Diese Rahmenhandlung, die der rumänische Autor Thomas Perle seinem Stück „Karpatenflecken“ verlieh, ist unspektakulär bis auf die Tatsache, dass „der Berg“ und „der Wald“ im Vestibül des Burgtheaters eine menschliche Gestalt bekommen. Elisabeth Augustin und Stefanie Dvorak sinnieren zu Beginn und am Schluss der Aufführung über ihr Natur-Dasein und die menschliche Plage, von der sie heimgesucht wurden, die nun aber offenbar an ihr Ende gekommen zu sein scheint.
Die Hauptgeschichte, die auf diese Art kunstvoll umrahmt wird, hat es jedoch in sich. Wirft sie doch ein Streiflicht auf eine kleine Stadt in den Karpaten im Norden Rumäniens, die unter Maria Theresias Herrschaft von österreichischen Aussiedlern dem Wald abgetrotzt und im Laufe der Jahrhunderte auch von Slawen aus verschiedenen Gegenden bevölkert worden war. Mit Rückblenden in das Jahr 1777, 1937, 1940 bis zur Revolution 1989 und herauf in unser aktuelles Jahr 2023, sowie anhand der Erzählungen der letzten drei Generationen, wird lebendig, was man landläufig unter Geschichte versteht.
Unter der Regie von Mira Stadler verkörpert Augustin die erzählende Großmutter und Dvorak deren Tochter, sowie die Schwester der Großmutter. Reich war in der kleinen Stadt, aus der sie stammen, nie jemand geworden, aber bis zum Auftauchen der Ungarn im Jahr 1940 lebten die verschiedenen Ethnien, mit unterschiedlichen Religionen, inklusive der jüdischen, friedlich nebeneinander. „Kosmopolitisch“ waren wir, „dreisprachig“ erzählt die Großmutter stolz, aber nur solange dieses Nebeneinander politisch auch gewollt war. Perle lässt die Großmutter in Zipserisch sprechen. In einer Sprache, die sich aus dem Altösterreichischen, Rumänischen, Ungarischen und Jiddischen herausbildete und der Familie während der Nazizeit fast zum Verhängnis wurde.
Es sind einfache Sätze, welche Perle die Frauen auf der Bühne sagen lässt. Sätze wie „Weg von da“ und „Auf die Goschn kriagts“, in einer Szene, in der die Siedler neu Zugereiste von ihrem „Wurzelort“ fernhalten wollen, scheinen wie mit der Axt gehauen. Aber der Dramatiker zeigt auch, dass er mit einer sehr feinen Feder Gedanken förmlich ziselieren kann. „Die Karpaten sind wie Flecken auf meiner Haut“ vernimmt man von der Enkelin, die aufgrund ihres Dialektes von ihren Mitschülern nach der Wende 1989 in ihrer neuen deutschen Heimat als „Ostblock“ beschimpft wurde. Die politischen Verschiebungen von Randterritorien in Europa, vor allem in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg bis nach dem Zweiten, die in der Replik von Nachgeborenen kaum zu verstehen sind, werden in dem Stück anhand des Familienschicksals der drei Frauen lebendig und damit auch nachvollziehbar.
Deutlich wird auch, wie wechselnde Herrschaftssysteme ungefragt auf die Bevölkerung gestülpt werden, aber auch, wie diese eine unglaubliche Anpassungsfähigkeit entwickelt, die sich aus dem Willen zum Überleben bildet. Trotz aller Sympathie, die für die nach der Wende schweren Herzens nach Deutschland ausgewanderten Frauen aufkommt, wird auch die Tatsache beleuchtet, dass sich in der Fremde, in der Erinnerung, selbst das diktatorische Regime von Ceaușescu rosarot einfärbt. Und – aktueller geht es kaum – warum die ungarische Minderheit in Rumänien, welche auch die ungarische Staatsbürgerschaft besitzt, heute Viktor Orbán wählt. Ob rumänisch oder ungarisch oder deutschsprechend – ob als Junger ins Exil gewandert oder als alter Mensch, eines bleibt jedoch sichtlich für alle gleich: Die Verbindung mit jenem Ort, an dem die Familie über Jahrhunderte gelebt hat, sie reißt nie ganz ab. Vielmehr wird der „Wurzelort“ zu einer Projektionsfläche der Sehnsucht. Zu einem Wunsch nach einer Heimat, in die man immer wieder zurückkehren möchte.
Thomas Perle beschreibt keine fiktive Geschichte, sondern erinnert sich mit „Karpatenflecken“ an die Erzählungen seiner Großmutter und auch an sein alljährliches Zurückkehren in jenen Ort, von dem ein Großteil der Menschen nach der Öffnung der Grenze auswanderte. Mehr als es trockene Historienwälzer je können, schafft er es, trotz einer unspektakulären Sprache, die häufig nicht einmal Prädikate aufweist, ein Bewusstsein für eine Zeit und politische Geschehnisse in Rumänien zu wecken, die bis heute nachwirken.
