Das Lustspiel ‚Minna von Barnhelm‘ stand und steht auch noch heute auf dem Leseplan in Gymnasien. Nicht zu Unrecht, hat Gotthold Ephraim Lessing damit doch ein Paradebeispiel für eine Komödie vorgelegt, die ganz der Aufklärung seiner Zeit verpflichtet war. Und Aufklärung tut auch heute noch Not, gerade in Zeiten von Fake News und den Debatten um das Wohlergehen von Frauen, das so mancher Diktatorzwerg aus den USA und auch anderswo ihnen per Gesetz überstülpen möchte.
Dass das Stück auch heute noch für die Bühne lustvoll zugerüstet werden kann, bewies die Inszenierung im Schauspielhaus in Graz unter der Regie von Ulrike Arnold. In der vergangenen Saison überzeugte sie schon mit Nestroys „Der Zerrissene“. In ‚Minna von Barnhelm oder die Kosten des Glücks‘ greift sie abermals in jene Regietrickkiste, aus der sie immer wieder gelungene Gags und humoristisch überraschende, szenische Versatzstücke herauszuholen imstande ist.
Zu Hilfe kommt ihr das Ensemble mit Anke Stedingk in der Titelrolle, Sarah Sophia Meyer als Franziska, sowie Annette Holzmann als Wirtin. Die drei Frauen sprühen vor Witz und Elan und überzeugen mit ihren Charakterdarstellungen rundum. Dabei darf jede einzelne von ihnen das gesamte Gefühlsspektrum zwischen himmelhochjauchzend und zu Tode betrübt darstellen, ein Umstand, der gerade im Theater, in dem nur der Augenblick zählt und nicht der x-te Take einer Filmaufnahme, besonders mitreißt.
Stedingk verkörpert Minna, die sich auf die Suche nach ihrem Major von Tellheim gemacht hat, als eine Vollblutliebende, die mit jeder Faser ihres Körpers und ihrer Seele um ihr Glück kämpft. Dass sie intellektuell ihrem Major überlegen ist, wird rasch deutlich. Vor allem auch, weil Sebastian Schindegger Tellheim als einen verbohrten, vom Schicksal gebeutelten, in sich gekehrten Mann zeigt, der noch dazu mundfaul ist. Wie groß seine Schauspielkunst ist, wird erst deutlich, als er auch in der Rolle von Riccaut de la Marlinière auftritt. Jenem windigen Typen, der Minna in Nullkommanichts um den Finger wickelt. Mit seiner exaltierten Art, seinem Macho-Gehabe, seiner Unverfrorenheit und seiner sprühenden Lebensfreude ist er das ganze Gegenteil von Tellheim – und die Idee der Doppelrollenbesetzung somit großartig.
Sarah Sophia Meyer nimmt rasch das Publikum für sich ein. Nicht nur, weil sie sich als beruhigendes und dienendes Element an der Seite von Minna entpuppt, sondern auch als eine junge Frau, die erleben darf, was Liebe auf den ersten Blick bedeutet. Ihr Zusammentreffen mit Paul Werner, Tellheims ehemaligem Wachtmeister, sprüht nur so von Liebesfunken, Unbeherrschtheit und anschließendem Schamgefühl. Simon Kirsch behauptet sich in der Rolle des ebenso Schockverliebten genauso wie in jenen Momenten, in welchen er versucht, seinen ehemaligen Vorgesetzten im Feld davon zu überzeugen, dass das Annehmen von Geld in Notzeiten gestattet ist, auch wenn man meint, es nicht zurückzahlen zu können.
Minna von Barnheim (Foto: Lex Karelly)
Vom ersten Aufzug an darf Thomas Kramer als Just, Diener Tellheims, das Publikum zum Lachen bringen. Ein Albtraum, in welchem er von der Wirtin des Hotels gepiesackt wird, darf in immer absurden Steigerungen nacheinander miterlebt werden. Dies geschieht slapstickhaft, grotesk und überzeichnet, aber schlichtweg grandios humorvoll. Beteiligt daran ist auch Annette Holzmann, die als Gastgeberin zwischen Unterwürfigkeit und Berechnung in Sekunden wechseln kann. Wie die herrische, bedrohliche Wirtin letztlich in einem Happy-End-Polster-Kostüm durch mehrere Wandritzen auf die Bühne schlüpft und Just auch noch bezirzt, ist nur eine von vielen gelungenen Ideen. Die Regisseurin verwendet dabei bekannte Stilmittel von TV-Serien und verknüpft sie mit leichter Hand mit dem Theatergeschehen, als sei dies selbstverständlich.
