Hamlet ist unschuldig

Hamlet ist unschuldig

Die Wiener Festwochen brachten mit dem Gerichtsstück „Please, continue (Hamlet)“ im Odeon ein gar nicht mehr so neues Format zur Aufführung. Wer ein Gerichtstheaterstück erwartete, wie man es aus dem Nachmittagsprogramm deutscher Fernsehsender kennt, wurde nicht enttäuscht. Der einzige Unterschied zum Fernsehformat lag in der Dauer der Aufführung, die mit 3 Stunden die Fernsehprozesse bei Weitem übertraf. Hingegen mussten all jene, die eine theatralische Hamletinszenierung erhofften, ihre Erwartungshaltung sehr schnell korrigieren. Ganz wie bei den Fernsehsendungen waren alle Beteiligten auch Personen, welche die Berufe, die sie auf der Bühne verkörperten, tatsächlich auch im realen Leben ausüben. Nur der Beschuldigte selbst, Hamlet, sowie Ophelia, seine immer noch verehrte Ex-Freundin und Gertrude, die Mutter Hamlets, wurden von Schauspielern und Schauspielerinnen dargestellt. Das Konzept verlangt, dass nicht nur die Geschworenen, die aus dem Publikum rekrutiert werden, sondern auch alle anderen Prozessbeteiligten – bis auf die drei genannten Schauspielrollen – täglich neu besetzt werden.

Please Continue (Hamlet) Premiere 7. Juni 2014, Foto: Nurith Wagner Strauss

Please, Continue (Hamlet) Premiere 7. Juni 2014, Foto: Nurith Wagner Strauss

Der Staatsanwalt, Mag. Matthias Purkhart, legte Hamlet den Mord an Polonius zur Last und ermöglichte damit den Mordprozess. Bei den Hochzeitsfeierlichkeiten von Hamlets Mutter, die nur zwei Monate nach dem Tod seines Vaters, dessen Bruder ehelichte, soll Hamlet den in einem Billyregal, welches durch einen Vorhang verhängt war, versteckten Polonius, mit einem gezielten Stich ins Herz getötet haben. In der Verhandlung behaupteten sowohl Hamlet als auch seine Mutter – von Susi Stach herausragend dargestellt – dass dies ein Unfall gewesen sei. Hamlet hätte gedacht, hinter dem Vorhang befände sich eine Ratte, die er mit einem gezielten Stich töten wollte. Die Idee zum Theaterstück hatten Yan Duyvendalk und Roger Bernat, als sie die Protokolle der Guantanamo-Häftlinge lasen. Ihnen erschien es als „obszön“, so Yan Duyvendalk beim Publikumsgespräch, das Geschen 1:1 auf die Bühne zu bringen. Auch der Fall eines jungen Mannes aus Marseille war zwar eine gute Vorlage, allerdings wollten sie den Prozessverlauf nicht wahrheitsgetreu auf der Bühne umsetzen. Ihr Ziel war es vielmehr, aufzuzeigen, dass die Rechtsprechung in einen bestimmten Rechtsrahmen eingebunden, aber vor allem auch höchst subjektiv ist und damit keine exakte Wissenschaft darstellt. Diese Idee ist das eigentlich Spannende an diesem Projekt und hätte sicherlich das Potenzial, eine Diskussion über die unterschiedlichen Rechtssysteme, deren Ideen und Implikationen, hervorzurufen. Mehr als deutlich wurde das auch beim anschließenden Publikumsgespräch. Denn der Richter dieses Abends, Mag. Friedrich Forsthuber, Präsident des Landesgerichts für Strafsachen in Wien, sprach seine Bedenken gegenüber einem Geschworenengericht sehr deutlich aus.

Hamlet wurde an diesem Abend, dem zweiten Aufführungstag, freigesprochen, am Abend vorher war er wegen fahrlässiger Tötung zu einer bedingten Haftstraße von 10 Monaten verurteilt worden. An diesen beiden sehr unterschiedlichen Urteilen ist schon erkennbar, wie subjektiv diese vor allem von Geschworenen getroffen werden. Vieles hängt von der Strategie der Staatsanwaltschaft und der Verteidigung ab. Thiemo Strutzenberger, der Hamlet in der von ihm gewohnten erstklassigen schauspielerischen Leistung darstellte, machte im Publikumsgespräch auch deutlich, dass sein Auftreten als Angeklagter natürlich auch Einfluss auf die Geschworenen nimmt. Wenn er seine Geschichte der Ratten überzeugend präsentiere und keinen Zweifel aufkommen lasse, dass diese Geschichte wahr sein könne, dann sei alleine das schon eine gute Voraussetzung für einen Freispruch. Diese unterschiedlichen – letztlich psychologischen Faktoren – wären für das Publikum noch viel deutlicher erkennbar, wenn es mehrere Vorstellungen sehen könnte. Erst dann könnte man selbst erleben, wie sich die eigene Meinung und Sichtweise und die aller Prozessbeteiligten je nach Zusammensetzung verändern kann. Wenn man nicht ein ausgesprochen leidenschaftlicher Prozessbeobachtertyp ist, kann an diesem Abend leicht Langeweile aufkommen. Wohnt man doch einer eher faden Gerichtsverhandlung bei, die ihren vorgeschriebenen Gang geht. Man lauscht den Plädoyers der Staatsanwaltschaft und der Verteidigung, man folgt den Befragungen von Zeugen und Zeuginnen und man erlebt die Präsentation von Sachverständigengutachen.