Zarte, musikalische Begleitungen von Bernhard Eder, eine dunkle Bühne mit Dia-projizierten schwarz-weiß-Fotos (Moritz Müller) und typgerechte Kostüme (Elena Kreuzberger) gestalten eine Atmosphäre, in der Zeit und Raum wandelbar ohne Umbauten wahrgenommen werden können. Dass man dann ausgerechnet herzhaft lachen kann, wenn die alte Tante erklärt, warum sie „den“ – gemeint ist damit Orbán – wählt, ist nicht zuletzt der Regisseurin zu verdanken, welche die psychologisch gut erfassten Charaktere, genauso wiedergeben lässt. Hier geht es nicht um eine gezierte Zur-Schau-Stellung verschiedener Lebensentwürfe, sondern um eine möglichst authentische Wiedergabe von Träumen, Wünschen, Hoffnungen, aber auch Ängsten, Enttäuschungen und nicht zuletzt Widerständigkeit.
Aktuell bringt Rumänien Autoren und Autorinnen hervor, die sich mit der Geschichte vor und nach dem Sturz von Ceausescu auseinandersetzen. Jene, die ihre Stücke in Deutsch verfassen, wie zum Beispiel Elise Wilk, von der vor Kurzem „Union place“ im Salzburger Schauspielhaus uraufgeführt wurde, oder auch Carmen Lidia Vidu, tragen wie auch Thomas Perle, und das sollte man explizit hervorheben, für ein über die Grenzen Rumäniens hinaus wirkendes Verständnis der Geschichte ihres Landes bei. Dabei schreiben sie nicht nur auf hohem, literarischem Niveau, sondern bewirken etwas im Publikum. Man kommt nicht umhin, seine eigene Geschichtsvergessenheit zu hinterfragen und dem Wunsch nachzugehen, mehr über jene Menschen zu erfahren, die hinter dem Eisernen Vorhang unter unglaublich widrigen politischen Bedingungen über Jahrzehnte hinweg leben mussten. Wer immer sich die Frage stellt, welche Relevanz Theater heute noch hat, dem seien aktuell die „Karpatenflecken“ empfohlen.
Der Autorin gelang nicht nur ein spannendes Stück, sondern das Kunstwerk, anhand von Einzelschicksalen einen gänzlich anderen Blick auf eine europäische Landschaft zu werfen, als man es gewohnt ist. Mit dem Escher Theater in Luxemburg und dem Nationaltheater Timișoara fanden sich zwei Kooperationspartner, welche die mehrsprachige Aufführung ab August und danach im Herbst ebenfalls zeigen werden.
Die Schauspielerinnen und Schauspieler stammen aus Deutschland, Österreich, Luxemburg und Rumänien und sprechen auf der Bühne Deutsch, Englisch und Rumänisch. Damit alles von allen verstanden werden kann, laufen auf der dunklen Bühnenrückwand große, gut lesbare Übertitel mit. Zugleich werden die Charaktere und die Zeit, in welcher die Szenen spielen, mit Kreide an der schwarzen Wand festgehalten. Isabel Graf schuf eine lang gezogene, weiß gedeckte Tafel als Bühnenbild. Im Laufe des Geschehens erwartet das Publikum so manche Überraschung mit diesem Objekt, wobei die Regie dabei mit großer Lust tief in die Theaterkiste greift.
Union Place – Schauspielhaus Salzburg (Foto: Jan Friese)
Union Place – Schauspielhaus Salzburg (Foto: Jan Friese)
Union Place – Schauspielhaus Salzburg (Foto: Jan Friese)
Drei unterschiedliche Erzählstränge mit verschiedenen Darstellerinnen und Darstellern scheinen anfangs nichts miteinander zu tun zu haben. Je länger die Vorstellung jedoch dauert, umso öfter wird man von der Erkenntnis getroffen, dass man im Publikum mehr weiß, als die Figuren auf der Bühne, dass man Zusammenhänge erkennt, welche den Agierenden nicht bekannt sind. Die Handlung erstreckt sich über drei Generationen, mit sieben Personen. Die vierte Generation, die Eltern der Rumänin Mariana (Christa König) sind nur durch kurze Beschreibungen mit von der Partie. Aber auch die Ehefrau von Rudolf (Wolfgang Kandler), der Ehemann von Sophie (Christiane Warnecke), die Mutter von Darius (Philippe Thelen), sowie der geschiedene Mann von Daniela (Sophia Fischbacher) kommen nur indirekt ins Spiel. Wenngleich sie alle wichtige Positionen einnehmen und sich die eine oder andere Handlungswendung nur durch diese abwesenden Personen erklären lässt.
