. Gegen großen Widerstand blieb er jedoch seiner Mission schreiben zu müssen treu, wahrscheinlich auch deshalb, weil gerade dieses Schreiben ihm eine Freiheit bot, die er abseits davon nicht erhielt.

Die dunkel ausgeleuchtete Bühne, die Kostüme, welche sich an die Lebenszeit des Schriftstellers anschmiegen und die klug ausgewählten Texte ergänzen sich äußerst stimmig. Für Kafka-Kenner ist der Abend sicher eine Überraschung, für Kafka-Neulinge aber ein Einstieg in eine Welt voller Widersprüche, Mysterien und Bewältigungsversuchen. Zugleich macht er große Lust, Kafka wieder oder auch zum ersten Mal zu lesen.

Die lebhafte Interpretation des Ensembles, zu dem sich im zweiten Teil der Inszenierung mit Franz Solar ein ausdrucksstarker „Vater“ gesellt, lässt nichts vom Gehörten und Gesehenen altbacken erscheinen. Beeindruckend ist die Tatsache, wie analytisch der Autor die familiären Einflüsse seiner Kinder- und Jugendzeit zu bewerten wusste. Dass er Freuds psychoanalytische Schriften zum Teil kannte, vor allem aber Kontakt zu seinen Schülern Wilhelm Stekel und Theodor Reik hatte, bzw. ihre Aufsätze in verschiedenen Zeitschriften verfolgte, ist bekannt. Dennoch verblüfft er im „Urteil“ mit glasklaren Aussagen über das Verhältnis des alten Geschäftsmannes Bendemann zu seinem Sohn Georg. Die Rückschlüsse auf Kafkas Beziehung zum eigenen Vater liegen auf der Hand.

„Kafka Heimkehr – Theaterprojekt mit Texten von Franz Kafka“ ist ein Kammerspiel, sowohl sprachlich als auch interpretatorisch fein ausnuanciert, das eine Menge an Atmosphäre transportiert. Das Eintauchen in diese Atmosphäre kann einen neuen Zugang zu Franz Kafka bereithalten, wenn man sich in der dunklen Höhle des höchstgelegenen Spielortes des Schauspielhauses dieser besonderen Stimmung hingibt.

Dem Anderen eine Geschichte geben

Dem Anderen eine Geschichte geben

Im Rahmen des Steirischen Herbstes inszenierte er das Stück „EMPIRE: Rooting for the Anti-Hero“ im Theater am Lend und lieferte damit eine weitere, beeindruckende Arbeit ab.

Marten Schmidt in EMPIRE - Rooting for the Anti-Hero (Foto: fortepan)

EMPIRE – Rooting for the Anti-Hero (Foto: fortepan)

Anhand eines Foto-Tagebuchs aus dem Jahr 1934 schickt er das Publikum auf eine mehrmonatige Reise mit der Fußballmannschaft des „Grazer Sportklub Straßenbahn“ nach Indonesien. Dabei nimmt er eine fiktive Figur, den Indonesier Suwandi, der auf verschlungenen Wegen nach Graz kam, als ortskundigen Begleiter mit. Dieser entwickelt sich im Laufe der Geschichte zu einer Art Helden wider Willen, oder, wie im Titel postuliert – zu einem Antihelden. Das Publikum erfährt von der langen Schiffsreise und dem Aufenthalt im damaligen Niederländisch-Indien. Es hört von den Spielen gegen verschiedene einheimische Mannschaften, die, bis auf eine Ausnahme, alle gewonnen wurden. Und es wird Zeuge von zwei Liebesbeziehungen, die sich durch diese Reise ergaben. Die gezeigten Fotos erzählen im Subtext viel über das Verständnis der Europäer in dem fernen Land der damaligen Zeit. Auf keinem der Fotos ist die Bevölkerung Indonesien zu sehen. Weiße Männer und vereinzelt auch Frauen sind auf den Gruppenfotos festgehalten, ganz so, wie sich die Machtverhältnisse zu der Zeit auch gestalteten.

Mit einer schauspielerischen Entdeckung ersten Ranges – dem jungen Marten Schmidt, der Allround-Musikerin Anna Anderluh und dem Grazer Gamelan-Orchester (Gamelan Nyai Rara Saraswati der KUG) stellte von Strolchen ein Ensemble zusammen, das vom ersten Moment bis zum letzten überzeugt.