Das eigentlich Spannende des Abends war überraschenderweise das Publikumsgespräch. Zwar waren es aufgrund des vorgegebenen kurzen Zeitfensters von 30 Minuten nur wenige Fragen, die gestellt und beantwortet werden konnten, aber es wurde dabei auch der Standpunkt des Richters von ihm persönlich noch kundgetan. Dieser machte klar, dass er persönlich einen Schuldspruch gefällt hätte, da er die Schuld Hamlets für erwiesen ansah. Die genaue Erläuterung, woran er erkannt hatte, dass der Angeklagte tatsächlich Polonius töten wollte, blieb aber leider aus.

Die konstruierte Rattengeschichte überzeugte zwar wenig, aber auch die Argumentation des Staatsanwaltes, der kein Motiv für den Mord vorweisen konnte, blieb bis zum Schluss dürftig. Warum hätte Hamlet Polonius töten sollen, den Vater seiner immer noch geliebten Ex-Freundin, den er zwar für dumm, aber immerhin für nett hielt? Dieses fehlende Motiv nutzte die Rechtsanwältin Mag.a Kathrin Ehrbar in ihrem Plädoyer, um den Freispruch ihres Mandanten zu erreichen. Sie riskierte viel, gewann mit dieser Strategie jedoch alles. Interessant dabei war, dass die Anwältin im Publikumsgespräch bekannte, dass sie sich die Forderung nach einem Freispruch in einem realen Prozess sehr gut überlegt hätte. Wenn sich, wie es aber an diesem Abend der Fall war, ein Staatsanwalt nicht einmal die Mühe macht, ein Motiv zu konstruieren, dann muss er damit rechnen, dass dies eine Rechtsanwältin, gerade in einem Geschworenenprozess, als Steilvorlage empfinden muss. An diesem Punkt wird deutlich, wie sehr hier auch das Bewusstsein „nur Theater zu spielen“ die Entscheidungen der Akteurinnen und Akteure mitbestimmte.

Erschreckend ist, dass jedoch allzu oft auch bei realen Strafprozessen das Wahrscheinliche als das Wahre und das Unwahrscheinliche als das Falsche angenommen wird. Weil eine Argumentation so schön logisch klingt, muss sie auch logisch sein, vor allem dann, wenn sich darin die Meinung oder Auffassung der jeweiligen Entscheidungsträger widerspiegelt. Der Rechtsgrundsatz „in dubio pro reo“ wird zu oft leichtfertig übergangen, weil das Logische und Erwartbare keine Zweifel kennt. Die Bevölkerung überfordert die Justiz allerdings auch häufig, indem sie Gerechtigkeit erwartet, wo es doch nur um die Rechtsprechung geht.

Spannend wäre es gewesen, wie die Beteiligten reagiert hätten, wenn das Gesetz, auf dessen Grundlage sie jemanden verurteilen sollen, ein Gesetz gewesen wäre, das mit den Grundsätzen der Menschenrechte oder der demokratischen Grundordnung nicht mehr vereinbar ist. Nehmen wir zum Beispiel die Nürnberger Rassengesetze oder in jüngster Zeit die Gesetze zur Behandlung Homosexueller in Russland. Wäre eine Verurteilung von Pussy Riot unter Anwendung dieser Gesetzte in Österreich möglich gewesen? Ein solcher Fall hätte sicher mehr emotionalisiert. Aber tatsächlich muss man keine anderen Rechtssysteme und Gesetze bemühen, um Gerichtsverhandlungen zu finden, die auf manipulierten und nicht hinreichend objektiv geprüften Fakten basierten. Wie konnte ein Tierschützerprozess, wie jener in Wiener Neustadt, überhaupt geführt werden und warum ist es trotzdem ein gutes Zeichen für einen Rechtsstaat, dass die Ersturteile infrage gestellt werden konnten und wurden und dieser Prozess neu geführt werden musste? Das sind Fragen, die ein solches Theater weitaus mehr gerechtfertigt und auch eine Bereicherung für das Publikum dargestellt hätten als die an den Haaren herbeigezogene Hamletneuinterpretation. So blieb die grundsätzlich interessante Idee in der Ausführung weit hinter den darin enthaltenen Potenzialen zurück.

Sicher, wie schon eingangs erwähnt, kamen all jene auf ihre Kosten, die von Gerichtssendungsformaten im Fernsehen unterhalten werden. An diesem Abend wurde ihnen eine solche sogar live in Theaterform präsentiert. Wer jedoch eine kritische Auseinandersetzung mit dem Rechtsstaat erwartet hatte, der musste sehr viel Denkarbeit und Vorwissen mitbringen, damit es überhaupt möglich wurde, die fragile Struktur eines Rechtssystems und dessen Gefahren zu erkennen. Eines wurde auf alle Fälle allen klar: Dass bei Geschworenenprozessen die alte Weisheit „vor dem Richter und auf hoher See sind wir allein in Gottes Hand“, auch heute noch zutrifft. Deswegen ist das Ressentiment, dass der Richter gegenüber Geschworenenverfahren äußerte, sehr gut nachvollziehbar. Wie lange wird es dauern, bis diese Art der Rechtsprechung abgeschafft wird? Denn gerade bei einem Geschworenenprozess besteht immer die Gefahr, dass das sogenannte „gesunde Rechtsempfinden“, das nicht mit dem rechtlichen Rahmen identisch sein muss, das Urteil letztlich sehr stark beeinflusst. Als Beobachter kann man jedoch hinzufügen, dass Berufsrichterinnen und Berufsrichter im Gegensatz dazu gelernt haben sollen, ihren Emotionen nicht zu folgen, sondern die Anforderungen des Gesetzgebers und der Strafprozessordnung strikt einzuhalten. Dass auch Richterinnen und Richter nur Menschen sind, und schon deshalb die Urteile immer auch eine subjektive, persönliche Note enthalten, lässt sich leider mit keiner bekannten Methode ausschließen. Umso mehr sollte ihnen jedoch ihre Verantwortung bei jedem richterlichen Spruch bewusst sein und ihr Bemühen um Objektivität an vorderster Stelle stehen.