Die Familiengeschichten aus Rumänien, Deutschland und Luxemburg weisen ziemliche Bruchstellen auf. Das Zusammenleben über die Grenzen hinweg gestaltet sich nicht so friktionsfrei, wie man erhoffen könnte. Schuld daran sind aber keine Sprachbarrieren. Das, was letztlich befremdet, ist der Unterschied der gesellschaftlichen Normen, die man von Kind an in dem Land, in dem man aufwächst, mitbekommt. Das Familienbild in Rumänien ist nach wie vor ein sehr traditionell geprägtes. Eine Abweichung davon, etwa als Frau unverheiratet zu bleiben, wird von der Gesellschaft auch heute noch nicht goutiert. In Deutschland haben sich die Frauen eine Selbstbestimmung erkämpft, die auch das Recht beinhaltet, mit dem eigenen Körper und dem Kinderwunsch sehr frei umzugehen. Was passiert aber, wenn sich Kinder gar nicht so entwickeln, wie man sich das vorgestellt hat? Wenn Ehen an patriarchalen Mustern, die ungefragt gelebt werden, scheitern? Dies sind nur einige Fragen, welche die Autorin in ihrem Stück anschneidet. Das Spannende daran ist aber, dass all das nicht in einer trockenen, theoretischen Abhandlung vorexerziert wird. Vielmehr darf man an spannenden Lebensbildern teilhaben. Kunstvoll verwebt Elise Wilk diese miteinander, sodass einem am Ende der Atem stocken kann.
Da verliert Rudolf seinen studierenden Sohn aufgrund eines Unfalles und macht sich auf die Suche nach seinem unehelichen Kind, das seine Jugendliebe geboren haben soll. Da bemüht Sophie aus Hamburg eine ukrainische Leihmutter, da sie vermeintlich selbst keine Kinder bekommen kann. Da trifft Alex (Andrei Chifu) aus Rumänien im Haus von Walter (Jens Ole Schmieder) in Luxemburg zur Weihnachtsfeier ein und soll laut seiner Mutter Daniela dort aber für längere Zeit bleiben. Mit kurzen, aber prägnanten Dialogen erhält man Einblick in die Sorgen und Nöte der Figuren und stellt fest, dass ein beschauliches Familienleben offenbar etwas ist, das sich zwar alle wünschen, das aber dennoch eine Utopie darstellt.
Union Place – Schauspielhaus Salzburg (Foto: Jan Friese)
Union Place – Schauspielhaus Salzburg (Foto: Jan Friese)
Union Place – Schauspielhaus Salzburg (Foto: Jan Friese)
Union Place – Schauspielhaus Salzburg (Foto: Jan Friese)
Union Place – Schauspielhaus Salzburg (Foto: Jan Friese)
Regie führte Alexandru Weinberger-Bara, der in Rumänien geboren ist, aber nach seiner Matura nach Österreich zog, um am Max Reinhardt Seminar bei Anna Maria Krassnigg und Martin Kušej Regie zu studieren. Beeindruckend, wie er die Beweggründe aller verständlich werden lässt und dabei auch das richtige Zeitmaß findet. Zwar lösen sich die Szenen in raschem Wechsel ab, dennoch verliert man nie den Überblick und fühlt sich ob der anfänglich nicht zusammenhängenden Momentaufnahmen auch nicht überfordert. Großartig, wie er durch ganz feine Hinweise die kulturellen Unterschiede zwischen den einzelnen Nationalitäten sichtbar macht. Rudolf leidet noch immer darunter, dass er, obwohl er in seiner Jugend aus Rumänien geflohen ist und ein einwandfreies Deutsch spricht, nicht als Deutscher erkannt wird. Dabei übersieht er völlig, dass ihn seine Gestik immer und immer wieder verrät.
Union Place – Schauspielhaus Salzburg (Foto: Jan Friese)
Daniela aus Rumänien wiederum hält an ihrem christlichen Glauben fest, ohne dass ihr die Widersprüche auffallen, in welche sie sich immer wieder verstrickt. Der Deutsche Walter war überzeugt, sich mit Geld eine junge Osteuropäerin als gefügige Ehefrau erkaufen zu können, findet jedoch nach einem bösen Erwachen nur mehr Zuflucht im Alkohol. Darius flieht vor seinen Eltern in eine WG und ist sich nicht bewusst, dass er sich gegen die Strenge seines Vaters mit der Verweigerung zu studieren wehrt. Dass dieser noch das Ceaușescu-Regime als Jugendlicher erlebt hat und selbst von einem autoritären Erziehungsstil geprägt ist, hinterfragt sein Sohn nicht.