Die Frage, inwieweit die Ehre eines Mannes seinem Glück im Wege stehen kann, wird in unseren Zeiten anders bewertet als zu jenen Lessings. Was jedoch aktueller als aktuell ist, ist jene nach der Gleichberechtigung von Partnern, die sich nicht nur finanziell, sondern auch intellektuell die Waage halten sollte. Der Spagat zwischen Tellheims und Barnhelms intellektuellen Dialogen in Lessings originalem Diktum und dem Esprit und der Spritzigkeit der Inszenierung, macht den Reiz der Inszenierung aus.
Minna von Barnheim (Foto: Lex Karelly)
Eine Bügelszene, in welcher Just und Franziska das Hemd Tellheims und das Brautkleid Minnas in Dampfschwaden einhüllen, oder jene, in welcher Minna sich von Franziska Soletti fütternd in ein Tuchent eingräbt, als wäre sie eine beleidigte Auster, machen einfach Spaß. Großen Anteil am Gelingen hat auch Franziska Bornkamm. Ihr Bühnenbild mit hintereinander wechselnden Zimmerchen, inklusive eines veritablen Aufzugs, der schon einige Jährchen auf dem Buckel hat, reiht sich von der Idee her in die beliebte Gattung der Tür-auf-Tür-zu-Verwechslungs-Komödien.
Florian Rynkowski steuert einen Sound bei, der zwischen Wohlfühlklang und Fahrstuhlmusik changiert. Der Nachklang eines Cembalos verweist an einer Stelle an jene Zeit, in welcher die Komödie entstand, genauso wie der Auftritt Minnas in einer Szene im Barockkostüm mit Reifrock. Dieser hindert sie daran, sich geschmeidig von einem Zimmer in das nächste zu begeben und bietet zugleich eine tolle Gelegenheit, ihr komödiantisches Talent auch ohne Worte auszuleben.
Die Inszenierung ist ein anschauliches Beispiel, wie Klassiker unterhaltsam ins Heute transferiert werden können, ohne dass inhaltlich oder sprachlich an großen Schrauben gedreht werden muss. Und sie macht große Lust, öfter ins Theater zu gehen.
Das Ballett hat im letzten Jahrhundert eine ästhetische Wandlung erfahren, wie alle anderen Künste auch. Die Adaption an den Zeitgeist umfasst aber nicht nur die Tanzstile an sich, sondern auch den Inhalt der Inszenierungen.
In „Fieber“ sowie „Sacre“, die an einem Abend an der Oper Graz getanzt werden, führen Stiens und Cépedes dem Publikum den Zustand unseres Planeten, aber auch unserer Gesellschaft komprimiert vor Augen.
„Fieber“
Louis Stiens beleuchtet in seiner Arbeit „Fieber“ den momentanen und vielleicht auch zukünftigen Erdenzustand. Dieser wird gleichgesetzt mit der Verletzlichkeit des Menschen, drastisch dargestellt schon in der ersten Szene, nachdem ein überraschendes Black einsetzt. Nach wenigen Augenblicken betritt ein Tänzer, der eines seiner Beine nicht mehr richtig ausstrecken kann, die Bühne. Eine anschaulichere Metapher gibt es wohl nicht, um klarzumachen, dass die Menschen und die Erde, auf der wir leben, gleich verwundbar geworden sind. Die Musik von „Fieber“ stammt sowohl von Claude Debussy als auch Maurice Ravel, zwei Komponisten, welche die Moderne in der Musik mit eingeläutet haben. Sie standen an der Schwelle zu jener Zeit, in welcher das Ausmaß der Umweltschädigung seinen dramatischen Anfang nahm.
Der neue Chefdirigent der Grazer Oper, Vassilis Christoppoulos leitet das Orchester trotz seines hohen Schlagwerkeinsatzes auf das Wohltuendste ohne Pathos, höchst nuanciert, was den vielfältigen Charaktermomenten der Choreografie sehr zugutekommt. Diese subtile Herangehensweise, die Debussys und Ravels Klangfarben und Nuancen herausarbeitet, steht im schönen Gegensatz zum Sounddesign von Anni Nöps. Ihre Klangeinsprengsel verheißen nichts Gutes. Wenn es grollt und dröhnt, weiß man, dass kein normales Gewitter im Anzug ist. Der Sound nimmt zum Teil bedrohliche Ausmaße an, die weit über ein normales Naturereignis hinausreichen und an Weltuntergangsszenarien denken lassen.