Das große Manko des Abends ist, dass, wie bereits erwähnt, das Publikum nur einer Gerichtsverhandlung beiwohnen kann. Das Verlesen der zuvor gesprochenen Urteile kann die persönlichen Eindrücke nicht ersetzen, die nur aus der direkten Verfolgung eines Prozesses gewonnen werden. An dieser Stelle wären jene Mittel gefragt, die gutes Theater für gewöhnlich bereithält: Eine intelligente Regie, mit der es möglich wird, die unterschiedlichen subjektiven Entscheidungen mehrerer Prozessverläufe an einem Abend auf der Bühne sichtbar zu machen.

Staatszersetzung durch Volksmusik

Staatszersetzung durch Volksmusik

Im den ehemaligen Hofstallungen, die heute Teil des Museumsquartiers sind, befindet sich die Halle G in welcher der ungarische Regisseur und Schauspieler Béla Pintér mit seiner Truppe sein neuestes Stück „Titkaink“ („Unsere Geheimnisse“) anlässlich der Wiener Festwochen zeigte. Darin verweist er einerseits auf die kommunistische Herrschaft im Ungarn der 1980er Jahre, die Methoden des Geheimdienstes und den unbedingten Willen zu Macht- und Systemerhalt. Gleichwohl gelangt er auch ins heutige Ungarn, einem Land, das nicht wie die ehemalige DDR die Stasiakten zur öffentlichen Einsicht freigab. Vielmehr hatte in Ungarn weder die Linke noch die nun regierende Rechte ein Interesse daran, Unterlagen des ehemaligen Geheimdienstes zu öffnen. Wie schon bei anderen Pintér-Stücken spielt die Volksmusik eine subversiv-tragende Rolle und wird in Titkaink reichlich eingesetzt

István Balla Bán (Zoltán Friedenthal) mit seiner Stieftochter Timike (Èva Enyedi) im Stück von Béla Pintér bei den Festochen Wien (Foto: Zsolt Puskel)

István Balla Bán (Zoltán Friedenthal) mit seiner Stieftochter Timike (Èva Enyedi) im Stück von Béla Pintér bei den Festochen Wien (Foto: Zsolt Puskel)

Zoltán Friedenthal spielt dabei die tragische Rolle des Volksmusikforschers István Balla Bán, der sich zu Kindern hingezogen fühlt und seit einem Jahr nur noch Erregung empfinden kann, wenn seine 7-jährige Stieftochter Timike (Èva Enyedi) ihm körperlich näher kommt. Es gelingt Béla Pintér vor allem in der Szene in der Balla Bán der Psychiaterin Dr. Elvira Szádeczky – einfühlsam von Eszter Csákányi gespielt – seine Neigung offenbart, den inneren Kampf mit dieser sexuellen Vorliebe feinfühlig darzustellen. Ein verhängnisvolles Gespräch, wie sich zeigen soll. Das Sprechzimmer der Psychiaterin war nämlich verwanzt und so wird das Gesagte als Druckmittel genutzt, um ihn zur Kooperation mit dem Geheimdienst zu „motivieren“. Als Mitglied der „Tanzhausbewegung“, die im kommunistischen Ungarn boomte, und als einer der Treffpunkte für Oppositionelle galt, war sein Wissen und seine Informationen für den Geheimdienst äußerst hilfreich. Durch seinen Bericht wird sein Mitstreiter, leitender Redakteur einer Untergrundzeitung mit dem Titel: „Eiserner Vorhang“, Imre Tatár – von Belá Pintér selbst dargestellt – verhaftet. Das schlichte Bühnenbild mit einem riesigen Tonbandgerät und einfachen Hockern gestaltet, macht auf der einen Seite den Bezug zur Musik deutlich, verweist aber auch auf die ehemalige und heutige Praxis der Überwachung und Aufzeichnung von Gesprächen. Technik ist selten nur positiv oder nur negativ, es kommt auf den Nutzer und dessen Intentionen an.

Die Diskussionen über Big Data, Funkmastabfragen, NSA, Telefonüberwachung und Überwachung der digitalen Kommunikation zeigen, wie hochaktuell das Stück ist und darin liegt letztlich auch die Stärke dieses Theaterabends. Er stellt Fragen und zeigt Mechanismen auf, die eben nicht nur in Diktaturen Anwendung finden. Der Epilog über eine Preisverleihung im heutigen Ungarn zeigt, dass die Denunzianten und Systemeuphoristen der kommunistischen Ära auch im heutigen Ungarn ihren Platz gefunden haben. Dies ist ein Phänomen, dass nicht nur im Ungarn des Viktor Orban zu beobachten ist. Man erinnere sich nur an den Justizapparat in Deutschland und in Österreich nach der Naziherrschaft, in dem ehemalige Nazis unbehelligt weiter ihr Amt ausübten.