Die charakterliche Tiefe, welche jede Figur besitzt, ist erstaunlich, manches Mal widersprüchlich, immer jedoch zutiefst menschlich. Und genau das ist es, was über allem Trennenden steht. Das Menschsein an sich vereint uns über Grenzen und Sprachbarrieren hinweg und lässt uns erkennen, dass wir alle zuallererst glücklich leben wollen und dieses Glück auch an unsere Kinder weitergeben möchten.
Es gäbe viel zu erzählen über „Union Place“, man könnte Seiten füllen, um die sieben Charaktere auszuleuchten. Thomas Mann hätte für die Geschichte wahrscheinlich mehr als tausend Seiten gebraucht. Daran lässt sich die dramatische Begabung von Elise Wilk erkennen, die auch das Glück hatte, auf einen Regisseur zu treffen, der diesen Text treffsicher und punktgenau mit einem fulminanten Ensemble auf die Bühne brachte. Die Vielschichtigkeit des Textes, aber auch die Inszenierung an sich schaffen es, dass man versucht ist, sich ein zweites Mal das Stück ansehen zu wollen.
„Endlich eine Oper, in der man herzlich lachen kann.“ Dieser Aussage eines Besuchers der Aufführung „Der Florentiner Hut“ von Nino Rota an der Oper Graz muss uneingeschränkt beigepflichtet werden. Wie der Regisseur Bernd Mottl in seiner Video-Einführung zu diesem Werk feststellte, haben wir im Moment gerade nicht wirklich viel zu lachen. Dies war, als der italienische Komponist, der hauptsächlich für seine Filmmusik zu Werken von Luchino Visconti, Francis Ford Coppola, Lina Wertmüller oder Franco Zeffirelli bekannt ist, genauso. Er begann sie in den Jahren 1944/45 mitten im letzten Grauen der Naziherrschaft. Erst 10 Jahre später, vor der Uraufführung, vollendete er den musikalischen Part.
Das Libretto schrieb er gemeinsam mit seiner Mutter nach einem Lustspiel von Eugène Labiche und Marc Antoine Amédée Michel, das 1851 erschienen war und viele Bearbeitungen erfuhr. Kein Wunder, denn eine so verdrehte und verzwickte Handlung, in der sich innerhalb von wenigen Augenblicken alles mehrfach in eine ungedachte Richtung hinentwickelt, muss man erst einmal erfinden.
„Der Florentiner Hut“ (Foto: Werner Kmetitsch)
Die Geschichte um einen Florentiner Strohhut, der unglücklicherweise von einem Pferd in einem Wald gefressen wird, ohne welchen aber die Besitzerin nicht zu ihrem eifersüchtigen Ehemann nach Hause zurückkehren kann, ist atemberaubend konstruiert. Zugleich enthält sie viele Momente, die von Slapstick nur so strotzen und gerade ob ihrer humorvollen Unglaubwürdigkeit, gepaart mit einer höchst kunstvollen Dramaturgie, bezaubert.
Die Regie trägt der satirischen Handlung Rechnung und wartet mit mehreren unerwarteten, heiteren Details auf. Zugleich aber bleiben die Figuren psychologisch verständlich. Zum Gelingen trägt außerdem eine Besetzung bei, welche die Aufnahme einer CD rechtfertigt, die im Ticketzentrum erhältlich ist. Piotr Buszewski in der Rolle von Fadinard, dem Bräutigam, dessen Hochzeitstag zum herausforderndsten Tag seines Lebens wird, erweist sich als herausragend. Nicht nur sein komödiantisches Talent, sondern vor allem sein heller, nie aber scharfer Tenor, überzeugten das Publikum, das mit außerordentlich langanhaltendem Applaus dankte. An seiner Seite, ebenso gelungen besetzt, gibt Tetiana Miyus seine Braut Elena. Als einzige ganz in Weiß – im Gegensatz zu den anderen Schwarz-Weiß-Kostümen der restlichen Gesellschaft, verkörpert sie eine junge Frau mit vielen Facetten. Angefangen von der Freude auf die bevorstehende Hochzeit bis hin zur Panik vor der ersten Liebesnacht und der Trauer darüber, ihren Vater und ihr bisheriges Zuhause verlassen zu müssen, darf man all ihre Emotionen glaubwürdig miterleben. Stimmlich kann man sich keine bessere Interpretin für diese Rolle vorstellen. In den Höhen sicher, ohne dass man eine Anstrengung spürt, in den Duetten dynamisch perfekt ausdifferenziert, brillierte sie in jedem Augenblick.