Bettina Katja Lange schuf ein mobiles Bühnenbild, das nur aus einer einzigen, großen Felsformation besteht. Diese kann von den Tanzenden gedreht und verschoben werden. Auf sie können die Menschen klettern, von ihr abrutschen, aber auch Halt und Schutz suchen. Die Kostüme changieren zwischen hautfarbenen Bodysuits und einer modernen Dirndl-Adaption. Mit letzterer ausstaffiert wird ein naher Bezug zur Alpenlandschaft hergestellt, an der sich das Ensemble im wahrsten Sinne des Wortes abarbeitet. Der Eindruck der Naturbedrohung und einer verklärten Naturanschauung liegen nah beieinander. Schöne Body-Contact-Passagen, die nie gekünstelt wirken, bieten hochästhetisches Augenfutter, an dem man sich kaum satt sehen kann. Viele Körperhaltungen erinnern an die Tanzgiganten zu Beginn des 20. Jahrhunderts, wie Vaslav Nijinsky, auf den auch im Programmheft Bezug genommen wird. Sätze aus seinen Tagebüchern, die auf eine Apokalypse hinweisen, sind gegen Ende tatsächlich auch zu hören. Jener Tänzer, der das Stück mit seinem abgewinkelten Bein einleitet, beschließt es auch wieder. Aber nun schiebt er auch den Fels auf die Seite, um schließlich im finalen Black mit diesem zu verschwinden. Eine sprachlich formulierte Interpretation erübrigt sich ob der Wucht der visuellen Aussage wohl.
„Sacre“
Sacre • Oper Graz (Foto: Anreas Etter)
Der zweite Teil des Abends trägt den Titel „Sacre“, wobei jedoch nicht das „Sacre du printemps“ – das Frühlingsopfer gemeint ist, welches auf den Bühnen rund um die Welt getanzt wird. Igor Strawinskys Musik, geschrieben für die Ballets Russes von Sergei Diagilew, bietet George Cépedes den Layer für die choreografische Umsetzung seiner Gesellschaftsbetrachtung. Und er sieht genau hin.
Zu Beginn lässt er das Ensemble nacheinander vortreten und Standchoreografien absolvieren. Dabei scheinen sich die Arme zu verselbstständigen und agieren, als ob sie fremdgesteuert würden. Trotz ähnlicher Bewegungsabläufe bleiben individuelle Restemomente erhalten, was sich auch durch die unterschiedlichen Körpergrößen der Tanzenden ergibt. Bald lösen sich Zweier- und Dreiergruppen aus der Masse und zeigen, dass ein harmonisches Miteinander offenbar nicht zustande kommen kann. Da wird gezerrt und gerangelt, gepufft und bedenkenlos so manches Foul begangen. Jeder gegen jeden und jede gegen jede ist angesagt. Der raffinierte Lichteinsatz, der die Szenen in dunkles Rot hüllt, unterstreicht die angesagte Brutalität, die sich auch nach einem gemeinsamen Kreislauf, der schier bis zur Verausgabung absolviert wird, weiter fortgesetzt wird. Die logische Konsequenz dieses brutalen Gegeneinanders folgt in einem Zusammenbruch. Nacheinander fallen die Tanzenden auf den Boden, um in einer langen Pause völlig verausgabt liegenzubleiben.
Das warme Licht, das die darauffolgende Sequenz begleitet, stimmt von Beginn an versöhnlich. Und auch die Aussage der Tanzbewegungen künden von einem wohltuenden Zusammenleben und gegenseitiger Rücksichtnahme. Abwechslungsreiche Hebefiguren, die an klassisches Ballett erinnern, aber dennoch einen zeitgemäßen Impetus aufweisen, betonen gerne die Körpermitte. Schub- und Zug erfolgen sanft und fließend und bieten viel Gelegenheit, sich an dieser kreativen Ästhetik zu erfreuen. Was zu schön klingt, um wahr zu sein, hält auch nicht lange.
Ein abermaliger Lichtwechsel, welcher das Blutrot der Kampfszenen sofort wieder spüren lässt, leitet nun einen Part ein, in dem es nicht mehr um Einzelkämpfe geht. Nun sind es alle, nun ist es das gesamte Ensemble, das fremdbestimmt tanzen muss. Dazu passend schraubt sich die Musik ins forte Fortissimo und unterstützt mit peitschendem Elan eine Rasanz, die das menschlich erträgliche Maß weit hinter sich gelassen hat. Geht es in Diagilews Sacre um ein einziges Menschenopfer macht Cépedes klar: Die Opferrolle, die einst einem einzelnen Menschen durch die Gesellschaft aufoktroyiert wurde, ist heute eine allgemeine geworden. Der Takt der Industrialisierung, das Schneller Höher und Weiter des Kapitalismus schont niemanden und scheint alle zu willfährigen Marionetten zu machen.
Die wilde Dynamik der Musik, aufgenommen in der Choreografie, überträgt sich auf das Publikum. „Obwohl ich nur zugeschaut habe, bin ich ganz außer Atem – was für eine Leistung!“, war von einer Dame zu hören, die ihre Begeisterung mit ihrer Begleitung nach dem frenetischen Applaus teilen wollte. Eine Begeisterung, der man uneingeschränkt zustimmen kann. Auch wenn beide Stücke kein Happy End anbieten.