Der wohl klügste Schachzug von Belá Pintér liegt darin, die spannungsentladene Wirkung des Humors gnadenlos auszunutzen. Denn der aufwühlende und zum Teil auch frustrierende Inhalt wird mit einer gehörigen Portion Humor verdaulich gemacht. Ob es die Szene mit dem stark überzeichneten Kellner ist, oder das Gespräch mit der Psychiaterin, es darf und muss gelacht werden. Dies macht den Abend erträglich, ohne zu verharmlosen oder gar einzulullen. Der Kindermissbrauch wird als Metapher für die Erpressbarkeit des Menschen gezeigt. Dabei wird mehr als deutlich, dass jeder von uns seine dunkle Seite hat, die von den Mächtigen und Mitmenschen im Zweifelsfall gnadenlos ausgenutzt wird und es schon deshalb das Recht auf Privatsphäre geben muss und dieses mit allen Mitteln verteidigt gehört.

Ein vielschichtiger Abend voll mit tiefschwarzem Humor, der eine große Anzahl von Ungarinnen und Ungarn anlockte. Ein Zeichen, wie attraktiv das im Off-Bereich tätige Theater von Pintér tatsächlich ist.

Die heilige Kuh „Konsum“ wird nicht geschlachtet

Die heilige Kuh „Konsum“ wird nicht geschlachtet

Der gefühlte 20. EU-Gipfel zur Eurorettung ist vorüber und erneut ist das Ergebnis eher ein Zeichen von operativer Hektik, die ja bekanntlich ein Zeichen geistiger Windstille darstellt, als ein strategischer Befreiungsschlag für den Euro und die Eurozone. Die Briten haben sich ins Abseits gestellt und Angela Merkel und Nicolas Sarkozy feiern die Ergebnisse, als handle es sich um ein Jahrhundertereignis. Die Kommentatoren sind sich einig, dass die Beschlüsse die kurzfristigen Probleme nicht lösen werden und die langfristige Wirkung sich erst im Rückblick beurteilen lassen wird. Niemand wagt die heilige Kühe Wachstum und Konsum zu benennen, geschweige denn zu schlachten. Aber grenzenloses Wachstum ist in einem lebenden System nicht machbar. Wer sich weigert das Wachstumsparadigma zu diskutieren und zu hinterfragen, wird dauerhaft keine Lösung der Wirtschafts- und Finanzkrise finden. Natürlich ist jetzt zu allererst Notfallmedizin angesagt, nur muss der Patient Europa und dessen Einwohner über einen gesünderen und vernünftigeren Lebenswandel nachdenken, wenn er nicht permanent auf der Intensivstation landen will.

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Hauptsache wir kaufen (c) Wilhelmine Wulff/pixelio.de

Das Leistungsversprechen gilt schon lange nicht mehr

Der globale Finanzkapitalismus zeigt die Fratze des Unbeherrschbaren und des zügellosen Egoismus und ist damit zu einer Krise der bürgerlichen Identität geworden. Die 80er und 90er Jahre des letzten Jahrhunderts waren geprägt von einem historischen Missverständnis und damit von einer Fehleinschätzung der gesellschaftlichen Folgen der nahezu unreglementierten Finanzmärkte. Das bürgerliche Versprechen, dass Leistung sich lohne, hat sich längst ad absurdum geführt. Wir verwechseln finanziellen Erfolg viel zu oft mit diesem bürgerlichen Paradigma, das die Gesellschaft über nahezu 200 Jahre prägte und sich mit der protestantischen Arbeitsethik im Sinne von Max Weber zu einem fast religiösen Heilsversprechen mauserte. Allerdings ist die individuelle Leistung eines Börsengewinns und von Finanztransaktionen nicht mehr mit dem althergebrachten Leistungsbegriff kompatibel. Es zählt nicht mehr die Leistung, die an Arbeitsstunden erbracht wurde, nicht mehr die Leistung, die an Wissen oder in Form von Produktionsgütern in eine Gesellschaft eingebracht wird, sondern nur mehr jene Leistung, bei der sich Geld durch Geld vermehrt.

Es ist der Finanzelite gelungen, das Wortfeld Leistung mit all seinen Ver- und Entsprechungen, mit materiellem Erfolg gleichzusetzen. Damit wurde der Begriff Leistung, ähnlich wie Tschernobyl und Fukushima, auf unabsehbare Zeit kontaminiert und in Misskredit gebracht. Die Politikerinnen und Politiker waren willfährige Vollstreckungsgehilfen dieses Paradigmenwechsels im bürgerlichen Denken. Das Versprechen des sozialen Aufstieges durch die individuelle Leistungsbereitschaft hat sich in realita jedoch verabschiedet und ist einem ausschließlichen Diktat des wirtschaftlichen Erfolges gewichen. Die dunkelsten Ahnungen, die uns erfassten, als Michael Douglas den skrupellosen Börsenmakler Gordon Gecko in Wall Street verkörperte, wurden extrem übertroffen und übersteigen unsere kühnsten und apokalyptischsten Vorstellungen bei Weitem. Diese Entwicklung führte nicht nur, wie wir jetzt sehen, zu einer wirtschaftlich unkalkulierbaren Größe, sondern gefährdet den Zusammenhalt der Gesellschaft nachhaltig und droht sogar die Demokratie zu gefährden.