„Der Florentiner Hut“ (Foto: Werner Kmetitsch)
„Der Florentiner Hut“ (Foto: Werner Kmetitsch)
„Der Florentiner Hut“ (Foto: Werner Kmetitsch)
„Der Florentiner Hut“ (Foto: Werner Kmetitsch)
„Der Florentiner Hut“ (Foto: Werner Kmetitsch)
„Der Florentiner Hut“ (Foto: Werner Kmetitsch)
Sowohl Anna Brull als liebessüchtige und verblendete Baronin de Champigny als auch Andzelika Wisniewska als Anaide, jene Ehebrecherin, deren Hut Anlass für alle Irrungen und Verwirrungen bot, sind wunderbare Gegenspielerinnen zur jungen Braut. Auch sie sind mit ihren Kostümen (Alfred Mayerhofer) typgerecht einerseits dem Adel verpflichtet und andererseits für einen Ausflug ins Grüne, adäquat ausgestattet. Besonders hervorzuheben ist das fulminante Bühnenbild von Friedrich Eggert. Wie er mit dem Hutschachtelmotiv die ganze Oper hindurch abwechslungsreich gestaltet, hat große Klasse und ist ästhetisch außerordentlich gelungen. Daeho Kim als Bauer und Vater der Braut und Ivan Orescanin als Beaupertuis sind an jener Seitenhandlung maßgeblich beteiligt, die immer und immer wieder neue Lacher produziert. Der unabsichtliche Tausch von Schuhen, die einmal dem einen und dann wieder dem anderen zu klein sind, ist derart humorvoll umgesetzt, dass man gar nicht genug davon bekommen kann. Dass beide in ihren Rollen stimmlich in jeder Hinsicht entsprechen, fügt sich, wie alles in dieser Inszenierung, genauso perfekt wie die musikalische Leitung von Daniele Squeo.
Musikalisch steht Nino Rota für seine Zeit völlig außerhalb des kompositorischen Kanons des 20. Jahrhunderts. Vielmehr sind seine Vorbilder, Donizetti, Offenbach und Strauss, ja sogar einige Takte Wagner aus der Oper gut herauszuhören. Herrliche Duette und Soli, vor allem, wenn der Bräutigam und seine Braut die Liebe besingen, sind ohrbeglückend. Rasante Galopps, ein schleppender Trauermarsch oder süßliche Geigenmelodien ergeben einen farbenfrohen Klangmix, völlig abseits von vielen atonalen oder seriellen Kompositionen, wie sie zur Entstehungszeit vorherrschten.
Die Idee, die Handlung in Nachthemden und Schlafmützen beginnen und einige der Personen im letzten Bild wieder in solchen auftreten zu lassen, darf als augenzwinkernder Verweis auf die Dauer der Handlung interpretiert werden, die sich im Laufe eines Tages abspielt. Zu danken ist der Noch-Intendantin Nora Schmidt, welche ‚Il cappello di paglia di Firenze‘ – so der italienische Titel – in Graz zur Aufführung brachte. Immer wieder gelang es ihr, in ihrer Zeit in Graz, die mit dieser Saison endet, kleine, wenig bekannte Opernperlen hier aufzuführen. Zur Freude des Publikums und über die Stadt hinaus beachtet.
Die historisch belegte Geschichte der Karmelitinnen aus Compiègne während der Zeit der Terreur-Herrschaft in Frankreich ist harter Tobak. Als Feindinnen der neuen republikanischen Ordnung angesehen, zu nahe und eng verbunden mit der verhassten Adelsherrschaft, fanden 16 von ihnen an einem Tag im Jahr 1794 hintereinander den Tod durch die Guillotine. Eine in jüngster Zeit errichtete Gedenkstätte im Karmel von Jonquières, einem Nachbardorf von Compiègne, sowie die dramatische Bearbeitung durch Georges Bernanos nach der Novelle „Die letzte am Schafott“ von Gertrud le Fort aus dem Jahr 1931.
Ein dramatisches Echo aus der Vergangenheit: Die Karmelitinnen von Compiègne
Francis Poulenc gelangen mit seiner Oper „Dialogues des Carmélites“ – für die er sowohl das Libretto als auch die Musik schuf – die bisher wohl nachhaltigsten Erinnerungsmomente an dieses Ereignis. Ausgestattet mit einer Reihe an Wohlklängen, prägt sich das Klangbild des Werkes letztlich jedoch durch seine scharfen Bläser- und Percussion-Einschnitte nachhaltig ins musikalische Gedächtnis ein.
An der Staatsoper in Wien erlebte 1959 das Werk drei Jahre nach seiner Entstehung seine österreichische Erstaufführung. Im Gegensatz zur neuen Inszenierung dieses Jahres wurde damals in deutscher Sprache gesungen. Die Aufführung setzt sowohl musikalisch als auch von der Inszenierung her außerordentliche künstlerische Maßstäbe. Denn mit Bertrand de Billy am Dirigentenpult, der als Poulenc-Spezialisten bezeichnet wird und Magdalena Fuchsberger, welche die Regie übernommen hat, fand ein künstlerisches Duo zusammen, welches dem Publikum ein hochemotionales, musikalisch beeindruckendes und zugleich bestens inszeniertes Opernerlebnis bescherte.
