Ein großer, leerer Raum, umspannt von einer verglasten Obergade, durch die man das Außen sehen kann. Auf der einen Seite die Spitze einer hohen Pappel, auf der anderen Seite das Ende eines Telegrafenmastes. Dazwischen himmelbesetzter Raum bei Tag und sternenübersäter in der Nacht.
Das ist jenes Szenarium, in dem zehn Tänzer – ausschließlich Männer – eine Stunde lang das tun, was sie zu ihrem Beruf gemacht haben. Tanzen. Ein feiner Lichtstrahl, der im Laufe der Vorführung seine Position vom rechten hin zum linken Bühnenabschnitt verändert, markiert den Sonnenverlauf. Die Dunkelheit zu Beginn, die sich im Laufe der Vorführung aufhellt, stellt sich wieder ein, als die Sterne zu flimmern beginnen und verschwindet abermals bei „Tagesanbruch“. Ein Tag, 24 Stunden sind es wohl, die Bruno Beltrão mit seiner Grupo de Rua, mit dieser Lichtinszenierung (Renato Machado) markiert.
„New Creation: Inoah“ ist der Titel dafür. In den Vorankündigungen war noch von einem Laufband zu lesen, auf welchem die Tänzer über 4 km im Laufe der Inszenierung abspulen würden, doch kurzfristige Änderungen ließen dieses Sportgerät außen vor. Geschadet hat es dieser Choreografie überhaupt nicht.
Ein Tag im Tanzstudio
Beltrãos Tänzer agieren nach einer unglaublich komplexen Choreografie. Dabei wundert man sich, wie es überhaupt möglich ist, sich die enorme Vielfalt an raschen Bewegungsabfolgen zu merken, die gezeigt werden. Und was für Bewegungsabfolgen das sind! Der mittlerweile auf der ganzen Welt bekannte, brasilianische Choreograf lässt darin eine ganze Reihe von Tanzstilen miteinander verschmelzen. Formationen aus Hip-Hop und Streetdance treffen auf zeitgenössischen Bühnentanz. Harte Rempeleien und Bewegungsmuster aus Sportarten wie Kick-Boxen oder Basketball vermischen sich mit immer wiederkehrenden Zuckungen von Händen oder Armen. Repetitionen, die nicht dechiffrierbar sind, aber auf einen Code hinweisen, den die Männer untereinander verstehen.
Immer wieder geraten sie mit Bodychecks aneinander oder schleudern ihre Körper gegenseitig weg, ohne auf den sofort danach einsetzenden Aufprall des Gegenübers zu achten. Ausstaffiert mit Kleidern oder zumindest Röcken in unterschiedlichen, gedämpften Farben und festen, zum Teil knöchelhohen Turnschuhen, vermitteln sie jedoch nicht eine Sekunde Weiblichkeit. Vielmehr meint man, das Testosteron bis in die letzte Reihe der Halle G im Museumsquartier zu riechen.
Tempo, Tempo, Tempo
Die Tänzer treten in kurzen Soli auf, auch zu zweit, dritt oder viert, oder aber alle 10 Mann gleichzeitig. Es ist ein beständiger Wechsel, ein temporeiches Kommen und Gehen, das von elektronischen Klängen (Felipe Storino) bis hin zu Geräuschen wie einem Donnergrollen unterfüttert werden. An einer Stelle meint man Stimmen einer skandierenden Menge zu hören, die sich wieder entfernt. Eine Soundkulisse, die so vielfältig ist, wie ein Tag sie zufällig mit sich bringen kann.
Bei ihren rasanten Auftritten ducken sich die Männer, fallen, weichen einander aus, kullern über die Bühne in allen nur möglichen Varianten, die man sich vorstellen oder vielmehr nicht vorstellen kann. Sie rollen sich dabei über über ihre Schulterblätter ab, wippen zusammengekrümmt im Duett hintereinander auf ihren Rücken, wie zwei soeben verlassene, leere Schaukelstühle. Sie springen vom Boden wie fliehende Insekten, laufen auf allen Vieren quer über die Bühne, wirbeln um ihre eigene Achse.
An einer Stelle beginnen die Tänzer zu sprechen, sich über das, was ihre Kollegen auf der Bühne machen, zu unterhalten. Man versteht ihre Worte nicht, aber kann sich vorstellen, dass sie sich kritisieren, Vorschläge einbringen, kommentieren. Es herrscht ein permanentes Mit- und Gegeneinander, das sich von einem Moment auf den anderen ändert.
Alb- oder Wunschtraum
Als sich der Nachthimmel zeigt, haben alle die Bühne verlassen. Die Männer stehen im Dunkel, bis zwei von ihnen gebückt vor an den Bühnenrand kommen. Mit nacktem Oberkörper versuchen sie sich beim Posieren gegenseitig zu übertreffen. So als ob sie an einer Mister Universum-Show teilnehmen würden. Kurz darauf agieren sie wie Roboter und zeigen keinerlei Gefühlsregungen, als einer von ihnen auf dem Boden hingestreckt liegen bleibt. Weder der Sieger noch der Besiegte haben Freude an dem Kampf, der gerade hinter ihnen liegt. Ein Albtraum, der sich beim Herannahen des neuen Tages verflüchtigt. Oder zeigte die Szene ganz in traumdeuterischer Interpretation vielmehr einen Wunschtraum? Nicht tanzen, sondern Muskeln spielen lassen, bis der Gegner aufgibt?
Abermals beginnt das Tanzspektakel von Neuem. Nur jetzt noch wilder, noch schneller, noch atemberaubender, so als würde das am Tag zuvor Trainierte nun noch besser, noch exakter, noch perfekter sitzen. Nach dem völlig unerwarteten Ende, markiert nur durch ein plötzliches Licht-Aus, reagierte das Publikums begeistert, mit lang anhaltendem Applaus.
„New Creation: Inoah“ verweigert eine herkömmliche Erzählstruktur, oder besser – verschleiert sie. Denn vorhanden ist sie trotz aller enigmatischer Darstellung ja dennoch. Zugleich weist die Produktion eine bislang nicht gesehene Tanzästhetik auf, die hauptsächlich auf Geschwindigkeit, Kraft und Teamgeist setzt. Bruno Beltrão dekliniert dabei das männliche Prinzip im Tanz auf neue Art und Weise durch. Er scheut sich nicht, Stereotype zu bedienen, auch wenn er sie zugleich mit gendergerechten Kostümen konterkariert. Rivalität, das Gerangel um den besten Platz in der Gruppe, die Stilisierung des männlichen Körpers sind ein Teil dieses „In-Szene-Setzen“, in dem Reflexion, Poesie und Langsamkeit keinen Platz haben. Zugleich zeigt es eine Momentaufnahme, in der die Befindlichkeit, die zwischen dieser brasilianischen Männergruppe herrscht, gespiegelt wird. Wenn man will, könnte man dies als Metapher einer rauen Außenwelt interpretieren, in der das Recht des Stärkeren nach wie vor als oberstes Prinzip gilt. Das Stück ist ein starkes Bekenntnis zu einer ausschließlichen, männlichen Tanzpräsenz die förmlich nach einem weiblichen Pendantabend schreit.