Was für eine Entdeckung! Man muss keine großen Wahrsagekünste haben, um vorauszusagen, dass Stefko Hanushevsky ein Publikumsliebling der Burg werden wird. Denn nach der Aufführung seines Stückes „Der große Diktator“ am Akademietheater ist er es schon für all jene, die ihn in dieser Inszenierung gesehen haben. Der aus Oberösterreich gebürtige Schauspieler kam mit dem jetzigen Burgtheaterdirektor von Köln nach Wien und – möge seine Bitte erhört werden – soll er hier bis zu seiner Frühpensionierung auch bleiben. Ganz zur Freude des hiesigen Publikums.
Der große Diktator (Foto: Tommy Hetzel)
Unter der Regie von Rafael Sanchez erzählt er im Plauderton, gesteigert bis zur höchsten Schauspielattitüde, von seiner Kindheit und Jugend in der Provinz. Er wuchs in einem kleinen Ort in Oberösterreich auf, in dem es von Altnazis nur so wimmelte und dem er dank eines reichen Onkels aus Amerika schließlich entkommen konnte. Dabei treibt er Storytelling auf höchstem Niveau mit der Erzählung seines Auftrittes in einer Künstlergarderobe, in welcher er Adenoid Hynkel – den Friseur aus Charly Chaplins „Der große Diktator“ zum Besten gab. Stefko weiß aber auch mit dem jähen Platzen des Traums zu fesseln, am Broadway eine große Karriere zu machen.
Alles, was er auf der Bühne tut, trieft nur so von Authentizität und das, was beim Triefen an schillernden Tröpfen verspritzt wird, darf man getrost als Surplus seiner ausufernden Fantasie bewerten, die einfach nur mitreißt. Er schlüpft in unterschiedliche Rollen wie jene von Herrn Otto Grauberger, einem Kriegsversehrten, der einen veritablen Nazi-Hausaltar sein Eigen nennt. Diese Figur, so böse er sie auch ansetzt, sowie jene des Bürgermeisters der Stadt, haben es in sich, denn von beiden zeigt er offen ihre menschlichen Schwächen. Letzterer hat bei seinen Reden Mühe, seinen erhobenen Hitlerarm unter Kontrolle zu bringen und erleidet regelmäßig schmerzhafte, psychische Flashbacks, wenn der Schützenverein seine Salven abschießt. Beide werden ohne Pathos oder Schönrederei so glasklar charakterisiert, dass verständlich wird, warum diese Männer –stellvertretend für viele andere, die im Krieg an der Front das Grauen erlebt haben – so vergangenheitsorientiert leben. Die intelligente Dramaturgie, die dahintersteckt, ist bewundernswert.
Der große Diktator (Foto: Tommy Hetzel)
Die amüsante Rahmenhandlung einer Busreise mit blasenschwachen und unterzuckerten amerikanischen Touristen zu den schönsten und interessantesten Nazi-Stätten in Deutschland ist gespickt mit sprachübergreifendem Wortwitz. Nach einem technischen Gebrechen rettet er sich mit der Ansage: „Go out, we have a Reifenplatzer, but we can now „frische Luft schnappen“. Ob seine Selbstbeschreibung stimmt, ignorant, intrigant, neurotisch, selbstsüchtig und skrupellos zu sein, kann man nicht bewerten. Wohl aber stimmt seine Aussage, lustig und nie langweilig zu sein zu hundert Prozent an diesem Abend.
Hinter dieser Fröhlichkeit und seinem unbändigem Spielwillen, der auf hohe Schauspielkunst trifft, verbergen sich im Text jedoch zugleich auch die tiefsten Abgründe, mit welchen unsere Gesellschaft derzeit zu kämpfen hat: Eifersucht, Bösartigkeit, Sadismus sowie das Erstarken rechtsradikalen Gedankenguts. Es ist nicht nur das performative Können Hanushevskys, das so fesselt. Der Aufbau seiner „Erzählung“, die er in eineinhalb Stunden abhandelt, sodass man am Ende das Gefühl hat, sich doch eben gerade erst auf seinem Platz bequem gemacht zu haben, ist schlichtweg atemberaubend. Die Mischung aus Comedy, grandiosen musikalischen Nummern, vorgetragen in gänzlich unterschiedlichen Stimmcouleurs, seine auf Schenkelklopfen angelegten Witze, die schwärzer als schwarz nicht sein können – all das fügt sich zu einem Theatererlebnis der Sonderklasse. Selbst der Höhepunkt, die Rede Charly Chaplins als großer Diktator, bekommt unter seiner Interpretation keinerlei epigonenhaften Touch. Hoch über der Bühne auf der Plattform eines kleinen Hebekrans schmettert er eine martialische, dadaistische Verballhornung nieder, in der gut die „Strrrrrrafffe“ und der „Volkskanzlerrrr“ hörbar werden. Charly Chaplin würde nicht nur diese Szene laut akklamieren.