Vom lyrischen Zauber zum brutalen Realismus: Das Orchester der Wiener Staatsoper
Das Orchester der Wiener Staatsoper unterstützte die lyrischen Passagen der Sängerinnen mit intimer Noblesse, in keinem Moment verkitscht. Jene Stellen hingegen, in welchen die Tragik des Sterbens in verschiedenen Varianten beleuchtet wird, erklangen derart wuchtig und brutal, dass man sich einer tiefen Betroffenheit nicht erwehren konnte.
Dialogues des Carmélites (Foto: Michael Poehn)
Monika Biegler erdachte eine offene, architektonische Holzkonstruktion auf der sich häufig im Uhrzeigersinn drehenden Bühne, in der alle unterschiedlichen Räume der Szenen zum Teil gleichzeitig zu sehen waren. Spartanisch, aber höchst raffiniert, hinterließ diese nicht nur den Eindruck von sich parallel entwickelnden Geschehen, sondern auch von einem Setting, in welchem trotz aller Parallelität dennoch alles mit allem verwoben ist. Aron Kitzig steuerte mit Videoprojektionen über der Szenerie eine zusätzliche, künstlerische Ebene bei. In ihr waren zum großen Teil christlich konnotierte Bildausschnitte zu erkennen, die stilistisch zwischen Barock und dem 20. Jahrhundert wechselten, ohne jedoch direkt zugeordnet werden zu können. Die Figurenführung von Magdalena Fuchsberger arbeitete deutlich die verschiedenen Charaktere der Frauen heraus, die sich den Ordensregeln ihres Karmels untergeordnet hatten. Von Beginn an visualisierte die Regisseurin die multiplen Ängste von Blanche, die ihre Familie für das Kloster verlässt. Schwarze Gestalten mit angsteinflößenden Masken, tierisch gehörnt oder beschnäbelt, begleiten jene Szenen, in welchen sich sowohl Albträume widerspiegeln als auch ein Sterben ankündigt wird, das von Grauen begleitet ist. Dass diese unheilverkündenden Todesboten in der allerletzten Szene während der Tötung der Karmelitinnen nicht mehr auftauchen, versinnbildlicht ihren Mut, sich für ihre Glauben zu opfern und die zuvor beständige Angst vor dem Tod hinter sich gelassen zu haben.
Dialogues des Carmélites (Foto: Michael Poehn)
Die mutigen Karmelitinnen und ihr grauenhafter Weg zur Erlösung
Die Besetzung von Blanche (Nicole Car), der sterbenden alten Äbtissin Madame de Croissy (Michaela Schuster), Mère Marie (Eve-Maud Hubeaux), Madame Lidoine (Maria Motolygina) und Constance (Maria Nazarova) darf als idealtypisch bezeichnet werden. Stimmlich bestens disponiert, war es mehr als nur eine Freude, ja ein Abenteuer, ihre Soli zu verfolgen und damit zugleich auch ihre jeweiligen Gedankengänge und Emotionen nachzuvollziehen. Der Gegensatz von Michaela Schuster, welche mit hohem theatralischem Einsatz den Todeskampf der alten Äbtissin verdeutlichte und Maria Motolygina, als ihrer Nachfolgerin, wurde beeindruckend vorgeführt. Während die eine die Ordensgemeinschaft mit ihren aufkommenden Gotteszweifeln in Aufruhr versetzte, gelang es der anderen mit ihrer berückend schön vorgetragenen Arie, mit der sie ihr neues Amt übernahm, wieder Ruhe und Zuversicht bei den Klosterinsassinnen herzustellen. Blanche, die ihren Vater (Michael Kraus) und ihren Bruder (Bernard Richter zu Recht vom Publikum intensiv akklamiert) verlassen hatte und Constanze, die ihr schon bald ihr gemeinsames Schicksal vorhersagte, waren nicht nur von Poulenc mit unterschiedlichen musikalischen Ausdrucksmöglichkeiten differenziert ausgestattet worden. Groß gewachsen und den geistigen Aufgaben sichtlich mit Eifer zugewandt, präsentierte sich die Adelstochter Blanche. Zart, klein, ein wenig naiv und quirlig hingegen ihre lebenslustige Freundin Constanze. Mère Marie hingegen wurde als ultraorthodoxe Klosterschwester präsentiert, der es mit Strenge und Hochmut gelang, ihre Mitschwestern auf den gemeinsamen Märtyrertod einzuschwören. Einen Tod, der von ihr jedoch auch zu verhindern gewesen wäre.