Marten Schmidt in EMPIRE - Rooting for the Anti-Hero (Foto: fortepan)

Marten Schmidt in EMPIRE – Rooting for the Anti-Hero (Foto: fortepan)

Marten Schmidt agiert als Erzähler und Vorleser und darf sich in einer Szene auch selbst vorstellen. Dabei erfährt man, dass er eine indonesische Mutter und einen österreichischen Vater hat und aufgrund dieser Herkunft sich sowohl hierzulande als auch in Asien zu Hause fühlt. Er beschreibt seine Zugehörigkeit sowohl in Österreich als auch in Indonesien aber zudem als etwas, das dazwischen angesiedelt ist. Denn in Österreich wird er als Asiate wahrgenommen und in Indonesien als Österreicher. Die Tatsache, dass er sowohl Deutsch als auch Indonesisch perfekt spricht, macht den Abend spannend und authentisch.

Die Konstruktion, dass der Indonesier Suwandi, welcher den Fußballklub begleitete, sein Urgroßvater gewesen sei, von dem er erst im Zuge dieses Projektes erfahren hätte, nimmt man dem jungen Schauspieler ohne mit der Wimper zu zucken ab. Auch dieser war ein Wanderer zwischen den Welten, weder in der einen noch in der anderen hochgeschätzt, dennoch aber unentbehrlich.

Das Stück wartet mit mehreren Bedeutungsebenen auf. Zum einen kann man das politische Umfeld in Österreich im Jahr 1934 ansatzweise erfühlen. Wenige Monate nach den Februarkämpfen, bei welchen hunderte Menschen ums Leben kamen, reiste die Mannschaft ab. Im Text heißt es, dass es sich um „Menschen auf dem Zenit ihrer Verlorenheit“ handelte, die sich auf die Reise ins Ungewisse machten. Tatsächlich sind auf den Fotos der Mannschaft, die anlässlich ihrer Abreise gemacht wurden, nur ernste Gesichter zu erkennen. Dann ist es die Sprachebene, auf die ein Hauptaugenmerk der Produktion gelegt wird. Der Hinweis, dass Suwandi auch fließend Niederländisch sprach, ganz abgesehen von der perfekten Vermittlung zu seinen indonesischen Landsleuten, macht klar, dass dieser in seiner Heimat für die Fußballer plötzlich einen ganz anderen Stellenwert bekam als in Graz.

Deutlich wird auch, dass sich die Sportler offenbar ihrer Rolle als Kurzzeit-Usurpatoren überhaupt nicht bewusst gewesen sein dürften, ja vielmehr die niederländische Kolonialisierung als etwas Glücksbringendes und Legitimes ansahen. In diesem Zusammenhang stellen sich viele Fragen, die auftauchen, wenn über das Stück im Nachgang diskutiert wird. Dass aus unserer heutigen Sicht diese Reise viele fragwürdige Momente aufwies, ist klar. Umso bemerkenswerter aber auch die dramaturgische Behandlung, die nicht wertet und verurteilt, sondern die daraus zu ziehenden Schlüsse dem Publikum überlässt.

european cultural news.com 0x5D5C4C8991B028A470181F578A237B3B

EMPIRE – Rooting for the Anti-Hero (Foto: fortepan)

Die Instrumente des vielköpfigen Gamelan-Orchesters nahmen einen Großteil der Bühnenfläche ein, was das Bühnenbild (Andrea Cozzi und Hanga Balla) selbst auf die Aufstellung des Ensembles und ein einziges Artefakt reduzierte. Vor dem Orchester und der Musikerin war der Sprecher platziert, flankiert von Projektoren, welche die Fotos auf zwei Leinwände projizierten. Über allem schwebte eine Lichtinstallation, die nicht nur eine optisch-ästhetische Ergänzung bot. Auch interpretatorisch verleitet sie zu mehrfachen Deutungsansätzen. „Von oben herab“ werden die Menschen erhellt, ihnen zugleich aber auch ihre Sichtbarmachung ermöglicht.

EMPIRE: Rooting for the Anti-Hero (2024) überzeugt durch seinen lokalen Bezug zur Stadt Graz, durch seine fiktiv-reale Erzählung und das auf der Bühne agierende Ensemble inklusive der Musik. Vor allem aber auch durch die klugen Meta-Botschaften, die sich hinter der plakativen Geschichte verbergen.

Will jemand noch etwas sagen?

Will jemand noch etwas sagen?