Der große Diktator (Foto: Tommy Hetzel)
So schillernd und skurril seine Figuren auch sind, so fantastisch erfunden so manche Szene, so beeindruckend ist letztlich Stefko Hanushevsky mit seiner Performance selbst. Er produziert sich nicht als Überkünstler, sondern als bescheidener Alleinunterhalter, allerdings auf einem Niveau, das einer Burgtheaterinszenierung würdig ist. Einen besseren Einstieg in die Wiener Theaterlandschaft hätte er sich nicht bereiten können. St-efko, nicht Sch-tefko, Stefko, so wie Star Wars ergänzt die Reihe an Soloabenden an der Burg in dieser Saison nach Nicholas Ofczareks „Holzfällen“ und Nils Strunks „Schachnovelle“ auf demselben hohen Niveau und trägt dazu bei, die Vorstellungen des Hauses wieder mit dem Attribut „ausverkauft“ zu versehen.
Kleiner Nachspann: Auch das Programmheft ist es wert, gekauft und gelesen zu werden. Es bietet höchst Interessantes zur Vermarktung und Verdrängung des Obersalzbergs, inklusive eines weiterführenden QR-Codes eines Artikels von Margarete Stokowski.
Text: Stefko Hanushevsky, petschinka und Rafael Sanchez Bühne: Sebastian Bolz Kostüme: Melina Jusczyk Musikalische Komposition: Cornelius Borgolte Licht: Jan Steinfatt.
Die Erzählungen der Odyssee mit ihrem Helden Odysseus, welcher dem Epos seinen Namen gab, sind stets mit einer Aura des Heldenhaften umgeben. Eine Aura, die in der Textfassung von Gerhard Dienstbier und Azelia Opak gehörig angekratzt wird.
Martin Brandlmayr komponierte die Musik, Azelia Opak war neben dem Libretto auch für die Regie verantwortlich. Die Erzählungen über und von Telemachos, der seinen Vater nicht kennt und sich auf die Suche nach ihm macht, werden von einem Kinderchor, einer Sängerin und zwei Sängern aufgeführt. Der Komponist agiert neben der Bühne am Schlagwerk und an der Percussion, Martin Siewert bedient neben ihm die Elektronik und spielt Gitarre.
Odyssee des Telemachos (Foto: Julia Varkonyi)
Musikalisch auf das Wesentliche reduziert, abseits von Dur- und Mollharmonik, jedoch stark rhythmisch unterlegt, bietet die Komposition dem jugendlichen Chor häufig Gelegenheit, am musikalischen Geschehen teilzuhaben. (Chor des BRG Pichelmayergasse) Die Emotionen von Telemachos, von Freude über Angst und Hoffnungslosigkeit, kommen gut zum Ausdruck. Seine Mutter, die anfangs nicht darüber sprechen will, dass ihr Mann sie verlassen hat, versucht vielmehr, ihn zum Helden hochzustilisieren. Als sie schließlich die Beherrschung verliert, poltert sie in hohen Lagen durch die Partitur, sodass man glaubhaft nachvollziehen kann, wie sehr sie als Alleinerzieherin eigentlich überfordert ist.
Anete Liepina als Penelope sowie Gustav Wenzel Most als Telemachos sind stimmgewaltig, aber auch spielfreudig. An ihrer Seite agiert Clemens Kölbl als Menelaos und Odysseus und schlüpft noch in weitere Rollen. Auch er überzeugt schauspielerisch, aber auch als Sänger.
Odyssee des Telemachos (Foto: Julia Varkonyi)
Ein einfaches Bühnenbild – ein Prospekt wie das eines Handpuppentheaters – und ein Sofa reichen aus. Die atmosphärische Bildbegleitung kommt von der großen Projektionsfläche dahinter, die sich den jeweiligen Szenerien anpasst. Die Regie erlaubt sich in der Suche nach Odysseus witzige, aktuelle Bezüge. Als der Götterbote „Hermes“ die Szenerie betritt, wird klar, dass dieser nichts anderes, ein sehr prosaischer, zeitgeistiger Postbote ist. Auf seiner Suche nach Odysseus erfährt man, dass dieser in den vergangenen Jahren immerhin schon 50 Wohnsitze innehatte. Und schon kippt das Heldenepos hin zu der Geschichte eines Mannes, der die enge Bindung an seine Familie scheut und stattdessen auf einer dauerhaften Flucht vor dieser ist. Seine Geschichten sind allesamt dick aufgetragen, vielmehr hat es den Anschein, dass er von einer Gefahr tollpatschig in die nächste fällt oder von einer Traumerzählung in die nächste stolpert. Die verführende Kirke und der verwundete Zyklop treten mit übergroßen Pappmachéeköpfen auf und sind auf den ersten Blick leicht als Fantasiewesen zu erkennen. (Ausstattung Denise Leistentritt)
Telemachos wird auf der Suche nach seinem Vater, auf welcher er nicht nur Erfreuliches über ihn erfährt, erwachsen und ist letztlich imstande, sich von seiner idealisierten Vorstellung von ihm zu lösen. Das Verdienst der Kinderoper „Die Odyssee des Telemachos“ liegt in der Umkehr des Blickes. Weg von jenem auf einen vermeintlichen Helden hin zum Blick auf seinen Sohn, der sich berechtigterweise vernachlässigt fühlt. Damit spiegelt die Inszenierung eine Situation, die für viele Kinder schmerzhafte Realität ist. Zugleich bietet Azelia Opak in ihrer Auslegung der Geschichte aber auch die tröstliche Aussicht, diesen Schmerz einmal überwinden zu können.
