„Balkan Requiem“, inszeniert von Stevan Bodroza im Hundsturm in Wien. Ein unbequemer aber notwendiger Theaterabend.
Krieg tötet und deformiert Menschen. Körperlich, aber auch seelisch. Krieg zerstört einzelne Leben, Familien und ganze Gesellschaften. Und das auf Generationen hinaus. Wer in Österreich so tut, als ginge ihn der Balkankrieg heute nichts mehr an, trägt geistige Scheuklappen. Viele der ehemaligen Opfer und Täter leben in unserem Land. Nach außen integriert, aber in ihrem Inneren in einer anderen Welt.
Stevan Bodroza, unbequemer Regisseur aus Serbien, zeigt derzeit im Hundsturm sein „Balkan Requiem“. „Diese Aufführung ist eine Messe für die Toten. Weil die Lebenden nicht mehr existieren. Es existieren nur die Toten und Überlebenden. Und auch die Lebenden sind unwiderruflich von einer unmittelbaren Erfahrung mit dem Tod gekennzeichnet“ schreibt die junge Dramaturgin Asja Krsmanovi über dieses Stück. Ein Theaterabend, den viele Menschen bewusst meiden, weil sie mit Leid, Krieg und Tod tagtäglich via Bildschirm konfrontiert werden und sich nicht zusätzlich „belasten“ wollen. Eine Einstellung, die zwar verständlich, aber kurzsichtig ist.
Johann Sebastian Bach verliert gegen den Krieg
Im Foyer erklingt wenige Minuten vor Einlass der erste Satz aus den Goldbergvariationen von Johann Sebastian Bach. Ruhiger Klavierwohlklang, geordnet, nach einem, streng den Regeln folgenden, kompositorischen Muster. Die Musik verstummt erst, nachdem das Publikum auf seinen Plätzen sitzt und sich in das Bühnenbild eingefühlt hat. Eine steile, schiefe Ebene, in deren Mitte ein roher Holztisch platziert ist, erstickt jede Illusion von Freiheit. Davor ein schmaler, waagrechter Streifen, auf dem mehrere Emailkübel stehen. Beengend, ja beängstigend wirkt der Raum – die Schieflage evoziert sofort das Gefühl von Haltlosigkeit. Ein junger, sympathischer Mann (Jan Hutter) betritt den Raum. Er erzählt im Plauderton dies und das und plötzlich auch über den Tod seines Vaters. Darüber, wie er ihm die Schlagzeilen vorliest, an seinem Grab. Aktuelle Schlagzeilen, wie jene vom Flugzeugabschuss in der Ukraine. Allmählich, beinahe unmerklich, verändert sich die Stimmung. Der parlierende Ton wird ängstlicher, der junge Mann mutiert plötzlich zu jenem Kind, das im Krieg von Feinden erniedrigt und geschlagen wurde. Und er beginnt, sich bei der Erzählung über seine Schläge mit feuchtem Lehm aus einem der Kübel einzuschmieren. Seine Arme, seinen Bauch, sein Gesicht. Bis er über und über mit der grauen, zähen Masse bedeckt ist. Als er schließlich gebrochen am Boden liegen bleibt und es klar wird, dass er gerade seinen eigenen Tod erlebt, wird einem bewusst, dass dieser Mann kein Lebender mehr ist. Kein Lebender war, als er die Bühne betrat. „Kino-Auge“ heißt der Text von Almir Imsirevic, welcher dieser Dramatisierung zugrunde liegt. Und er erfasst die Menschen im Publikum zutiefst. Sie müssen schließlich mitansehen, wie der tote Körper von einem Mann von der Bühne geschleift wird. Emotionslos, so, als ob man ihn einfach „entsorgen“ müsste. Die Goldbergvariationen sind längst verklungen. Der Wohlklang, die geordnete musikalische Struktur, der klangliche Humanismus nicht einmal mehr als Erinnerung vorhanden.
Der Kampf um die Liebe in Zeiten der Trauer
Parallel zu dem grausigen Geschehen betreten zwei Frauen die Bühne. Schwarze Kleider, schwarze, Strümpfe, schwarze Schuhe. Die Trauer ist optisch nicht zu übersehen. Wortlos beginnen sie am Tisch zu hantieren. Schneiden mit großen Messern imaginäres Gemüse und Fleisch und beginnen mit einem Dialog, der schärfer in die Seelen schneidet, als es jedes noch so gut geschliffene Messer könnte. Zoja (Sylvia Haider) und ihre Schwiegertochter Skurta (Ana Stefanovic-Bilic) bereiten ein Festmahl zu. Anlässlich des 10jährigen Gedenktages des Verschwindens ihrer beider Männer. Ein Festmahl, von der Hoffnung getragen, dass diese zurückkommen aus dem Ungewissen, aus dem Vermisst-Sein, aus der Abwesenheit, die so schwer über ihnen beiden lastet. Eine Absenz, welche die Frauen auf ihre eigene Existenz zurückwirft, mit der beide nicht wirklich leben, aber auch nicht sterben können. Der Regisseur zeigt mit starken Bildern und unter die Haut gehenden auditiven Eingriffen auf, wie sehr sie vom Leben geschlagen sind. Immer wieder rutschen sie von einer Sekunde auf die andere auf der Schräge aus, fallen beinahe ins Bodenlose, können sich nirgends festhalten. Immer wieder rammen sie sich verbale Messer in ihre wunden Herzen und kämpfen um die Liebe eines wahrscheinlich längst Umgekommenen. Bis zu jenem Punkt, an dem die junge Witwe Skurta in einen Traum ausbricht. Ein Haus in der Stadt, inmitten von Verkehrslärm, ein Appartement mit einem Sofa mit ganz, ganz vielen Kissen – das ist ihr Traum. Ein Geborgensein in einer Traumwelt, in der das monotone und zerstörerische Landleben nicht einmal mehr nachhallt. Ein Schöngeist wie sie gehört nicht in eine rurale Umgebung, ist nicht geschaffen, mit ihren Händen zu arbeiten. Ihre Realität sieht aber anders aus und holt sie wieder ein. Und auch Zoja löst sich aus ihrem täglich gelebten Fegefeuer. In ihrem Traum gestattet sie sich, über ihr Leben zu erzählen. Über die patriarchalische Struktur in ihrem Heimatdorf, über das Martyrium ihrer Ehe. Über die Liebe zu ihren Kindern und deren Verlust. Das, was die Autorin Doruntina Basha in ihrem Ausgangstext „Der Finger“ hier schrieb, schnürt jedem humanistisch gebildeten Menschen die Kehle zu. Denn was Zoja hier erzählt, ist keine Vergangenheit, sondern in vielen Ländern heute noch brutale Gegenwart. In ländlichen Gebieten Ex-Jugoslawiens genauso wie in anderen östlichen Staaten, in muslimischen Ländern oder anderen Kontinenten, in welchen Emanzipation nichts als ein unverständliches Fremdwort ist. Bodroza legt hier den Finger tief, ganz tief in diese feministische Wunde und zeigt stellvertretend für das Schicksal von Millionen von Frauen zwei gebrochene Seelen ohne Aussicht auf eine glücklichere Zukunft.