„Chronik der laufenden Entgleisungen Austria Revisited“ hatte im Schauspielhaus Graz Premiere. Es ist ein Auftragswerk in Koproduktion mit dem Schauspielhaus Wien sowie dem Steirischen Herbst. Diese Zusammenarbeit lässt erahnen, dass sich die beteiligten Institutionen sicher in ihrer Wahl waren. Sicher, einen dramatischen Text zu bekommen, der hohen künstlerischen Ansprüchen genügen und unsere Zeit in vielen Facetten widerspiegeln würde.

Regie führte Marie Bues, bekannt für Inszenierungen zeitgenössischer Autorinnen und Autoren. Sie verteilte den Text von Köck auf ein sechsköpfiges Ensemble und stellte diesem die Musikerin, Performerin und Multimediakünstlerin Lila-Zoé Krauß zur Seite. Diese unterlegt den Text nicht nur rhythmisch, sondern steuert auch Textpassagen und ganze Songs bei. Ihr Auftritt ist im wahrsten Sinne des Wortes performativ und mehr als nur der einer Musikerin, die einen Theatersound beisteuert. Als one-woman-orchestra, über dem Ensemble thronend, erweckt sie den Eindruck, die Fäden des Geschehens fest in der Hand zu haben und musikalisch grandios zu leiten. Der Tänzer und Choreograf Mason Manning bereichert das Geschehen mit abwechslungsreichen Choreografien, welche die Auf- und Abgänge der Vortragenden theatralisch-elegant begleiteten. Mit der Kostümbildnerin Amit Epstein und Heike Mondschein, verantwortlich für das Bühnenbild, fand sich somit ein geniales Team zusammen, dessen Output extrem gelungen ist.

Chronik der laufenden Entgleisungen Austria Revisited (Foto: Lex Karelly)

Chronik der laufenden Entgleisungen Austria Revisited (Foto: Lex Karelly)

Gekleidet in roten Adidas-Trainingsanzügen, die im Laufe der Vorstellung mit anderen Jacken kombiniert werden, wird der Text sowohl in Monologen als auch in chorischen Passagen vorgetragen. Ein verschiebbarer Stahlquader auf Rollen zeigt sich anfänglich von Stoff-Bahnen ummantelt, auf welchen das Gemälde „Die Gesandten“ von Hans Holbein dem Jüngeren zu erkennen ist. Das Kunstwerk schrieb Geschichte, weil man erst auf den zweiten Blick eine Darstellung dechiffrieren kann, die sich nur von einem bestimmten Blickwinkel aus gesehen als Totenkopf entpuppt. Köck referenziert an einer Stelle in seinem Text darauf und sieht in ihm eine Metapher für eine historische Blaupause, die immer und immer wieder über gesellschaftliche Strömungen gelegt wird. Strömungen, welche sich jedes Mal wieder als unheilvoll erwiesen haben und offenbar für viele schwer oder gar nicht zu erkennen sind.

Der erste Teil des Abends besteht aus einer Aufzählung von politischen Ereignissen des vergangenen Jahres. Er beginnt mit der Falschauszählung der Stimmen der SPÖ zur Wahl ihres Parteivorsitzenden, beleuchtet das Verbieten von Genderzeichen in niederösterreichischen Behörden und benennt den „Herbertkomplex“, nach dem Parteivorsitzenden der FPÖ: ein gesellschaftliches Amalgam, welches aus Ausländerhass, Größenwahn und rechtsgerichteter Allmachtsfantasien besteht. Wie sehr der Rechtsruck in Österreich sich schon seit Jahren immer weiter ausgebreitet und sich gänzlich neue Gesellschaftsschichten erobert hat, kommt zur Sprache. Genauso wie die Tatsache, dass in Österreich die wirtschaftlichen Profiteure, ehemalige Kriegsgewinnler, ungebrochen weiter agierten, ohne einen Aufschrei oder gar Widerstand zu erzeugen. Gaston Glock und Heidi Horten, aber auch der bis jetzt nicht aufgearbeitete Kolonialismus, dessen Eroberungsartefakte das KHM und das NHM mit Glanzstücken füllen, fügt der Autor an dieser Stelle beobachtend hinzu.

Die schrecklichen Ereignisse des 7. Oktober, mit dem Überfall der Hamas auf Israel, bedeuten eine erste Zäsur in Köcks chronischer Aufzählung. Hier stockt der Schreibfluss, hier endet für ihn ein Zeitmaß, ja kehrt sich sogar um. Die Zeit läuft nicht mehr vorwärts, sondern zurück.