Der leicht fassliche Text und die gut herausgearbeiteten Charaktere sind altersgerecht und werden das junge Publikum ab 8 Jahren wie bei der Premiere fesseln.
Nach dem Erfolg von Thomas Bernhards „Holzfällen“ mit Nicholas Ofczarek als Erzähler wartet der Spielplan nun, das darf man mit Fug und Recht behaupten, mit einem weiteren Highlight dieses Genres auf.
Den Inhalt nachzuerzählen ist wohl müßig, die Bühnenumsetzung jedoch so umwerfend, dass ihr ein breiter Raum gewidmet werden muss. Die Programmierung, die Premiere für den Abend der österreichischen Nationalratswahl anzusetzen, war mehr als vorausschauend.
Vieles, was Zweig in seiner Novelle festgehalten hat, schwingt in unsere aktuelle gesellschaftlich-politische Situation herüber und macht nachdenklich, was das Wahlergebnis letztlich in Österreich, aber auch darüber hinaus der politische Zustand in ganz Europa, in Zukunft bewirken wird.
Die Schachnovelle am Burgtheater (Foto: Tommy Hetzel)
Nils Strunk, Schauspieler, Musiker und Regisseur, hat gemeinsam mit Lukas Schrenk jene Novelle dramatisiert, die zu den besten von Stefan Zweig zählt. Dabei dachte er von Beginn an daran, den Text mit Musik zu ergänzen, die er beim Lesen wie selbstverständlich heraushörte. Gemeinsam mit drei Musikern am linken Bühnenrand, ausgestattet mit vielen Instrumenten, illustriert er gleich zu Beginn das geschäftige Treiben vor der Abfahrt des Dampfers, dessen Passagiere sich in New York nach Buenos Aires einschiffen. Ein akustisches Durcheinander aus Posaunen- und Perkussionklängen, aus welchem die Stimmen der Telegrafenboys mit ihren Rufen herauszuhören sind, veranschaulicht jene hektischen Momente, in welchen die Passagiere Abschied nehmen und sich auf ihre große Reise begeben. Die Abfahrt aus New York begleiten Jazzrhythmen, die sich alsbald hin zu einer Tangomelodie entwickeln, welche klarmacht, dass die Reise in Südamerika enden wird.
Das Charakteristikum der illustrierenden musikalischen Untermalung behält Strunk die ganze Inszenierung über bei. Einige der musikalischen Perlen hat er selbst komponiert und mit Songtexten von Lukas Schrenk in englischer Sprache ausgestattet. Viele andere zitiert und paraphrasiert er, dass es eine wahre Freude ist. Viele der Schiffsreisenden in Zweigs Novelle sind Europäer und so wundert es nicht, dass die Fahrt letztlich auch ein Exodus aus ihrer Heimat ist. „Europe is lost“, singt Strunk an einer Stelle, worauf einige Takte von Brahms ungarischem Tanz Nr. 5 erklingen, der sich rasch zu einem martialischen Marsch auswächst. Der politische Aktualitätsbezug zu unserem Nachbarn, musikalisch subtilst platziert, liegt auf der Hand.
Die Lyrics der Eigenkompositionen beleuchten den ungewöhnlichen Geisteszustand des bäuerlichen Schachweltmeisters, der sich an Bord befindet, aber auch jenen seines Kontrahenten. Auch Dr. B., durch die Isolationshaft unter den Nazis einerseits unfreiwillig zu intellektuellen Höchstleistungen angespornt und andererseits durch diese letztlich auch devastiert, ist ein Song gewidmet. In dieser Komposition kulminieren seine Gefühls- und Geisteslagen bis hin ins Extrem. Der sanfte, melodische Beginn endet in einer wilden Passage, in der die Raserei der gespaltenen Persönlichkeit nicht nur hör-, sondern auch spürbar wird, so mitreißend agieren die Musiker in dieser Szene, an ihrer Spitze Nils Strunk.