Immer mehr Menschen haben das Gefühl, dass die Finanzmärkte die Politik bestimmen und schon aus diesem Grund den Glauben in die staatlichen Organisationen und ihre Vertreterinnen und Vertreter verloren. Die immense Jungendarbeitslosigkeit in Europa hält eine ganze Generation vom gesellschaftlichen und sozialen Aufstieg ab. 40% Jungendarbeitslosigkeit in manchen Ländern Europas führen zu einer emotionalen Gemengelage, die sich im Zweifelsfall gewalttätig Luft macht. Die friedlichen Proteste der spanischen Jugend können hier als Vorstufe gesehen werden. Die Auseinandersetzungen und Straßenschlachten in Griechenland sind bereits die nächste Eskalationsstufe. Sollte die Politik dauerhaft keine Antworten auf die Fragen der Jugendlichen finden, die auch in deren Alltag sichtbar werden, dann wird die Frustration auch in Spanien einen Anlass zur Gewalt finden und wir werden auch darüber hinaus in Europa wieder mit Jugendrevolten konfrontiert sein. Die politischen Ansätze zur Bewältigung der gesellschaftlichen Probleme wirken bis jetzt aber nicht gerade souverän und überzeugend. Die Lösung eines komplexen Problems ist in der Regel durch einfache Rezepte nicht möglich, obwohl wir uns doch alle danach sehnen und darauf hoffen.

Die einfache Erklärung hilft nicht bei der Lösung der globalen Probleme

Wenn es noch eines Beweises für die postmoderne Idee des „Endes der großen Erzählungen“ bedurft hat, dann wird dieser heute im Umgang mit der Finanz- und Währungskrise sicherlich geliefert. Jean-Francois Lyotard hat mit dieser Aussage den Finger in die Wunde aller Welterklärer und -verbesserer gelegt. Denn mit seinem gesellschaftlichen Erklärungsmodell hat er die Unsicherheit zur Regel ernannt und aufgezeigt, dass es keine eindimensionalen Lösungsansätze, die alles abdecken, woran die Gesellschaft krankt, geben kann. Gerade in wirtschaftlich schweren Zeiten und in gesellschaftlichen Krisen wird dies zu einer großen Belastung. Denn im Grunde sehnen wir uns nach wie vor nach großen Politikern wie Konrad Adenauer, Willy Brandt, Helmut Schmidt und als Letzten seiner Art Helmut Kohl, ohne Rücksicht zu nehmen auf den immensen Komplexitätszuwachs und vor allem die immer geringer werdende Bedeutung und Einflussmöglichkeiten der Nationalstaaten und deren Regierungen.

Der extrem zugenommene Informationsfluss und die Entwicklung der Welt zum „globalen Dorf“ führen zusätzlich zu Irritationen und Verunsicherung der Menschen. Mein Urgroßvater und mein Großvater wussten über den Rest der Welt und die Auswirkung ihres Lebenswandels auf das ökologische und soziale Gleichgewicht auf dieser Erde relativ wenig. Wir sind uns jedoch bewusst, dass unser Planet völlig überfordert ist und kollabieren würde, wenn die Bewohner des indischen oder afrikanischen Kontinents je unseren heutigen Lebensstandard erreichen würden. In diesem Zusammenhang sehen wir uns sehr wohl mit der Sinn- und Nutzlosigkeit des Wirtschaftswachstums konfrontiert. Wenn es jedoch darum geht, unseren eigenen Konsum und das Wirtschaftswachstum in Europa bzw. der westlichen Welt zu hinterfragen, sieht es schon wieder ganz anders aus. Immer deutlicher zeichnet sich dennoch ab, dass wir unseren heutigen Lebensstil nicht mehr sehr lange über die Zeit retten werden können. Längst gleicht die westliche Konsumgesellschaft dem angezählten Boxer, von dem jeder weiß, dass er demnächst ausgeknockt werden wird. Uns bleibt aber nicht einmal die Hoffnung auf den „lucky Punch“, der die Spannung eines solchen Kampfes zumindest für das Publikum noch etwas erhält. Karl Marx hat in seinem Werk „Das Kapital“ im dritten Buch schon darauf hingewiesen, dass der Kapitalismus an seinen Finanzspekulationen zugrunde gehen wird. Aus heutiger Sicht können wir seine Analyse teilen, allein sein Rezept des Sozialismus gleicht den „großen Erzählungen“ der Religion und ist schon deshalb zum Scheitern verurteilt, wie die Geschichte ja bereits belegte.

