Ein Bahnhof als Sinnbild Europas

Ein Bahnhof als Sinnbild Europas

Am Ende des Crossing Europe Filmfestivals konnte Direktorin Christine Dollhofer eine erfreuliche Festivalbilanz ziehen. Die Besucherzahlen haben sich inzwischen bei ca. 20.000 Filminteressierten eingependelt. Diese Zahl umfasst nicht nur das Publikum in den Kinosälen, sondern auch jenes der Rahmenveranstaltungen und der abendlichen Konzerte im Rahmen der Nightline. Aus feuerpolizeilichen Gründen war die Kapazität der Nightline deutlich geringer als in den letzten Jahren. Das heißt im Umkehrschluss, dass heuer vor allem die Filme und Filmtalks außerordentlich gut besucht waren, was sich mit den subjektiven Eindrücken vor Ort deckt. Bei jedem besuchten Film, der hier rezensiert wurde, waren die Kinosäle voll. Das ist die beste Auszeichnung von Publikumsseite, die einem Filmfestival und seiner Programmierung widerfahren kann.
Bereits am Dienstagabend wurden die Preise vergeben. Im Europe Award teilten sich mit „Les Apaches/ Apaches“ (FR 2013) von Thierry de Peretti und „Family Tour“ (ES 2013) von Liliana Torres gleich zwei Filme das Preisgeld von 10.000,- €, was als Zeichen der dichten Qualität in diesem Programm gewertet werden kann.

Eine blonde Frau und ein junger Mann im Film "Géographie Humaine" - Crossing Europe

„Géographie Humaine“ – Crossing Europe (Foto: crossing europe)

„Géographie humaine/ Human Geography“ von Claire Simon erhielt den FEDEORA Award für den besten Dokumentarfilm, einen Film, den auch ich ausgezeichnet hätte. Die 1955 in London geborene Filmemacherin hat Ethnologie mit einem Fokus auf Nordafrika studiert und ist in ihrer filmischen Arbeit eine reine Autodidaktin. Sie arbeitet ebenso als Kamerafrau und Cutterin. War bereits in meinem ersten Text von einem Kino der Orte die Rede, so ist „Géographie humaine/ Human Geography“ wieder ein explizites Beispiel dafür. Schauplatz ist der Pariser Gare du Nord, Europas größter Bahnhof, an dem vom internationalen Schnellzug über die Lokalbahn bis zur Metro unzählige Verkehrslinien zusammenlaufen. Claire Simon interviewt darin in Begleitung des Freundes Simon Mérabet Reisende, Flaneure und Obdachlose. Ebenso Jugendliche, die ihre Freizeit dort verbringen, sowie Menschen, die im Bahnhof ihren Lebensunterhalt verdienen. Sei es als Sicherheitsmänner oder VerkäuferInnen in den diversen Geschäften und Lokalen. Die hohe Qualität der Interviews ist maßgeblich durch Mérabet gewährleistet. Dieser versteht sich nicht als Fragensteller, sondern als Gesprächspartner, der oft seine eigene Geschichte und (algerisch-französische) Herkunft in die Unterhaltungen mit einbezieht. In den Gesprächen, die das Leben kurz anreißen, dabei aber alles andere als beliebig sind, wird ein buntes Panorama quer durch die Gesellschaft gezeichnet. Ein kongolesischer Bahnhofs-Security, der einmal Politikberater in seiner Heimat war, zwei Franzosen, die mangels Jobalternativen zum Arbeiten nach Schottland gingen, ein schwules Paar für das der Bahnhof einmal in der Woche „von einander Abschied nehmen“ bedeutet oder ein Iraner aus gutem Haus, der ein kleines Schuhgeschäft im Gare du Nord betreibt.

Gare du Nord"war beim Filmfestival "Crossing Europe" in Linz zu sehen

„Gare du Nord“war beim Filmfestival „Crossing Europe“ in Linz zu sehen. (Foto: crossing europe)