Neben der abwechslungsreichen Musik, die dem Text unglaublich viele atmosphärische Farben beisteuert, ist es die grandiose Schauspielkunst, die Begeisterung auslöst. Alle Charaktere, inklusive des Erzählers, gibt Strunk selbst, abwechselnd in unterschiedlichen Stimmlagen und mit kleinen, aber effektiven Kostümwechseln. (Kostüme Anne Buffetrille). Wie er die Schachpartien nachspielt und dabei nicht nur die jeweiligen Gegner verkörpert, sondern auch die um sie herumstehenden Kiebitze, ist schlichtweg vom Feinsten. Die Erzählung des Rechtsanwaltes Dr. B., der berichtet, wie er sich selbst in einer höchst lebensbedrohlichen Situation das Schachspiel beigebracht hat, fesselt, nicht zuletzt auch durch die gelungene Ausleuchtung in dieser Szene. Aber auch jene, in welcher ihn beim Spiel gegen den tumben Schachweltmeister der Wahnsinn ergreift, macht atemlos beim Zusehen.
Strunk begleitet sich selbst am Klavier und tut dies mit einer Selbstverständlichkeit und Professionalität, die in keiner Sekunde erahnen lässt, dass er keine Noten lesen kann. Die Bühnenprospekte werden ebenfalls von ihm selbst verschoben, ganz so, als würde sich die Vorstellung in einem kleinen Theater ohne jegliche Bühnencrew befinden. Maximilian Lindner schuf dafür Leinwände, die in dunklen Schwarz-Grau-Schattierungen menschliche Porträts zeigen. Die Projektion architektonischer Ausschnitte des ehemaligen Hotels Metropol, des Sitzes der Gestapo in Wien, verweist auf die Haft von Dr. B. in diesem Haus, die ihm letztlich den Verstand kostete.
Die Schachnovelle am Burgtheater (Foto: Tommy Hetzel)
Die übergroße Portion an Musikalität und Kreativität macht diesen Abend so fesselnd. Zur packenden, berührenden und großmeisterlichen Performance kommt, dass Strunk bis auf Kürzungen nicht ins Textmaterial eingriff und ausschließlich Zweigs wohlklingendes Sprachdiktum, das zurecht so geschätzt wird, verwendet.
Dass man mit dieser Art zu spielen und Regie zu führen entweder kläglich scheitert oder einen Triumph einfährt, liegt auf der Hand.
Minutenlange Standing Ovation bei der Premiere, aber auch schon ein enthusiastischer Zwischenapplaus machten deutlich, wie sehr „Die Schachnovelle“ das Publikum begeisterte. Es ist zu erwarten, dass diese Inszenierung sich zu einem Dauerbrenner des Hauses auswachsen wird und das zu Recht.
In der Musikformation wechseln sich Jörg Mikula mit Sebastian Simsa, Hans Wagner mit Bernhard Moshammer und Martin Ptak mit Alois Eberl je nach Aufführungsdatum ab. Hut ab, auch vor ihrer Leistung.
Anlässlich der Veranstaltungen rund um das Jubiläum‚ 150 Jahre Favoriten‘, schufen Rita und Georg O. Luksch einen Abend mit Texten der Autorin, die ein bewegtes Leben im 19. Jhdt. hatte. Der Titel der Inszenierung ‚Ada Christen, die Stimmen der Verlorenen‘ verweist sowohl auf die Autorin selbst als auch auf jene Menschen, die sie in ihren Erzählungen so plastisch beschrieb.
In intimer Atmosphäre, dem kleinen Theaterraum des Kulturraums Gleis 21, agieren die Schauspielerin und der Musiker Georg O. Luksch zu zweit auf der Bühne. Begleitet von atmosphärischen Visuals, die Erich Heyduck gestaltete. Darauf zu sehen sind verfremdete Häuser und Menschen, deutlich aber dem vergangenen Jahrhundert zuzuordnen, in dem sich das Geschehen abspielte, das Rita Luksch vortrug.
Dazu schlüpfte sie in die Rolle von Christi(a)na von Breden, geb. Fr(i)ederik. Die Autorin wurde 1839 in Wien geboren und starb 1901 in Inzersdorf als Witwe ihres zweiten Mannes, Adalbar von Breden. Er war der Gründer der Inzersdorfer Konservenfabrik, erlitt jedoch am Ende seines Lebens wirtschaftlichen Schiffbruch. Es war nicht das erste Mal, dass die kämpferische Frau harte Zeiten verkraften musste. Schon als Kind erlebte sie, wie sich die Familienverhältnisse von begütert in bettelarm veränderten. Der Hunger und der Kampf ums Überleben sind in ihren Kindheitserinnerungen festgehalten und beeindrucken auch heute noch.