Die Diagnose ist gestellt, die Therapie oft nicht nachvollziehbar

Wir wissen, woran unser System krankt und viele Therapien sind in der Diskussion, ohne dass heute noch jemand für sich in Anspruch nehmen könnte, die Königsidee oder die Lösung schlechthin gefunden zu haben. Politik und die Bekämpfung der verschiedenen Krisen geschehen heute, so hat man zumindest auf große Strecken den Eindruck, vor allem nach der Idee „Versuch und Irrtum“. Politikerinnen und Politiker revidieren ihre Ideen zur effektiven Bekämpfung der Finanzkrise beinahe wöchentlich. Natürlich kann sich keine Politikerin und kein Politiker hinstellen und dies zur Maxime ihres oder seines Handelns erheben, führe dies doch zu noch größerer Verunsicherung, mit der wir Menschen offensichtlich noch schwerer umgehen können, als mit einer jedermann bewussten, aber verdrängten Wahrnehmungsverzerrung. Die bequeme Lüge ist für uns offensichtlich noch immer leichter zu ertragen als die grausame Wahrheit. Wir erwarten – so wie eh und je – den unerschütterlichen Steuermann, der in stürmischen Zeiten um jeden Preis den Kurs hält und uns Anweisungen gibt, wie wir unbeschadet durch die schwere See an das rettende Ufer kommen. Außerdem neigen wir dazu, den Status quo erhalten zu wollen. Viele meiner Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner versichern mir durchaus engagiert und glaubhaft, dass es so nicht weitergehen könne und dass sich etwas ändern müsse. Allerdings erklären mir die meisten auch gleichzeitig, dass sie allerdings ohnehin schon alles machten oder dass sie alleine die Welt nicht ändern könnten. Im Prinzip meinen sie nichts anderes wie: „Für mich soll sich nichts ändern, ich bin ohnehin ein „Guter“ und schon aus diesem Grund ist es schwierig, unser System zu hinterfragen, geschweige denn sogar den Absprung aus der Konsumgesellschaft zu schaffen. Die „üblichen Verdächtigen“ aus Politik und Wirtschaft sehen nur in zusätzlichem Konsum eine Lösung des Problems. Niemand von ihnen übernimmt freiwillig das Selbstmordkommando und erklärt der Bevölkerung, dass der Abschied vom Konsum auch bedeutet, lieb gewonnene Gewohnheiten zu opfern und auf Wohltaten unserer Zeit zu verzichten. Um nur ein kleines Beispiel zu nennen: Es ist weder ökologisch noch wirtschaftlich vertretbar, dass ich um 100 Euro von Wien nach Berlin und zurück mit dem Flugzeug befördert werde. Aber diesen „Luxus“, der auf Kosten unserer Umwelt konsumiert wird, möchte niemand infrage stellen, ohne sofort Angst zu bekommen, hunderttausende Wählerstimmen zu verlieren.

Wachstum und Konsum sind längst ein großer Teil der globalen Probleme

Der Abschied von der Konsumgesellschaft bedeutet letztlich Verzicht auf Güter aber auch Bequemlichkeiten wie z.B. den Transport von A nach B mit dem eigenen Auto. Da dies auf freiwilliger Basis eher schwierig durchzusetzen zu sein scheint, muss dieser Verzicht über Abgaben und Steuern bzw. durch einen gesellschaftlichen Konsens geschaffen werden. Es darf eben nicht länger cool sein, einmal schnell für ein Wochenende nach Berlin oder New York zu fliegen. Man ist eben nicht nur hip, wenn man ein I-Phone, I-Pad und sonstige I-Produkte besitzt oder sich leisten kann, sondern man muss sich gleichzeitig auch bewusst sein, dass dafür Bodenschätze minimiert werden und allzu viele Menschen unter unwürdigen Bedingungen in der Produktion dieser Güter eingesetzt werden. Die gesellschaftliche Verfasstheit muss wieder mehr auf soziale Erlebnisse und Verantwortung abzielen und sich der friedensstiftenden Funktion des sozial und ökologisch nachhaltigen Handelns bewusst werden. Wir müssen uns Gedanken über ein Wirtschaftssystem mit vernünftigem Konsum machen, wobei die Auswirkungen unseres Konsumverhaltens noch viel transparenter werden müssen. Die Industrie muss dazu angehalten werden, die Selbstzerstörung ihrer Produkte zu minimieren. Die Folgen unseres am Konsum orientierten Lebensstils müssen noch stärker in ihrer Komplexität verstehbar und nachvollziehbar gemacht werden. Das grundsätzlich Schöne an der menschlichen Vergesslichkeit und der Fähigkeit zur Verdrängung wird hier zum Hauptproblem. Wir können die Komplexität und die Folgen unseres Tuns eben nicht bis zum Ende der Wirkungskette hin durchdenken. Hier bedarf es durch Aufklärung des Gewahrwerdens der Problematiken und damit einhergehend eines Paradigmenwechsels. Dass dies sicher eine längere Phase der Anpassung benötigt, steht außer Zweifel. Die Umweltbewegung der 80er Jahre hat dazu sicherlich schon einen großen Beitrag geleistet und uns auf diesen Themenbereich überhaupt sensibilisiert. Allerdings muss hier noch viel getan und Bewusstsein geschaffen werden, um dies auch auf ein globales Niveau zu heben. Gerade die nationalen Egoismen sind für die Lösung solcher komplexen Wirkzusammenhänge eher als Hemmschuh zu betrachten. Die Finanzkrise zeigt ja mehr als deutlich, dass es vielversprechende Ansätze zur Lösung des einen oder anderen Problemkreises gibt, die nationalen Befindlichkeiten einer Lösung allerdings immer wieder im Wege stehen.

Gerade die Occupy-Bewegung macht allerdings auch Mut darauf, dass die Bürgerinnen und Bürger sich global vereinigen und damit ihre nationalen Regierungen unter Druck setzen werden. Vor allem die US-Administration wird auch im Hinblick auf die nächsten Präsidentschaftswahlen diesbezüglich unter Handlungsdruck geraten. Es bleibt zu hoffen, dass gerade auch mithilfe der Krise der Ausstieg aus der blinden Wachstumsökonomie gelingt und wir unsere Wirtschaft in Zukunft sozial und ökologisch verantwortungsvoller ausrichten werden. Eines ist sicher: Wir leben in spannenden Zeiten und ich bin extrem neugierig, wie sich unsere Gesellschaft in den nächsten 20 Jahren verändern wird. Dass sie es tun muss, davon bin ich überzeugt.