Der vielschichtige, tiefgründige, gesellschaftsrelevante, aber auch mit persönlichem Befinden ausgestattete Text lässt Thomas Köck in einer  Nachfolge von Thomas Bernhard erscheinen. Der Unterschied besteht jedoch darin, dass Köck keine Schimpftiraden loslässt, um Missstände aufzuzeigen. Vielmehr nimmt er nüchtern, mit einem sprachlichen Seziermesser die österreichische Seele auseinander. Eine Seele, die groß ist im Verdrängen und nach einer Veränderung lechzt, ohne zu erkennen, dass diese Veränderung in einen unumkehrbaren Zustand führen wird.

Nicht nur österreichische Phänomene, sondern auch das Erstarken der KI ist ein Thema und mündet letztlich in einem dystopischen Szenario, in welchem man nicht mehr zwischen politischer Machtausübung und solcher, die nur mehr von der KI diktiert wird, unterscheiden kann. Niemand, der dieses Stück gesehen hat, wird einmal sagen können: Wir haben nicht gewusst, was war und wir haben nicht gewusst, was sein wird. Zu stringent werden historische Vergleiche herangezogen, wird aufgedeckt, wie sehr eine Wiederholung der bedrohlichen europäischen Geschichte im Raum steht.

Köck, das wird deutlich, ist sich bewusst, in welch unheilvollen Zeiten sich Österreich, aber auch der Rest der Welt, im Moment befindet. Aber er bietet nicht, vielmehr er kann logischerweise keinen Ausweg anbieten. Die Sehnsucht, sich endlich wieder gemeinsam im Caféhaus zu treffen und leidenschaftlich zu diskutieren, dieses Gefühl teilt er mit vielen Menschen in Österreich. Ein Wunsch, der nichts anderes ist, als der Wille, der Realität zu entkommen und sie beiseitezuschieben, die Überforderung abzuschütteln, die ihn sowie einen Großteil nicht nur seiner Generation erfasst hat. Dass die allerletzte Frage an das Publikum „will sonst noch jemand etwas sagen“ eine rein rhetorische bleibt, evoziert ein beredtes Schweigen im Publikum.

„Chronik der laufenden Entgleisungen Austria Revisited“ bietet einen Theaterabend der Rückschau, der Vorschau und der Introspektion – künstlerisch großartig umgesetzt.

Auf der Bühne: Tala Al-Deen, Otiti Engelhardt, Kaspar Locher, Sophia Löffler, Karola Niederhuber, Mervan Ürkmez.

Von wegen Ruhe und Entspannung

Von wegen Ruhe und Entspannung

Im Schauspielhaus in Graz wurde die Saison 24/25 mit der Dramatisierung des Romans „Mein Jahr der Ruhe und Entspannung“ eröffnet.

Wobei Dramatisierung nicht ganz stimmt. Die Autorin, Ottessa Moshfegh beschreibt in ihrem Buch den Zeitraum eines Jahres einer hübschen, jungen New Yorkerin, die sich dazu entschließt, sich von der Gesellschaft abzuschotten und so viel wie möglich zu schlafen. Moshfegh lässt die Lesenden tief in die Gedankenwelt ihrer namenlosen Protagonistin eintauchen. Ihre Erinnerungen an ihre besitzergreifende Mutter und den Vater, zu dem sie keine Beziehung aufbauen konnte. Sie beschreibt deren Sterben, aber auch das Leben der jungen Frau inmitten von finanzieller Unabhängigkeit, aber sozialer Kälte.

Der Titel des diesjährigen Saisonauftaktes ist wortwörtlich zu nehmen: „Mein Jahr der Ruhe und Entspannung nach dem Roman von Ottessa Moshfegh“. Die kleine Präposition „nach“ ist hier tatsächlich wörtlich zu nehmen, denn: Die Regisseurin Ewelina Marciniak erarbeitete mit Malgorzata Czerwien eine Textfassung, die sehr wenig mit dem Original zu tun hat. Dieses wird sogar so stark verändert, dass der Schluss von Ottessa Moshfegh nicht vorkommt. In diesem erwacht die junge Frau nach einem Vierteljahr Schlaf als andere Person. Sie ist geheilt von dem Wunsch, nichts mehr mit der Welt zu tun haben zu wollen, und kehrt in kleinen Schritten wieder ins Leben. Moshfegh hat sicher Virignia Woolfs „Orlando“ gelesen, in welchem sich der bis dahin als Mann aufgetretene Protagonist nach langem Schlaf plötzlich als Frau verwandelt aufwacht.