„L´après-midi d´une faune“ als Metapher des Tierischen im Menschen
Ein letztes Mal verändert sich die Szenerie. Eine Familie, Vater (Jens Ole Schmieder), Mutter, Sohn und dessen Freundin, machen es sich mit Handtüchern bequem. Im Hintergrund leuchtet blau das Meer. Sonnenbrillen, Badeanzüge und eine Picknicktasche bringen Urlaubsflair und ein vermeintliches Idyll auf die Bühne. Wäre da nicht das Mikrofon, in das der Vater seine Monologe spricht. Ganz unbeeindruckt von dem, was seine Familie gerade tut. Sie hören ihn nicht bei ihren Relax-Übungen, sie nehmen ihn nur dann wahr, wenn er emotional so ausbricht, dass es körperlich wahrnehmbar wird. Sie bemerken seinen beängstigenden Seelenzustand nur, wenn er unter den Berührungen seiner Frau beim Eincremen mit dem Sonnenschutzmittel zusammenzuckt oder einen Schreianfall bekommt. Rasch wird klar, was ihn permanent peinigt. Seine Schuld, im Krieg gemordet zu haben, lässt ihn nicht mehr zur Ruhe kommen. Die Perversität des Alltags, in dem er nun Seite an Seite mit und für jene arbeitet, die er im Krieg bekämpfte, spalten sein Ich. „L´après-midi d´une faune“ von Claude Debussy unterstreicht subtil jenen Gedanken, dass es sich hier um einen Menschen handelt, der längst kein Mensch mehr ist. Ein Zwitterwesen, zu nah am Tierischen und zu tief im Tierhaften gelebt, als dass das Menschsein je wieder die Oberhand über seine Seele gewinnen könnte. Seine Angst, seine Aggressionen, seine Unangepasstheit zerstören nicht nur ihn, sondern auch seine Familie sukzessive. Eine Familie, die zwar um seine Schuld weiß, sie aber ganz bewusst verdrängt. Ihre lehmverschmierten Hände am Ende des Abends machen deutlich, wie sehr auch sie mit den Kriegsverbrechen beladen sind. Und sei es auch nur durch ihre Unfähigkeit, eine Aufarbeitung der Kriegsgreuel zuzulassen. „Die Gesichter“ von Almir Basovic, bildeten die Grundlage zu dieser Szenerie, die Bodroza so brillant wie beklemmend in Szene setzte.
Das Ensemble spielt homogen auf allerhöchstem Niveau und vergibt keine einzige Chance der Identifikation des Publikums mit den Figuren. Ein Meisterstück, sowohl was die schauspielerische Leistung als auch jene des Regisseurs anlangt. Abstrakt im Umgang mit den Requisiten, aber hyper-realistisch in der Analyse des Menschlichen zeigt er ein wahres Lehrbeispiel von packender, aktueller Regiearbeit.
„Balkan Requiem“ ist ein Theaterabend, den viele Menschen bewusst meiden, weil sie mit Leid, Krieg und Tod tagtäglich via Bildschirm konfrontiert werden und sich nicht zusätzlich „belasten“ wollen. Eine Einstellung, die zwar verständlich, aber kurzsichtig ist. Eine Einstellung, die auch ihre Hände letztlich mit Lehm beschmiert, auch wenn dieser für sie unsichtbar bleibt. Davon ausgenommen ist auch nicht jenes Feuilleton, welches diese Theaterarbeit bisher mit keiner Zeile würdigte. Fernbleiben und Wegschauen bildet einen stinkenden Bodensatz für das psychische Leider der kommenden Generationen – nicht nur am Balkan, sondern auch hier in Österreich.
Sehenswert, berührend, aufrüttelnd, packend und ein Muss für jeden denkenden Europäer und jede Europäerin. Und darüber hinaus für jene, denen der gedankliche Transfer zu allen Kriegsschauplätzen gelingt, unter denen unsere Erde leidet.