Das Janusköpfige an der Macht der Gedanken

Das Janusköpfige an der Macht der Gedanken

Januskopf

Der Januskopf das Symbol für Zwiespältigkeit geht auf den römischen Gott Ianus oder Janus zurück

„Unser Leben ist das Produkt unserer Gedanken.“ Marc Aurel – Dieser Ausspruch des Stoikers Marc Aurel ist wohl einer der meist zitierten, wenn es darum geht, die Macht der Gedanken auf unser Leben zu beschwören. Kein Erfolgsbuch und kein Ratgeberautor, der etwas auf sich hält, kommt an diesem Spruch vorbei. Google bietet mir unter dem Stichwort „Gedanken bestimmen unser Leben“ 3,1 Millionen Treffer. Und auch ich als Glücksphilosoph kann mich dieses Gedankens nicht dauerhaft entziehen. Die Aurel´sche Idee wird immer wieder zitiert und muss als Beweis für verschiedenste Lebens- und Erfolgsphilosophien herhalten, da so ein schlaues Kerlchen wie Marc Aurel, der sicherlich viel intelligenter als viele von uns war, sich nicht irren kann.

Gehören Sie zu den Fans von Marc Aurel und glauben Sie daran, dass die Macht Ihrer Gedanken und die in diesem Zusammenhang oft beschworene Kraft des Unbewussten, darüber entscheiden, wie sich Ihr Leben gestaltet? Gehen auch Sie davon aus, dass sich Ihre Gedanken in Ihrem Leben manifestieren und glauben Sie daran, dass Sie nur Ihre Gedanken ändern müssen und Ihr Leben nimmt einen neuen Lauf? Meinen Sie, dass, wenn Sie nur genug Positives und Schönes denken, Ihr Leben auch positiv und schön wird? Vertrauen auch Sie dem GIGO-Prinzip (Garbage in Garbage out – Müll rein, Müll raus) und versuchen sich schon aus diese Grund vornehmlich mit positiven Gedanken zu beschäftigen?

Neulich hatte ich ein interessantes Gespräch mit einer knapp 60-jährigen Frau, die in einer Direkt-Marketing Organisation arbeitet, deren Aufgabe es ist, für verschiedene Organisationen Spenden zu lukrieren. Auf meine Frage, wie es ihr damit denn ginge, antwortete sie, dass komme auf das Projekt an. Wenn sie zum Beispiel für die „Roten Nasen – Clown-Doktors“ aktiv wäre, dann ginge es ihr sehr gut, da sie nur schöne Bilder im Kopf habe. Wenn sie allerdings für eine Pflegeorganisation arbeite die sich um demente Menschen und Menschen im Wachkoma kümmert, dann ginge es ihr sehr schlecht, da sie dabei nur schlimme Bilder im Kopf habe. Einen klareren Beweis für die Macht unserer Gedanken oder Bilder im Kopf ist nicht zu erbringen, oder? Wie denken Sie jetzt über die Aussage von Marc Aurel? Sind Sie immer noch gleich überzeugt oder sogar mehr denn je? Oder gehören Sie zu jenen, die der Meinung sind, alles Blödsinn, denn unser Leben ist längst vorherbestimmt und wir unterliegen einem für uns nicht erkennbaren Ratschluss höherer Mächte. Ob dies jetzt einer Fügung des Universums, den griechischen Göttern oder einem genetischen Programm zugeschrieben wird, ist nur eine Frage der Vorliebe und des Jahrhunderts, in dem wir leben. Zu allen Zeiten gab es gute Gründe und auch namhafte Vertreter dieser Lehre, und gerade wenn wir von Charakter oder Temperament sprechen, meinen wir oft die uns angeborene Neigung auf das Leben zu reagieren und sind davon überzeugt, dass diese Charaktereigenschaften unveränderbare Bestandteile unserer Persönlichkeit seien. Gibt es in Ihrem Leben nicht auch solche Persönlichkeitsmerkmale von denen Sie überzeugt sind, dass diese zu Ihnen gehören und Sie diese auch auf keinen Fall ändern werden, denn dies käme einer Selbstverleugnung gleich? Wie Sie an der kurzen Darstellung der zwei divergierenden Ansichten sehen, ist eine klare Ja/Nein-Antwort auf die Aussage von Marc Aurel nicht möglich. Dies finde ich äußerst tröstlich, denn es zeigt mir einmal mehr, dass weder hochdekorierte Gelehrte die 100%-ige Wahrheit für sich reklamieren können, noch dass die Welt einem einfachen Schwarz-Weiß-Schema folgt. Unser Leben hat viel mehr Graubereiche, die vielleicht nicht immer angenehm sind und die wenigsten finden ein „graues“ Leben prickelnd und erstrebenswert und doch ermöglicht uns gerade dieser Graubereich mit den Widersprüchlichkeiten in unserem Leben und im Leben anderer besser zurechtzukommen. Er ermöglicht uns, die Meinung zu ändern und uns anzupassen an die Veränderungen, mit denen wir im Laufe des Lebens immer wieder konfrontiert sind. Die Quintessenz aus meiner Sicht ist: Es ist besser, sich schöne und positive Gedanken zu machen und daran zu glauben, dass diese auch eine Auswirkung auf unser Leben haben. Dies darf aber nicht zu Allmachtsfantasien führen, die meinen Blick für die genetischen und gesellschaftlichen Grenzen so eintrüben, dass ich andere Meinungen und Lebensentwürfe nicht mehr gelten lasse. Außerdem sollte mich die Idee von Marc Aurel nie dazu verführen zu glauben, alle, denen es auf unserer Erde nicht so gut geht, wären schwach im Geist und müssten nur ihre Gedanken verändern, um ihre Situation nachhaltig positiv zu beeinflussen. Denn dies stillt nicht den Hunger der ostafrikanischen Kinder und Erwachsenen, die aufgrund einer jahrelangen Dürre im Moment Hunger, Not und Elend erleiden. Der Glaube an die Macht der Gedanken darf die Kraft des Mitgefühls nie überragen und mein Herz nie vor anderen Menschen verschließen.

