Er sei Dr. Ignaz Semmelweis und nur ihm sei die Entdeckung der Ursache des Kindbettfiebers zu verdanken. Joseph Listers und Louis Pasteur hätten nur seine Entdeckung wesentlich später berühmt gemacht, ärgert sich der Wiederauferstandene in einer Suada ersten Ranges. Und schon befindet sich die erschrockene Gästegruppe mittendrin im Geschehen.
DER.SEMMELWEIS.REFLEX vom ‚das.bernhard.ensemble‘ ist die neueste Inszenierung von Ernst Kurt Weigel, ausgestattet mit einer fulminanten Choreografie von Leonie Wahl. Zu Recht ist dem Stück die Kategorie ‚Ein Tanz.Schau.Spiel‘ vom Ensemble zugeordnet, denn von allem drei gibt es reichlich.
Vorweg jedoch ein Wikipedia-Auszug, der das Themenfeld der Inszenierung sehr anschaulich wiedergibt.
„Als Semmelweis-Reflex wird die Vorstellung beschrieben, dass das wissenschaftliche Establishment eine neue Entdeckung quasi „reflexhaft“ ohne ausreichende Überprüfung erst einmal ablehne und den Urheber eher bekämpfe als unterstütze, wenn sie weit verbreiteten Normen oder Überzeugungen widerspricht. Namensgebend für diesen Begriff ist die Entdeckung der Bedeutung der Hygiene durch den ungarischen Chirurgen und Geburtshelfer Ignaz Semmelweis.
In einigen Fällen hatten Innovationen in der Wissenschaft eher eine Bestrafung als eine entsprechende Honorierung zur Folge, weil jene Innovationen etablierten Paradigmen und Verhaltensmustern entgegenstanden. Die Begriffsbildung wurde vom amerikanischen Autor Robert Anton Wilson (1932–2007) geprägt und nach dem ungarischen Arzt Ignaz Semmelweis (1818–1865) benannt.
Semmelweis führte das gehäufte Auftreten des Kindbettfiebers, einer der Hauptursachen für die hohe Sterblichkeit von Müttern nach der Entbindung, auf mangelnde Hygiene bei Ärzten und Krankenhauspersonal zurück und bemühte sich, Hygienevorschriften einzuführen. Seine Studie von 1847/48 gilt heute als erster praktischer Fall von evidenzbasierter Medizin in Österreich. Zu seinen Lebzeiten wurden seine Erkenntnisse jedoch nicht anerkannt und von vielen Kollegen, besonders aber von Vorgesetzten als „spekulativer Unfug“ abgelehnt. Erst nach den Arbeiten Joseph Listers (1827–1912) im Bereich der Antiseptischen Medizin wurden die Zusammenhänge zwischen fehlenden Desinfektionsmaßnahmen, Bakterieninfektionen und Kindbettfieber klar.“
Nach einer Kurzeinführung in besagter „Leichenhalle“ siedelt Weigel das Geschehen im Allgemeinen Krankenhaus Wien an, genauer an der geburtshilflichen Abteilung, an der Semmelweis nach seinem Studium zu arbeiten begann. Gerald Walsberger verkörpert den aus Ungarn stammenden Arzt, der Abertausende Frauen schon in seiner Generation retten hätte können. Hätte – wäre seine Entdeckung, die Übertragung von Viren auf die Gebärenden durch die Hände der Ärzte, von der Kollegenschaft ernst genommen worden.
Kajetan Dick gib seinen ersten – aber bei Weitem nicht einzigen Widersacher – Prof. Klein, der seinem jungen Assistenzarzt bezüglich seiner Hygiene-Erkenntnisse kein Wort glauben will. Die beiden Charaktere könnten besser nicht besetzt sein. Das unglaubliche Komödiantentum von Dick, das einen Höhepunkt in einem Dauerlauf rund um die Bühne erfährt, während er dabei beständig jubiliert, dass er nun auf den Semmering auf Urlaub fahre, reibt sich wunderbar an der Zwanghaftigkeit, mit welcher Walsberger den unaufhörlichen Wissensdrang von Semmelweis verdeutlicht.
Es sind psychologisch gut nachvollziehbare Momente, wie jener, in dem Semmelweis sich sein Hirn zermartert, als er über die Entstehung des Kindbettfiebers nachdenkt, die das Stück so lebhaft machen. „Denk nach Semmelweis, denk nach!“ – wiederholt Walsberger immer wieder, schon fast manisch, und schlägt sich dabei auf seinen Kopf. Wer hat nicht schon die Lösung eines Problems aus seinem eigenen Gehirn herauspressen wollen? Immer wieder werden aber auch Szenen voller Spannung bis hin zum Horror so mit Humor gewürzt, dass sie verdaulich bleiben. Wenn Dick als Anatomielehrer von einem Studenten mehrfach mit dessen verunreinigtem Skalpell geschnitten wird, bleibt einem jedes Mal kurz die Luft weg, weil man das tragische Ende vorausahnt.