Mein Jahr der Ruhe und Entspannung • Schauspielhaus Graz (Foto: Lex Karelly)

Mein Jahr der Ruhe und Entspannung • Schauspielhaus Graz (Foto: Lex Karelly)

Das Team um die Regisseurin, inklusive des Ensembles, ging andere Wege und gestaltete einen schrillen Theaterabend, der zwar auch einen gewissen Reiz entwickelt, mit der Vorlage aber nicht wirklich mithalten kann.

Luiza Monteiro als namenlose junge Frau spielt sich großartig durch das Geschehen und darf gegen Schluss mit ihrer schönen Singstimme brillieren. Sie trifft in der Fassung von Marciniak auf ihre verstorbene Mutter, die sich auch brav bedankt, bei dem Spiel dabei sein zu dürfen. Olivia Grigolli mimt diese Frau, die ihre Tochter in ihrem Ehebett schlafen lässt, in unterschiedlichen Charakterfacetten. Warum das Mädchen und nicht sein Vater bei der Mutter schläft, erfährt man nur im Buch, nicht aber auf der Bühne. Die Trunksucht der Mutter und das Nichteinschreiten des Vaters bescheren der Jugendlichen viele Fehltage in der Schule. Zugleich erlebt das Kind das Bett als Fluchtort vor der Wirklichkeit und legt damit auch den Grundstein zur Idee der späteren Lebensverweigerung mithilfe dieses speziellen Ortes.

Anke Stedingk als Therapeutin lässt in einigen Szenen durchblitzen, dass es mit ihrer eigenen seelischen Stabilität auch nicht weit her ist. Dass sie jedoch dafür verantwortlich ist, dass die junge Frau ein riesiges Arsenal an Schlaf- und Beruhigungstabletten hortet, wird nicht wirklich deutlich. Vielmehr konstruiert das Regieteam eine Familienaufstellung und anschließende Fitness-Work-outs, um sich „dem Thema der totalen Erschöpfung aus unterschiedlichen Perspektiven“ zu nähern. Das Zitat stammt aus dem Programmfolder, die es ab dieser Saison glücklicherweise wieder gibt.

Mein Jahr der Ruhe und Entspannung • Schauspielhaus Graz (Foto: Lex Karelly)

Mein Jahr der Ruhe und Entspannung • Schauspielhaus Graz (Foto: Lex Karelly)

Die szenischen Umbauten werden während des Spiels vorgenommen; Kulissenschieber werden mit Trinkgeld dafür extra belohnt. Willkommen bei der allgegenwärtigen Theaterdekonstruktion, ohne die derzeit offenbar nur mehr wenige Inszenierungen auskommen.

Eine wichtige Figur im Roman, eine Kunstgeschichtsprofessorin, welche die Hauptprotagonistin bei einem Seminar bloßstellte, verschmilzt in der Aufführung in Graz mit jener der erfolgsgeilen Galeristin. Marielle Layher fällt die Aufgabe zu, diese überzeichnete Person so extrovertiert wie möglich zu spielen und tut dies mit Verve. Der Kunstbetrieb, der im Buch auch nicht gerade feinfühlig und ethisch beschrieben wird, erfährt in dieser Figur eine klischeehafte Zuspitzung. Wer sich in dem Business auskennt, weiß, dass dieses Gehabe aber eines ist, das so in der Realität nicht vorzufinden ist. Anna Klimovitskaya verkörpert Reva, jene Freundin, welche sich als einziger Anker im Leben der schlafsüchtigen jungen Frau erweist. Ihr Schicksal, im 9/11-Anschlag in den Twin-Tower zu sterben, kann man sich am Theaterabend nur zusammenreimen. Mario Lopatta, Dominik Puhl und Thomas Kramer treten in Doppelrollen auf und ergänzen schillernd mit starker Bühnenpräsenz das Ensemble. Ob als Rechtsanwalt, Künstler, Hund oder Ballerina – sie alle machen in ihren Rollen eine gute Figur. Tatsächlich ist es das Ensemble, sein Spiel, welches den Abend letztlich sehenswert macht.

Natalia Mleczak entwarf Kostüme und ein Bühnenbild, in dem sich das Chaos im Apartment der jungen Frau in NY nicht wiederfindet. Clean ist der offene Raum hier ausgestattet, mit zwei großen Wohnlandschaften und einem seichten Wasserbecken, in dem fröhlich die Füße gekühlt werden dürfen.