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen heute einen Tag voller schöner Gedanken, die dazu führen, Ihr Herz und Ihre Mitmenschlichkeit zu vergrößern.

Ihr Glücksphilosoph
Gedenken, Demut und Achtsamkeit

Gedenken, Demut und Achtsamkeit

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Gedenken an deportierte jüdische MitbürgerInnen im 3. Bezirk in Wien

Als ich soeben meine Frau nächtens von der Straßenbahn im 3. Wiener Gemeindebezirk abholte und wir in unsere Gasse einbogen, entdeckten wir zwei Häuser weiter eine Kerze am Boden stehen. Neugierig, wie wir sind, mussten wir natürlich nachsehen, warum diese dort aufgestellt worden war. Als wir darauf zugingen, erinnerten wir uns, dass dort im Boden eine Gedenktafel an die jüdischen Bewohner dieses Hauses eingelassen ist, die an die Menschen erinnert, die von dort deportiert wurden und in den Konzentrationslagern den Tod fanden. In derselben Sekunde, als ich dessen gewahr wurde, war ich zutiefst berührt und den Tränen nahe. Da fiel es mir auch wie Schuppen von den Augen, woran ich heute kein einziges Mal gedacht hatte: Heute wiederholt sich das Gedenken an die Reichspogromnacht zum 73. Mal. Eine ungerade Zahl, die es offenbar nicht Wert war, in den Medien Eingang zu finden. Aber diese kleine Geste, ein solch persönliches Gedenken an die Reichspogromnacht vom 9. November 1938, erschütterte mich zutiefst. Der daneben stehende winzige Topf mit kleinen Rosen und das Grablicht, das bei den Christen ja häufig am Allerheiligentag auf die Gräber gestellt wird, waren für mich ein sichtbares Zeichen des liebevollen Gedenkens an Menschen, die in einer dunklen Zeit umkamen. Dieses winzig kleine Zeichen, inmitten dieser virilen Großstadt erinnerte mich urplötzlich an die eigene Familiengeschichte; verlor ich doch einen Großvater an die Nazischergen. Dass wir bei dieser Betrachtung des kleinen, zuckenden Flämmchens unseren Kopf neigen mussten, erzeugte neben Nachdenklichkeit und Gedenken gleichzeitig das Gefühl einer großen Demut.

Wie viele Menschen dachten heute wohl an das Schicksal der jüdischen Gemeinden und der jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger im Jahr 1938? Auch ich hätte mir nicht sonderlich große Gedanken über den heutigen Tag gemacht. Erst dieser emotionale Moment führte dazu, mich hinzusetzen und diesen Text zu schreiben und mich zu fragen, wie es mit der Toleranz gegenüber Andersdenkenden aussieht. Ich begann nachzudenken, wie oft ich die Meinung oder den Lebenswandel anderer für unangemessen, dumm oder gar verwerflich halte. Wie oft ich es an der nötigen Toleranz fehlen lasse und mir gar keine Gedanken darüber mache, dass dies jemanden verletzen könnte. Jeder von uns hat Momente, in denen die Vorurteile mit ihm durchgehen und er oder sie schon mal bereit ist, Methoden oder Handlungen zu akzeptieren, die in einem anderen Kontext undenkbar wären. Gerade solche Situationen wie die Kerze und die Rose auf dem Gedenkstein machen mir bewusst, wie wichtig es ist achtsam zu sein und seine Meinungen und Ideen zu hinterfragen. Wir müssen die Toleranz und Demut vor Andersdenkenden und Andersgläubigen immer wieder aktiv einfordern und uns nicht zurückziehen und aus Bequemlichkeit die Auseinandersetzung scheuen. All zu oft lassen wir Menschen ihre Intoleranz durchgehen und glauben die Mühe dagegen aufzutreten lohne sich nicht, da solcherlei verbohrte Geister ohnehin nie ihre Meinung änderten. Gerade diese Bequemlichkeit aber war es, die Unmenschlichkeit und Barbarei in den Jahren 1933 bis 1945 unterstützt und zugelassen haben. Diese kleine Geste einer mir unbekannten Person hat mich erneut sensibilisiert und gezeigt, dass Toleranz, Achtsamkeit und Demut ein Boden sind, auf dem keine erneute menschliche Katastrophe wie der Holocaust oder die Reichspogromnacht möglich ist. Diese Gedanken wollte ich heute an diesem 9. November mit Ihnen teilen in der Hoffnung, dass diese wenigen Zeilen Sie zum Nachdenken anregen. Ich bin dankbar für dieses Erlebnis und ziehe den Hut vor dem Menschen, der mir diese Gedanken erst ermöglichte.