Vielen dieser Geschichten und Charaktere begegnet man ein zweites Mal in „Gare du Nord“ (FR/CA 2013). Das ist sozusagen der Spielfilmzwilling, ebenfalls von Claire Simon. Rund um die ProtagonistInnen Ismael, Mathilde, Sascha und Joan entspinnt sie viele kleine episodische Geschichten, die sich immer wieder überlagern und gegenseitig vorantreiben. Ismael betreibt soziologische Studien für seine Doktorarbeit und macht nebenbei Kundenbefragungen, um Geld zu verdienen. In Mathilde, einer krebskranken Professorin für Geschichte, weckt er während einer dieser Befragungen das Interesse am „Gare du Nord“ und seiner eigenen wissenschaftlichen Arbeit. Joan, eine ehemalige Studentin von Mathilde, arbeitet nun als Immobilienmaklerin und trifft am Bahnhof viele Kunden aus England während Sascha – ein bekannter Fernsehkomiker – nach seiner verschwundenen Tochter und seinem verloren gegangenen Humor sucht. Ismael führt Mathilde – auch mit amourösen Hintergedanken – durch die vielen Ebenen des Bahnhofs und erklärt ihr dessen Mikrokosmos. Die Biographien der Ladenbesitzer und Angestellten decken sich oft mit den realen Geschichten des Dokumentarfilms, oder sind ganz deutlich daraus abgeleitet. In deutlicher Abgrenzung zu „Géographie humaine“ baut Simon in „Gare du Nord“ immer wieder kleinere fantastische Momente ein, um – wie sie sagt – den Bahnhof auch als mythischen oder rituellen Ort zu zeigen.

Am Festival wurden die Filme nicht in einem Doppelprogamm gezeigt, sondern getrennt voneinander in den Programmschienen panorama documentary und panorama fiction. Wie Simon beim Publikumsgespräch erwähnte, wurde „Géographie humaine/ Human Geography“ vom Verleih leider nur für Festivals freigegeben und soll jenseits dieser nicht gezeigt werden. Was sehr schade ist. Nicht nur, dass es ein spannender Versuch wäre, die beiden Filme in einer Art „Double Feature“ zu vermarkten. Die Filme ergänzen einander komplementär, ja sie bedingen einander. Durch die weitaus stärkeren Möglichkeiten der Inszenierung und der Montage im Spielfilm schafft es „Gare du Nord“, ein vielschichtiges Abbild des Bahnhofs als Gebäude und als Ort zu konstruieren. Dieser erstreckt sich über unzählige Stockwerke. Viel stärker als in „Géographie humaine“ wechselt die Kamera zwischen den einzelnen Ebenen hin und her und macht die Vielschichtigkeit erlebbar. Der Fokus auf persönliche Geschichten und die unglaubliche Fülle unterschiedlicher subjektiver Blickwinkel der Interviewten in „Géographie humaine“ ergänzen den Spielfilm wiederum um eine tiefere gesellschaftspolitische Dimension.

Die hier vorgestellten Arbeiten können natürlich nur einen kleinen Bruchteil aus dem großen Angebot an Filmen abbilden, die dieses Jahr bei Crossing Europe zu sehen waren. „Eastern Boys“ (FR 2013) nimmt seinen Ausgangspunkt ebenfalls am Gare du Nord, in welchem der zurückhaltende Daniel ein Auge auf den jungen Marek geworfen hat. Mareks Besuch bei ihm entwickelt sich ganz anders als erwartet, wie auch der Rest des Films. „Shemtkhveviti Paemnbi/ Blind Dates“ (GE 2013) erzählt von der humorig-skurrilen Partnersuche unter Erwachsenen in Georgien. „Hayatboyu/ Lifelong“ (TR, DE, NL 2013) von Asli Özge und „Exhibition“ (GB 2013) von Joanna Hogg werfen auf sehr unterschiedliche Art einen Blick auf sehr ähnliche Geschichten. Gut situierte, bürgerliche Paare in ihren 50ern, deren Beziehungskrisen eine symbolische Inszenierung in ihren jeweiligen Wohnhäusern in Istanbul bzw. London finden. In „Violet“ (BE, NL 2014) muss Jesse mit ansehen, wie sein Freund in einer leeren Einkaufpassage erstochen wird. Was folgt, ist eine unglaubliche Kommunikationsleere in der Jesse mit seinen (Schuld-)Gefühlen alleine zurückbleibt.
In der Horrorfilm-Schiene versucht sich Horror-Altmeister Dario Argento in „Dracula 3D“ (IT, FR, ES 2012) an Bram Stokers Klassiker, während in „Død Snø 2/ Dead Snow: Red vs. Dead” (NO 2014) wieder einmal Nazi-Zombies auferstehen und in einer Art Reenactment mit Rotarmisten-Zombies kämpfen. Die visuell und musikalisch reiche Tradition des „Giallo“ der 1970er Jahre wird nach „Amer“ in „L’étrange couleur des larmes de ton corps/ The Strange Colour of Your Body’s Tears“ (BE, FR, LU 2013) zum zweiten Mal zur Basis eines formal strengen, halluzinatorischen Films von Bruno Forzani und Hélène Cattet.
Die Langzeitdoku „Vojta Lavička: Nahoru a Dolů/ Vojta Lavička: Ups and Downs“ (CZ 2013) begleitet den Musiker und Rom Vojta Lavička für 16 Jahre episodisch durch sein Leben. In seiner klaren-direkten Art gibt er einen Einblick in die zwiespältige Selbsteinschätzung seiner Rolle als prominenter Rom in der tschechischen Gesellschaft. Gonçalo Tocha begibt sich in „A Mãe e o Mar/ The Mother and the Sea“ (PT 2013) auf die Spuren der Fischerfrauen von Vila Cha, kann jedoch leider nicht mehr allzu viel von dieser Vergangenheit einfangen.