Die Verdichtung des Romans und das Auslassen wichtiger Handlungsstränge, wie jenem, in welchem die Hauptfigur sich für eine äußerst radikale Methode des Ausklinkens entscheidet, verändern nicht nur den Inhalt, sondern lassen so manch einen und manch eine im Publikum etwas ratlos zurück.

Roman-Dramatisierungen sind absolut legitim, auch ihre Überschreibungen. Ob man jedoch tatsächlich so weit gehen muss, Kernaussagen komplett zu negieren, dafür aber eigene Handlungsstränge einzufügen, sei dahingestellt.

 

Hamlets Schuld und Hamlets Entlastung

Hamlets Schuld und Hamlets Entlastung

Das einprägsame Bühnenbild von Katrin Brack – drei runde, schwarze Scheiben, die in unterschiedlichen Schräglagen den Raum ausfüllen – wird von Wolkenformationen ergänzt, die in verschiedenen Farben, von pastellig, bis zu graubraun auf- und abgezogen werden.

Die Assoziation, dass sich hier nicht nur eine Gesellschaft auf unsicherem Terrain bewegt, sondern sich auch die Natur in ständigem Aufruhr befindet, liegt auf der Hand.

Die unaufgeregten Kostüme (Teresa Vergho) beeindrucken vor allem durch ihre strenge Farbgebung und Aussagekraft, welch emotionale Zustände ihre Träger und Trägerinnen jeweils durchleben. Gemeinsam mit dem Bühnenbild erhält so jede einzelne Szene ihre unverwechselbare optische Kraft, die in Stills umgesetzt, in jedem Modern-Art-Portal reüssieren könnte.

Sphärisch unterstützend wirkt die Live-Musik, die vom Bühnenrand aus vom Duo Vogel und Kürstner. Dem Auf- und Abbau von Spannungsmomenten wird so, wie bei gut gemachter Filmmusik, eine eigene Klangqualität unterlegt, die emotional stark beeinflusst.

Hamlet am Burgtheater (Foto: Lalo Jodlbauer)

Hamlet am Burgtheater (Foto: Lalo Jodlbauer)

Die Weisheit, dass in einem Menschen viele stecken, die auch aus der Psychologie bekannt ist, erfährt bei Henkel eine neue Dimension. Das Phänomen ist nicht zuletzt vom Krankheitsbild der DIS – der dissoziativen Identitätsstörung bekannt, bei welcher die Menschen das Leid auf mehrere intrinsische Persönlichkeiten aufteilen, um damit überhaupt umgehen zu können. Karin Henkel greift auf die Idee der multiplen Persönlichkeiten insofern zurück, als sie ihren Hamlet von gleich fünf Personen (sowohl männliche als auch weibliche) aufteilt. Sie macht damit nicht nur die Vielschichtigkeit deutlich, mit welcher dieser ausgestattet ist. Vielmehr kann man auch eine zweite Interpretationsebene einziehen: Das, was hier gezeigt wird, ist kein Einzelschicksal. Das Hadern mit dem Erlittenen, das Zaudern mit der Verteidigung von Recht und das letztliche Ausrasten im Blutrausch – all das mussten viele Menschen in ihrem Leben kennenlernen.

Neben der Entwicklung des königlichen Dramenstranges legt die Regisseurin aber auch ein beredtes Zeugnis davon ab, was ihrer Meinung zeitgenössisches Theater eigentlich ist. Und das tut sie mit Verve und Können. Wie ihr Ensemble ständig zwischen den Shakespearerollen und jenen schlüpfen, in welchen sie sich gegenseitig als Schauspielende zurechtweisen, kritisieren oder auch lächerlich machen, das macht einfach großen Spaß zuzusehen. Nach jener Szene, in welcher der Brudermörder Claudius als schon gekrönter König von der 1. Publikumsreihe aus zusieht, wie Hamlet, sein Stiefsohn ihm den Mord an seinem Vater vorspielt und sich letztlich durch seine erschrockene Reaktion verrät, darf Hamlet dem Publikum zugewandt stolz erklären: „Was das Theater nicht alles kann!“

Essenziell aber für die Inszenierung sind jene textlichen Erweiterungen, die das Tun der Personen erklärbar machen. Gertrude, Hamlets Mutter, von ihm schon bis aufs Äußerste gereizt, verliert die Contenance und sagt ihrem Sohn ins Gesicht, dass er beileibe kein Wunschkind war. Sie musste sich schlicht dem Druck beugen, einen Thronfolger zu gebären, unabhängig davon, dass sie Hamlets Vater abgrundtief verachtete.