Leonie Wahl, Yvonne Brandstetter und Sophie Resch spielen berauschend intensiv zum einen Studienkollegen von Semmelweis von der Med. Uni Wien, zum anderen verkörpern sie Gebärende, aber auch Krankenhauspersonal. Die Szenerie wechselt dabei meist nur lichttechnisch. Aus den anfänglichen Seziertischen werden später Krankenbetten, die auch für eine sehr außergewöhnliche Choreografie Verwendung finden. Dafür verbleibt das Ensemble auf den Tischen und bewegt sich ausschließlich auf ihnen. B.fleischmann steuert live den Soundtrack bei, der, begonnen vom Brahms´schen Gute-Nachtlied, bei dem einem Böses schwant, bis hin zu jazzigen Klängen ein riesiges musikalisches Spektrum aufweist. Pia Stross ist ein Kostümsetting gelungen, das trotz oder vielleicht gerade wegen seiner Trashigkeit beeindruckt. Dass man Charaktere mit kleinen Frisurenattributen kennzeichnen kann, ist ein fulminanter Einfall!
Obwohl höchst artifiziell dargestellt, wird die Tragik der Frauen, die am Kindbettfieber starben, so intensiv nachspürbar, dass es einem die Kehle zuschnürt. Es ist nicht nur diese kreative Glanzleistung, sondern darüber hinaus auch der Umstand, dass es Weigel tatsächlich gelungen ist, ein Stück über einen Mann als feministische Glanznummer hinzustellen, der fasziniert. Er zeigt sowohl die Abhängigkeit der Gebärenden von den sie betreuenden Ärzten, zugleich aber auch die Stärke der Frauen und ihren unbändigen Lebenswillen. Er macht klar, wer zu Semmelweis‘ Zeiten – und wie wir wissen, nicht nur damals – die Hauptlast der familiären Aufgaben zu tragen hatte. Antipodisch setzt er die Götter in Weiß dagegen, die zwar tagtäglich mit dem Leid der Frauen konfrontiert sind, sich aber emotional davon völlig unbeeindruckt zeigen. Spürbar wird aber auch jenes Dilemma, in dem sich Semmelweis befindet, nachdem er entdeckt hat, dass er selbst und seine Kollegen bei vielen Gebärenden an deren Tod beteiligt war. Erkenntnis, gekoppelt mit Grauen und einer vermeintlichen Ausweglosigkeit wird im Folgenden zu einem schlüssigen Movens, das Walsberger eine breite Palette an Gefühlsmomenten an die Hand gibt, um Semmelweis in seiner ausweglosen Verzweiflung darzustellen. Zugleich liefert der Umstand aber auch die psychologische Begründung, alles in seinem Leben der Vermittlung seiner Erkenntnis unterzuordnen. Allen voran das eigene, persönliche Wohlergehen.
Die Lebensgeschichte von Semmelweis wird in dieser Inszenierung bis zu ihrem bitteren Ende durchexerziert. Einem gewaltsamen Ende, von dem man nicht genau weiß, wie es dazu kam. „Geschichte wird lebendig“, dieses Eingangsstatement bleibt in dieser Aufführung Programm. Dass Weigel mit diesem Stück einen Zeitgeist getroffen hat, der sich angesichts der Pandemie tatsächlich auf breiter Front wieder mit dem großen Fragenkomplex von naturwissenschaftlichem Wissen und Nichtwissen beschäftigt, mag eine Seite des Erfolges sein. Bislang waren alle Aufführungen ausverkauft. Die Art und Weise der theatralischen Umsetzung ist der weitere Erfolgspfeiler. Intensives Theaterspiel, ganz nah am Publikum, unerwartete Handlungsvolten, spritzig-witzige Dialoge und meisterhaft aufgebaute, hoch emotionale Augenblicke – all das sind weitere Zutaten zu diesem geglückten Theaterabend.
Es ist zu hoffen, dass DER.SEMMELWEIS.REFLEX nach seinem ersten Spieldurchgang eine Wiederaufnahme erfährt und noch wesentlich mehr Personen mit dem Theater-Virus der Subvariante bernhard.ensemble infiziert.