Rita Luksch, alias Ada Christen, alias Christl erzählt über ihre Erlebnisse in der „Blauen Gans“, einem langgestreckten Gebäude in Favoriten, in dem 20 Familien mit ihren Kindern ärmlichst zur Miete wohnten. Die Mutter verdiente den Unterhalt für sich und ihre Familie, nachdem ihr Mann verstorben war, als Handschuhnäherin. Die kleine Christl musste diese bei jedem Wetter in die Stadt tragen, um sie um ein paar Groschen einem geizigen, französischen Händler zu verkaufen, der diese mit Profit an seine noble Kundschaft weitervermittelte.
Nach einer dramatischen Episode, bei welcher das Mädchen beinahe erfroren wäre, wechselt die Erzählerin die Perspektive und berichtet über den Neubau einer Villa in unmittelbarer Nachbarschaft, welche für die Kinder ein außerordentlich interessantes Ereignis darstellte. Dabei schildert sie kunstvoll, welche Schicksale sich in dieser Villa abspielten. Was nicht direkt angesprochen wird, erklärt sich Erwachsenen von selbst und kann leicht zwischen den Zeilen herausgelesen werden.
Ada Christen – die Stimme der Verlorenen (Foto: Ensemble21)
Es ist die herausragende Schauspielkunst von Rita Luksch, die einem alles Erzählte plastisch vor Augen führt. Wie sie in die Rolle der kleinen Christl schlüpft, die angstgeweitet ihre Augen aufreißt, wenn sie sich vor Schlägen oder Zurechtweisungen fürchtet, macht tief betroffen. Wenn sie sich am Boden balgt, so als wäre sie mitten in einer veritablen Rauferei, um die so dringend benötigten Holzspäne zum Heizen für ihre Mutter zu ergattern, meint man, einer ganzen Kinderbande zuzusehen. Beeindruckend ist auch jene Szene, in der sie einem vertrauenswürdigen Erwachsenen von einem Federhut erzählt, welcher der Tochter ihres Hausherren gehört. Dass mit ihm ein Geheimnis verbunden ist, spürt das kleine Mädchen, welches aber, erschließt sich nicht ihr, sondern nur dem Publikum beim Zuhören.
Ada Christensens schriftstellerischer Verdienst besteht aus mehreren Komponenten. Einerseits ist es der Kunstgriff, das Geschehen aus Kinderperspektive zu erzählen, welches die Geschichten so plastisch werden lässt. Eine literarische Form, die erst zu ihrer Zeit aufkam. Parallelen sind in Peter Roseggers Erzählungen zu finden, allerdings aus der Sicht eines Jungen und nicht eines Mädchens, was einen großen Unterschied macht. Die Tatsache, dass sie auf diese Weise ohne moralische Bewertung das soziale Umfeld ihrer Zeit beleuchtete, stellt sie ebenbürtig an die Seite von Marie von Ebner-Eschenbach, die ihr gesamtes Werk ebenfalls dem Aufzeigen der ungerechten Lebensumstände im 19. Jahrhundert widmete. Letztere arbeitete mit demselben deutschen Verleger zusammen wie Ada Christen, erlangte jedoch, wohl auch aufgrund ihrer gesellschaftlichen Stellung, einen anderen literarischen Stellenwert.
Ada Christen – die Stimme der Verlorenen (Foto: Ensemble21)
Das Elend der mittellosen Familien, die Ungerechtigkeit, mit der unverheiratete Frauen zu kämpfen hatten, die patriarchalen Strukturen, unter der auch Damen der besseren Gesellschaft zu leiden hatten, all das erzählt Ada im kindlichen Plauderton und erreichte damals wie heute die Herzen ihres Publikums.
Einen maßgeblichen Beitrag zum Gelingen der Inszenierung trägt Georg O. Luksch mit seinen musikalischen Impressionen bei. Mit elektronischer Unterstützung erklingen Volksweisen, bedrohlich wirkende Klänge oder Charakteristiken einzelner Personen wie jener eines eitlen Opernsängers. Wenige Takte von Chopins Regentropfenprelude, das zarte Zwitschern eines Kanarienvogels oder das unheimliche, rhythmische Klopfen einer vermeintlichen, männlichen Bedrohung – dies alles und mehr unterstützen die Erzählung meisterlich.
Man möchte von jener Frau mehr lesen, die sich vom „nichtsnutzigen Ding“, wie sie der Hausherr in der Kinderzeit beschimpfte, zu einer zu ihrer Zeit bekannten Schriftstellerin hocharbeitete. Dass dies der Fall ist, ist dieser Inszenierung zu verdanken, die es verdienen würde, noch viele Abende gespielt zu werden. Nicht nur im kleinen Theaterraum des Gleis 21.