Auch Ophelia erfährt eine erweiterte Charaktererklärung, wird sie doch als brave, gehorsame Tochter – zum Gehorsam gezwungen – dargestellt. Dass die jungen Leute bei diesen Vorbildern keine Chance haben, sich in ihrem Leben glücklich zu entwickeln, wird dabei mehr als klar.

Mit der Engländerin Kate Strong, welche seit vielen Jahren von Henkel in Shakespearerollen verpflichtet wird, blüht der Text zweisprachig – sie spricht Englisch und stellenweise einige Worte Deutsch – förmlich auf. Man meint, mit ihr jemanden auf der Bühne zu haben, der Shakespeares Diktum nicht nur im Blut hat, sondern auch ein Bindeglied hin in jene Zeit ist, als das Stück geschrieben wurde. Ob als Hamlets Mutter, Totengräber oder Erzählerin – die Frau fügt sich ins Ensemble und sticht zugleich aber auch aus ihm hervor.

Der Kürzung, die nicht nur die Fortinbras-Erzählung, sondern auch den blutrünstigen Schluss ereilte, der von Kate Strong in Stenografie-Manier erzählt wird, hat dieser Fassung gutgetan. Keine unnötigen Nebenstränge lenken so von der charakterlichen Entwicklung Hamlets ab, die, hat man diese Inszenierung gesehen, auch für alle weiteren im Gedächtnis bleiben wird.

Das Geisterheer, mit einfachen weißen Laken ausgestattet, bedrängt den sensiblen jungen Mann von Beginn an und lässt ihn auch bis zum Schluss nicht mehr los. Dass es in einer Szene auch im Parkett Aufstellung findet, verstärkt auch beim Publikum den Eindruck, dass man ihnen nicht entkommen kann, auch wenn man es gerne möchte.

Alexander Angeletta, Benny Claessens, Katharina Lorenz, Michael Maertens, Marie-Luise Stockinger und Tim Werths spielen Hamlets Entourage, zum Teil in Mehrfachrollen, alle in Bestform und mit offensichtlichem Spaß am Spiel. Dass Hamlets Verabschiedung „Ich bin Hamlet, ich bin tot, adieu“ nicht als humoriger letzter Satz hängen bleibt, dafür sorgt das musikalische Zitat von Didos Lament von Henry Purcell. „Remember me! Remember me!“ lautet darin der Refrain. Dass man sich an diesen Hamlet erinnern wird, ist sicher.

Den Burgtheaterdirektor kennt keiner!

Den Burgtheaterdirektor kennt keiner!

Was für eine wunderbare Programmierung der ersten Saison des neuen Burgtheaterdirektors Stefan Bachmann! Neben einer Hamlet-Neuinterpretation unter der Regie von Karin Henkel, mit welcher die neue Saison eröffnet wurde, brillierte Nicholas Ofczarek in einer äußerst gelungenen Fassung von Thomas Bernhards ‚Holzfällen‘ gemeinsam mit der Musicbanda Franui.

Vor 40 Jahren evozierte „Holzfällen“. Eine Erregung‘ tatsächlich heftigen Reaktionen des Wiener Publikums, galt der Text doch nicht nur als Angriff auf das Burgtheater, sein Ensemble und seine Direktoren. Vielmehr schilderte Bernhard in diesem Werk penibelst auch die gesättigte Wiener Gesellschaft unter Heranziehung bösartigster Charakterbeschreibungen.

Was damals jedoch völlig übersehen wurde, ist jene Selbstbezichtigung, welcher sich Thomas Bernhard aufs Heftigste in diesem Text auch selbst aussetzte. Ein Umstand, der durch Ofczarek auf der Bühne genial vermittelt wurde. Damit verbunden ist zugleich aber auch jene große Portion Humor, mit der sich der Autor selbst aufs Korn nahm.

Mittig auf einem Stuhl platziert – keinem Ohrensessel wie jenem, den Bernhard als seinen Beobachterposten im Stück häufig zitiert – hinter ihm die 10-köpfige Musicbanda Franui im Halbkreis angeordnet, las Ofczarek Bernhards Sozialbeobachtung feinst abgestimmt mit den Musizierenden.