„Crossing Europe“ hat auch dieses Jahr wieder eine klare Handschrift in der Programmierung gezeigt. Das eine oder andere Mal äußert sich die zwar in allzu ähnlichen Mach- und Ausdrucksarten der Filme, die man geradezu als typische „Crossing Europe“-Filme bezeichnen könnte. Doch alles in allem besticht das Programm durch eine große Breite und Vielfalt, die dennoch einen klaren Zusammenhang hat und immer wieder die Möglichkeiten zum Querdenken eröffnet. Daher darf man sich freuen, wenn „Crossing Europe“ im April 2015 europäische AutorInnen-Filme wieder so kompakt in die Linzer Kinos bringt.

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Preise und Gewinner

Ein filmisches Kaleidoskop Europas

Ein filmisches Kaleidoskop Europas

Crossing Europe, das unglaublich sympathische Filmfestival in Linz, findet heuer zum elften Mal statt. Es wurde 2004 von Wolfgang Steininger, dem Betreiber des Moviemento- und City-Kino in Linz, und Christine Dollhofer, der vormaligen Leiterin der Diagonale in Graz, ins Leben gerufen. Dies geschah unter anderem in Hinsicht auf die Bewerbung der Stadt Linz als Europäische Kulturhauptstadt. Die wichtigsten öffentlichen Fördergeber sind die Stadt Linz, das Land Oberösterreich und der Bund. Zu den langjährigen Sponsoren zählen die Hypo OÖ und die Linz AG. Seit 2006 wird das Festival ebenso durch das Media-Programm der EU unterstützt und in den Jahren 2007 bis 2009 wurde Crossing Europe als wichtige Teilveranstaltung von Linz09 aus dem Budget der Kulturhauptstadt mitfinanziert. Erfreulich ist, dass sich das Festival über die Marke 2009 hinaus etablieren konnte. Es ist zu einem wichtigen kulturellen Faktor in Linz, in Österreich und der gesamteuropäischen Filmfestivallandschaft geworden. Dazu hat beigetragen, dass dieses Festival seit Beginn eine gut durchdachte Programmstruktur hat, in der sich die einzelnen Schienen gut ergänzen. Ebenso wichtig war die von Anfang an forcierte kluge Vernetzung mit lokalen wie auch europäischen Kulturinitiativen und -institutionen. Wer sich näher für die detaillierte Geschichte des Festivals interessiert ist findet hier alle Informationen.

Plakat Crossing Europea

Crossing Europe – Filmfestival Linz (c) Designwerk Linz/Foto: Gerhard Wasserbauer

Dieses Jahr werden von 25. bis 30. April werden 184 Filme aus 37 unterschiedlichen Ländern gezeigt. Ergänzt wird die sehr dichte Zusammenstellung an Filmen von unterschiedlichen Rahmenveranstaltungen. Der Name des Festivals ist seit dem ersten Jahrgang Programm. Als Wagnis bezeichnet die Festivaldirektorin Christine Dollhofer das Konzept, ein Filmfestival inhaltlich ganz auf Europa auszurichten. Doch genau diese präzise Fokussierung auf unabhängiges, exzentrisches AutorInnen-Kino ist die ungemeine Stärke des Festivals. Zwischen den Filmen entsteht so eine Vielzahl von Verknüpfungspunkten und oft verschmelzen die diversen Filme zu einem großen kaleidoskopischen Bild, dessen Facetten sich im Laufe der Festivalwoche immer wieder verschieben und verändern. Ganz so, wie es mit unserer alltäglichen Sicht auf Europa geschieht. Crossing Europe versucht jedoch nicht nur einen introspektiven Blick auf Europa zu werfen. So betont Christine Dollhofer, dass es in einigen Filmen des Festivals auch um die Vorstellungen jener geht, die ‚draußen’ sind und Europa als uneinnehmbare Festung oder als idealisierten Sehnsuchtort sehen.