Dialogues des Carmélites (Foto: Michael Poehn)
Dialogues des Carmélites (Foto: Michael Poehn)
Dialogues des Carmélites (Foto: Michael Poehn)
Dialogues des Carmélites (Foto: Michael Poehn)
Dialogues des Carmélites (Foto: Ashley Taylor)
Dialogues des Carmélites (Foto: Ashley Taylor)
In einer packenden Szene, die vor der Guillotinierung spielt und einen plausiblen, psychologischen Gedankengang der Regisseurin wiedergab, erlebt Mère Marie eine Sinneswandlung. Ohne Worte vor dem geschlossenen Vorhang stehend, wird ihr Körper wie von unsichtbarer Hand während der derben Orchesterklänge des letzten Zwischenspiels eine Zeitlang durchgepeitscht. Schließlich gewinnt aber – deutlich erkennbar – ihr Überlebenswille, gepaart mit einem unbändigen Stolz die Oberhand. Sie und der Beichtvater (Thomas Ebenstein) sind die einzigen Überlebenden der Ordensgemeinschaft und, so darf zwischen den Zeilen gelesen werden: Es wird ihnen nicht schwerfallen, sich in der komplett veränderten französischen Gesellschaft nach der Revolution zurechtfinden. Ein subtiler Hinweis darauf ist auch die in der letzten Szene veränderte Drehrichtung der Bühne nach links. So wie der Adel abgeschafft wurde – der Knabe Johannes Gries mimt den kindlichen Ludwig XII – wurde auch versucht, die christliche Religion zu eliminieren. Diesem Gewaltakt räumte Poulenc musikalisch großen Raum ein, begleitet nicht nur von klanglichen Einfällen, sondern auch von einer Geräuschkulisse, in welcher die Gewalt der Kloster- und Religionszerstörung hörbar wird. Dem „Salve Regina“, das den letzten Gang zum Schafott der Nonnen begleitet, wurde auch in den Kostümen ein starker Ausdruck verliehen. Die goldenen Diademe, welche die Frauen auf ihren Köpfen trugen, legten Zeugnis von ihrer göttlichen Idee ab, der sie sich bis zuletzt verpflichtet fühlten.
Dialogues des Carmélites (Foto: Michael Poehn)
Mère Marie: Eine Frau zwischen Orthodoxy und Überlebenswille
So wie die schwarzen, bedrohlichen Geistgestalten am Ende verschwunden sind, ist auch jene Figur nicht mehr zu sehen, welche Blanche von Beginn an begleitete. Die Tänzerin Stepura verkörperte weiß gewandet eine Imagination und personifizierte Projektion jener Freiheit, die Blanche so inniglich ersehnte, aber erst kurz vor ihrem Lebensende tatsächlich erlangte. Ausgestattet mit einem geflügelten Helm, einem Bihänder und einem metallisch-ritterlich ausstaffierten Armschutz begleitete sie die junge Frau mit einer minimalistischen, jedoch ausdrucksstarken Choreografie auf ihrem Weg von der Angst zur größtmöglichen inneren Freiheit. (Kostüme von Valentin Köhler).
Mit den „Dialogues des Carmélites“ gelang eine erkenntnishafte Darbietung, in der man auch wichtige Impulse zur weiteren Beschäftigung mit diesem Thema finden konnte. Poulenc bewies mit dieser Oper, dass er in der Mitte des 20. Jahrhunderts auch abseits der 12-Tonmusik und anderen seriellen Formen imstande war, künstlerisch Hochwertiges zu produzieren. Es ist zu hoffen, dass die Oper in kommenden Spielzeiten wieder aufgenommen wird.
Hier könnte die Kritik enden, denn viel mehr an Lob kann man eigentlich nicht mehr versprühen. Für all jene aber, die noch nicht in der White Box des Off-Theaters waren, hier eine Kurzzusammenfassung, die als Appetitmacher für ein gelungenes Theatererlebnis gelten soll. Seit bereits 10 Jahren besteht die Theaterformation, die immer wieder mit unterschiedlichen Menschen zusammenarbeitet. Mit der jetzigen Jubiläumsproduktion wird ein mehr als kräftiges Lebenszeichen gesetzt.
Die Schlagzeilen sind voll von Nachrichten über die Klimakrise. Unwetter stehen genauso an der Tagesordnung wie Dürre- oder Hitzeperioden. Die Frage des Energiesparens bewegt uns so richtig erst seit der Teuerung von Gas und Strom und das Mülltrennen hat – zumindest in Wien – auch so seine Tücken. Die Ausgangslage ist klar. Niemand kann vor den dramatischen Veränderungen, die uns das Klima bereithält, die Augen verschließen. Aber was ist zu tun? Was ist richtig, was ist falsch?
