Ein Abend – rein dem Tanz gewidmet – so wurde sinngemäß die Choreografie von Gilles Jobin für sein Stück „Black Swan“ angekündigt. Er gastierte mit seiner Gruppe anlässlich des „festival nouvelles“ im Pôle-Sud in Straßburg. Was auch den Ankündigungsunterlagen zu entnehmen war – dass sich der Titel „Black Swan“ also „Schwarzer Schwan“ auf die Falsifizierungstheorie Sir Karl Poppers bezieht, ist zwar eine Zusatzinformation die zu philosophischen Ansätzen verleitet, um das Stück an sich zu beschreiben, ist sie jedoch wenig erhellend. „Reiner Tanz“, also Tanz, der nichts will, als auf sich selbst referenziert zu bleiben, so wie man in der Musik gerne auch von „absoluter“ Musik spricht, der kein Programm hinterlegt ist, „reiner Tanz“ wurde an diesem Abend jedoch definitiv nicht geboten. Gilles Jobin mag dies zwar vorgeben. Wenn man aber diese Vorgabe beiseite schiebt und sich auf die logische Abfolge seines Stückes unvoreingenommen einlässt, um sich danach einen Reim daraus zu machen, dann fällt auf, dass er uns subtil tief zurückführt in unsere eigene Kindheit.
Er führt uns zurück in jene Zeit, in der wir erstmals begannen, uns selbst zu entdecken. Die langen, fließenden Passagen der beiden Tänzerinnen ganz zu Beginn, in denen sie sich nur mit sich selbst beschäftigten und danach den dazugetretenen Tänzer nur als Stützhilfe benutzten, kann in diese Richtung hin interpretiert werden. Jobin transferierte uns, wenn auch unterschwellig, in jene Zeit, als wir mit Plüschtieren und Puppen spielten, uns in sie hineinversetzten, um ganz in ihre Rollen zu schlüpfen.
Die Freude, die wir darin empfanden, die ausgelassenen Sprünge, das Eintauchen in die Welt eines imaginierten Wesens zeigte er wiederum in jener Szene, in der er mit einem zweiten Tänzer ausgelassen über die Bühne hüpfte – die Hände in Plüschpuppen steckend, die graue Hasen mit langen Ohren verkörperten. Nach der Beschäftigung und der Entdeckungsreise in uns selbst folgte jene, in der wir mit anderen zu spielen begannen. In der wir uns gegenseitig nachliefen, versteckten, balgten und nicht mehr wussten, wo in der Hitze des Spielgefechtes unser eigener Körper aufhörte und der unseres Freundes begann. Gilles Jobin fand dafür ein anschauliches Bild: Ein menschliches Knäuel von 4 Personen, die sich mit einigen Stoffpferden als eine Gemengenlage quer über die Bühne rollten oder besser übereinanderschoben, ohne dass man die einzelnen Körper überhaupt noch als einzelne Körper wahrnehmen konnte. Ein Bild, das gerne in der zeitgenössischen Choreografie eingebaut wird – bei Jobin durch das Mitaufnehmen der Stofftiere jedoch noch einmal einen ganz persönlichen Ausdruck findet. Jobin zeichnet anhand von vier verschiedenen Szenerien die kindliche Entwicklung nach, die sich, nach der Bewusstwerdung des Ichs zum Austausch mit den anderen wendet um – ganz zum Schluss – fast schon in Macchiavelli´scher Art und Weise die Freunde im strategischen Spiel dorthin zu bewegen, wo wir sie gerne gehabt hätten. Die mehrere Meter langen Stäbe, die den Tänzern als Verlängerung ihrer eigenen Arme in die Hand gegeben wurden, zeigten, dass die Lust am Entdecken der Möglichkeiten dieses unbekannten Werkzeuges bei der Erarbeitung Choreografie im Vordergrund gestanden sein muss. Das Wischen über den Boden damit, das sich ineinander Verschränken und dennoch nicht Verhaken bot Anschauungsmaterial genug, um Parallelen zur ehemals eigenen kindlichen Entdeckerfreude bei neuem Spielzeug zu finden. Das Verschieben von gut einem Dutzend Plüschpferden, mit denselben Stäben im nächsten Bild wiederum, leitete jene Phase ein, die im realen Leben gemeinhin als Erwachsenwerden bezeichnet wird. Ein Stadium, mit dem die Choreografie Jobins jedoch endete.
Mag sein, dass Jobins Ideen und Vorstellungen von einem anderen inneren Drehbuch als meinem bestimmt waren. Mag sein, dass einige im Publikum das Stück tatsächlich als „reines“ Tanzstück wahrnahmen. Ich für mich bin froh, durch „Black Swan“ zum Nachdenken und Nachspüren angeregt worden zu sein, wie schön es sich einst anfühlte, die Welt zu entdecken. Und auch zu erkennen, dass es mithilfe der Kunst auch heute noch Mittel und Wege gibt, sich daran intensiv zu erinnern.
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