Eine solche Außensicht bietet der Film „L’escale/Stop over“ von Kaveh Bakhtiari aus der Programmschiene European Panorama Documentary. Dies ist auch einer der sechs Eröffnungsfilme mit dem das Festival startet. Bakhtiari, ein in der Schweiz lebende Regisseur mit iranischen Wurzeln, dokumentierte über die Laufzeit eines Jahres das Leben seines Cousins in Athen. Dieser ist dort ohne Aufenthaltsgenehmigung und ohne gültige Papiere gestrandet und sein Leben besteht großteils aus einer ungewissen Zukunft und Warten.

Auf andere Weise nähert sich die oberösterreichische Regisseurin Ella Raidel in „Double happiness“ der Sicht von Innen und Außen. Ihr Film dokumentiert den Nachbau des Ortes Hallstatt in China und untersucht die Motivation und Hintergründe für dieses Projekt. Mit der eigenen (Linzer) Kulturszene beschäftigt sich „Texta in & out“ von Dieter Strauch, der die Hip-Hop-Formation Texta über das vergangene Jahr begleitet und filmisch porträtiert hat. Beide Filme laufen neben der Eröffnung in der Local Artists Reihe. Diese bildet das vielfältige und lebhafte Filmschaffen in Oberösterreich ab und zeigt, dass eine regionale Verankerung notwendig ist, um den Blick umherschweifen zu lassen.

Die Nachtsicht wiederum widmet sich dem europäischen Genre-Kino, oder genauer gesagt dem fantastischen Kino. Am Freitag kann man sich bei Álex de la Iglesias „Las brujas de zugrramurdi/witchting and bitching“ ein erstes Bild davon machen. Mit „Under the skin“ von Jonathan Glazer und „Un chateau en intalie/Ein Schloss in Italien“ von Valeria Bruni Tedeschi ist das European Panorama Fiction am Eröffnungsabend vertreten. In dieser Programmschiene laufen herausragende Arbeiten des eigenwilligen europäischen AutorInnen-Kinos, die keinen Platz im Wettbewerb haben. Denn dieser hat die klare, wie spannende Einschränkung nur Erstlings- oder Zweitlingswerke zu zeigen. So lassen sich im Wettbewerb immer wieder neue RegisseurInnen entdecken, während das Panorama die Kontinuität und Entwicklung vieler dieser FilmemacherInnen weiterschreibt. Ebenso könnte man die Programmschiene Tribute beschreiben. Diese ist heuer der britischen Filmemacherin Joanna Hogg gewidmet, die bereits zum dritten Mal in Linz zu Gast ist. Im Zuge dessen werden die beiden Filme „Unrelated“ und „Archpelago“ (2008 bzw. 2011 im Wettbewerb) noch einmal in Linz zu sehen sein. Komplettiert wird das Programm von ihrem neuen Langspielfilm „Exihibition“, sowie 3 Kurzfilmprogrammen. In einem ist ihr Studienabschlussfilm „Caprice“ zu sehen, in der Hauptrolle die junge Tilda Swinton. Ein umfassender Blick auf das diesjährige Programm findet sich hier.

Crossing Europe wird 2014 ca. 650 Film-, Presse- und Branchengäste zu Besuch haben. Dennoch versteht sich das Festival genauso stark als Publikumsfestival und ist sich dieser Rolle sehr bewusst. Die kompakte Größe des Festivals schafft eine Durchlässigkeit, die jederzeit Berührungs- und Austauschmöglichkeiten zwischen Publikum und Gästen ermöglicht. Bei den unterschiedlichen Rahmenprogrammen, wie bei den täglichen Partys auf der Nightline kommt man sehr schnell ins Gespräch. Diese spezielle Stimmung wird es hoffentlich auch dieses Jahr wieder geben. Gerade als Publikumsfestival hat Crossing Europe eine große Relevanz, weil es Filme, die leider allzu oft keinen Verleih mehr finden, dort hinbringt, wo sie hingehören: in einen Kinosaal.