Diesen Fragen geht das Ensemble, bestehend aus Isabella Jeschke, Rina Juniku, Leon Lembert und Gerald Walsberger auf den Grund. Oder vielmehr versuchen die Vier in die Untiefen der unübersichtlichen Fragestellungen einzutauchen, wäre da nicht der spiegelglatte Boden, auf dem es sich kaum gerade auf den Beinen halten lässt. Zwei große Windmaschinen steuern ein Übriges bei, dass sich keine Gemütlichkeit im Raum ausbreitet, der mit weißen Segelwänden rundum begrenzt ist. (Bühne: Sebastian Spielvogel) Dominik Essletzbichler, Daniel Neuhauser und Tobias Pöcksteiner bedienen live ihre E-Gitarren samt Loop-Maschinen und unterfüttern das aberwitzige Geschehen, das sich vor ihnen abspielt, mit abwechslungsreichen Klängen.
Die temporeiche Inszenierung wartet mit einer eigenen Dynamik auf, der sich niemand entziehen kann.
Sie ist ausgestattet mit einer großen Portion Slapstick, die sich bis ins Absurde auswächst und einem verbalen Feuerwerk, bei dem sich niemand auch nur ein kleines Blatt vor den Mund hält. Ist eine Frage erst einmal ausgerollt – wie jene nach dem Sinn des Mülltrennens – bekommt man zwar so ziemlich jeden Gedankengang ausgesprochen, der einen selbst schon beschäftigte, auf eine befriedigende Antwort aber wartet man vergebens. Ist es sinnvoll, Biomüll vom Restmüll zu trennen oder wird auf der Mülldeponie „eh alles zusammengeschmissen?“ Wie viel darf man als Einzelperson an Strom verbrauchen? Sind vermögende Leute nicht wie Junkies konsumabhängig und damit therapiebedürftig? Wie schaut es mit der Frage nach Kindern aus? Sind diese eine Zumutung für die Welt oder ihre Rettung? Und nicht zu vergessen: Ist es heute noch vertretbar, Bananen zu essen? Um dieses Thema entwickeln sich zwei großartige Szenen, bei welchen man aus dem Lachen nicht mehr herauskommt und dennoch weiß: Hier gibt es eigentlich keine wirkliche Lösung, denn in unseren Breiten gedeihen Bananen einfach nicht. Gerald lässt nicht den geringsten Widerspruch zu, wenn es um seine geliebten Bananen geht und einem witzigen Regieeinfall sei Dank – darf man sich etwas später an einer umwerfenden Bananen-Ess-Nummer ergötzen.
E3 Ensemble „In Arbeit“ (Foto: Thomas Steineder)
E3 Ensemble „In Arbeit“ (Foto: Thomas Steineder)
E3 Ensemble „In Arbeit“ (Foto: Thomas Steineder)
E3 Ensemble „In Arbeit“ (Foto: Thomas Steineder)
E3 Ensemble „In Arbeit“ (Foto: Thomas Steineder)
E3 Ensemble „In Arbeit“ (Foto: Thomas Steineder)
E3 Ensemble „In Arbeit“ (Foto: Thomas Steineder)
Im Laufe des Abends wird deutlich, dass es nicht ein Dilemma ist, in dem wir alle stecken, sondern eine schier unüberschaubare Zahl an Dilemmata. Oder wie Isabella Jeschke es mehrfach auf den Punkt bringt: „Es ist alles so kompliziert!“
Neben all dem Klamaukhaften, das hier fröhliche Urstände feiert – da wird gerangelt und gestritten, da lässt man sich fallen und zieht alle anderen mit – steht immer wieder auch die Erkenntnis, dass wir selbst viel zu wenig tun, um kein schlechtes Gewissen haben zu müssen. Auf die Klimademo kann Gerald nicht gehen, weil er sich dann nicht ausreichend auf den Auftritt am Abend konzentrieren kann. Isabella nimmt davon Abstand, weil sie zu großes Mitleid mit den kleinen Kindern hat, die dort von ihren Eltern mit von der Partie sind. Rina wiederum ist aktiv geworden und wird ob ihres Einsatzes bei der Hausverwaltung beklatscht, der in der Installation eines Bewegungsmelders im Hausgang mündete, um Strom zu sparen. Dass sie später zugibt, gelogen zu haben, verschlägt Isabella den Atem, aber was machen Fake News im Kleinen schon aus! Leon würde nur allzu gern ein Vögelchen anlocken, doch seine Lockrufe bleiben unerhört.
Sosehr man diesen Abend mit viel Lachen genießt, man weiß zugleich auch, dass es so nicht weitergehen kann. Dass man sich nach der Vorstellung erst recht viele Fragen zu diesem Thema stellt, darf dem E3 Ensemble als großes Verdienst angerechnet werden. Nichts ist schwerer im Theater, als gesellschaftliche Missstände, die ins Lebensbedrohende ausarten, so zu vermitteln, dass darüber dennoch des Lachens kein Ende zu sein scheint. Und das ist mit dem Stück „In Arbeit“ mehr als gelungen.
Wow, wumm und bravo, sowie auf weitere 10 Jahre E3 Ensemble!