Nicholoas Ofczarek & Franui im Burgtheater im Stück "Holzfällen" von Thomas Bernhard

Nicholoas Ofczarek & Franui im Burgtheater im Stück „Holzfällen“ von Thomas Bernhard

Bekannt für das „Zelebrieren von Trauermärschen und Trauermusik“, wie es dem Programmfolder zu entnehmen ist, erwies sich die musikalische Untermalung der Musicbanda Franui aber als weitaus vielschichtiger. Sie unterlegt einzelne Personen mit einem für sie charakteristischen Sound, der aber auch zur jeweiligen Erzählung matcht. So wird der Salzburger Lebensgefährte der Selbstmörderin Joana bei deren Begräbnis vom Autor mit langem, schwarzem Mantel und breitkrempigem Hut beschrieben und sein Auftritt mit Klängen von Mahlers Trauermarsch aus seiner 1. Symphonie begleitet.

Die Erzählung über Joana, einer ehemaligen Freundin des Autors und deren Selbstmord, wird mit einer zarten Melodie von Schubertschem Gepränge, vorgetragen auf der Violine, untermalt.

Die Beschreibung des „künstlerischen Abendessens“, an welchem der Autor bei der Familie Auersberger teilnimmt, beinhaltet Rückblicke auf sein Leben, aber auch auf jenes einiger Anwesender. Dies führt zu einem bunten Kaleidoskop einer Schar von Menschen, die spätabends der Einladung folgte, um einem Burgschauspieler nach dessen Auftritt in Ibsens „Wildente“ zu huldigen.

Dieses Setting gab Bernhard die Gelegenheit, sich über das Burgtheater auszulassen, jener „Dichtervernichtungs- und Schreianstalt“, wie er es nannte, dessen Publikum sich prompt aufs Äußerste über diese vermeintliche Ungebührlichkeit erregen konnte. Eine der wunderbarsten Szenen ist jene, in welcher Ofczarek als deklamierender Burgschauspieler seine Größe und Bekanntheit weitaus höher ansetzt als jene der Direktoren, deren er schon unzählige kommen und gehen sah. „Burgschauspieler kennt man, aber einen Burgtheaterdirektor?“

Es sind Sätze wie diese, welche das Publikum erheitern und zu Zwischenapplaus animieren und zugleich auch klarmachen: Stefan Bachmann ist einer, der nicht nur mit viel Humor auf sein eigenes Wirken blicken kann, sondern auch einer, der genau weiß, wie es ihm gelingt, nicht schon „nach Vertragsunterschrift gleich tot oder gar ein Idiot zu sein“, wie Bernhard den Zustand von unzähligen Burgtheaterdirektoren in seinem Text beschrieb.

Neben der großen Portion Humor, welche durch die musikalische Begleitung richtig zum Ausdruck kommt, ist es vor allem auch die Erkenntnis, wie rhythmisch-musikalisch der Text von Thomas Bernhard selbst ist. Dazu trägt auch der Vortrag von Ofczarek bei, der sich wie eine Solistenstimme in das musikalische Geschehen einfügt. Deutlich wird dies beim Zusammenklang von Stimme und einem Bolero, welcher sich zwar rhythmisch, aber nicht melodisch mit jenem von Ravel vergleichen lässt. Aber auch eine Polka, ein Landler, sowie ein herrlicher Galopp, welcher die Beschreibung des Suppenessens begleitet, in welchem der Burgschauspieler nach jedem zweiten Löffel ebenso nur zwei Worte eines Satzes zum Besten gibt, statten die Lesung in kräftigsten, auditiven Farben aus.

european cultural news.com HOLZFAELLEN Nicholas Ofczarek Franui2cTommy Hetzel.jpg

Nicholoas Ofczarek & Franui im Burgtheater im Stück „Holzfällen“ von Thomas Bernhard

Es sind zum Teil Eigenkompositionen, dann wieder verfremdete, aber auch direkte musikalische Zitate, wie Didos Lament von Henry Purcell, welche dem Abend eine große Portion Atmosphäre einhauchen. Zum Teil so stark, wie es für gewöhnlich nur Filmmusik imstande ist zu leisten. Ganz intensiv wird dies kurz vor Ende der Aufführung noch einmal spürbar, als Ofczarek Bernhards gehetzten Lauf durch die Straßen Wiens nachempfindet, unterstützt vom 2/4 Takt, der ihn weg von der Gentzgasse, in welcher das Abendessen stattfand, führen sollte.

Die Bernhard-Referenz erscheint wie eine direkte Verbeugung der neuen Direktion vor diesem außergewöhnlichen Autor, der Österreich spaltete, wie selten jemand vor ihm. Eine Referenz, die aber auch den Eindruck erweckt, dass sich Bachmann zum Wiener Publikum hinbewegen und es animieren möchte, sich mit seiner Programmatik auf einen lustvollen Theaterweg zu machen.