Jackie Chan und die Primaballerina – ein Traumpaar mit Hindernissen

Jackie Chan und die Primaballerina – ein Traumpaar mit Hindernissen

Kennst du Jackie Chan? Eine wunderbare Parabel über Hoffnungen, Ängste und Freundschaft des Mezzanin Theaters aus Graz im Dschungel Wien

Der Dschungel Wien beherbergt noch bis zum 3. März das „18. internationale Szene Bunte Wähe Tanzfestival“. Ein einzigartiges Projekt, das weltweit keine Pendant aufzuweisen hat. Das diesjährige Motto „Der Traum vom Fliegen“ lässt Raum für insgesamt 25 Vorstellungen.

Einige davon haben wir uns angesehen und uns darüber unsere eigenen Gedanken gemacht.

„Kennst du Jackie Chan?“ – eine Inszenierung aus dem Mezzanin Theater aus Graz bezauberte durch Erwin Slepcevic und Yukie Koji in besonderer Art und Weise. Darin wird die Geschichte von zwei völlig unterschiedlichen Charakteren erzählt. Yukie – eine resolute Balletttänzerin mit einem gebrochenen Bein und der friedliche Erwin, der sich in der Rolle des Jackie Chan am wohlsten fühlt. Sie treffen in einem Krankenhaus, genauer gesagt in einem Krankenhausbett aufeinander und müssen sich erst einmal um ihren eigenen Platz darin raufen. In der Regie von Hanni Westphal und unter der Choreografie von Yukie Koji entwickelt sich eine vergnügliche, aber auch besinnliche Geschichte um die Träume und Ängste im Leben und um die Möglichkeit, auch unter widrigen Umständen eine neue Freundschaft zu finden.

Der schmächtige Erwin macht sein Handicap durch seine Kung Fu Gebärden wett und Yukie gibt ihren Traum vom Tanzen selbst mit einem Gipsbein nicht auf. Unter den Klängen des Türkischen Marsches von Wolfgang Amadeus Mozart übt sie wie besessen, auch wenn sie dabei immer wieder das Gleichgewicht verliert und hart auf dem Boden aufprallt. Erwin versucht, so gut es geht, ihr zu helfen, ist fürs Balletttanzen aber doch zu tollpatschig. Herrlich, wie er, ausgestattet mit Yukies rosa Tütü, den Tanz der vier jungen Schwäne von Tschaikowsky zum Besten gibt. Eine Nummer, die, egal in welcher Inszenierung, immer funktioniert und auch das junge Publikum laut zum Lachen brachte. Höchst ideenreich, wie er sich mit seiner Bettnachbarin während des Schlafes so auf der Liegestatt wälzt, dass am Ende, ohne dass sie selbst es merkten, die Schlafplätze vertauscht wurden.

Erwin Slepcevic und Yukie Koji in "Kennst du Jackie Chan" (c) Fabian Dankl

Erwin Slepcevic mit seinem köstlichen Schwanentanz (c) Fabian Dankl

Die Gegenüberstellung des Ballettsolos des sterbenden Schwanes und jenen Schrittkombinationen Erwins, die ganz von Jackie Chans Bewegungsrepertoire stammen, gibt den beiden Tanzenden die Gelegenheit zu wunderbaren Soli. Und die lange und schwierige gemeinsame Schlussnummer, in der Yukie Erwin mit vielen Hebefiguren wahre Flügel verleiht, zeigt, welch großes, und doch so unterschiedliches tänzerisches Können die beiden miteinander auf so beeindruckende Art und Weise vereinen können.

Ein wunderbares Stück, das nicht zuletzt auch durch die phantasievolle Ausstattung von Corinna Schuster mit dem wandelbaren Krankenhausbett rundum bezaubert.

Hierbleiber, Weggeher und Spaziergänger vertreiben sich die Zeit

Hierbleiber, Weggeher und Spaziergänger vertreiben sich die Zeit

„Bis bald“ – ein Stück über die Zeit für Kinder ab 3 von Bernhard Studlar im Dschungel Wien

Gelb von Kopf bis Fuß und blau von oben bis unten. So sehen sie aus. Der Hierbleiber und der Weggeher. Eigentlich ist es eine Hierbleiberin und eine Weggeherin. Und die machen, was Hierbleiberinnen und Weggeherinnen so machen. Hierbleiben die eine und weggehen eben die andere. Hierbleiben ist sooooo langweilig. Weggehen ist interessanter, denn da kann man an einer großen Maschine arbeiten. Stecker aus- und einschalten, mit der Maschine herumfahren, das macht viel Arbeit und die Zeit vergeht schnell. Aber beim Hierbleiben sieht es anders aus. Da muss man sich die Zeit vertreiben. Zum Glück kommt ein Spaziergänger vorbei. Mit einem grünen Hut, einem grünen T-Shirt und einer grünen Hose. Gemeinsam vertreiben sich die beiden die Zeit mit Äpfelessen und Zeitmaschinenbauen. Und damit, in die Zukunft versetzt zu werden. Gott sei Dank haben die Kinder auf ihren kleinen Fingern aufgestempelte Bärte, die sie sich unter die Nase halten können – und schon sehen sie aus, als ob sie mindestens 140 Jahre alt wären. Und der Spaziergänger glaubt nun allen Ernstes, dass die Zeitmaschine ihn in die Zukunft versetzt hat.

Anna Lisa Grebe, Mira Tscherne und Steve Schmidt schlüpfen im Stück „Bis später“ in die eben beschriebenen Figuren und erklären Kindern ab 3, wie das so ist mit der Zeit. Der Autor Bernhard Studlar hat dabei eine wunderbare Szene eingebaut, in der sich das Jetzt im schnell vergänglichen „Hick“ zeigt. Kaum da, ist es auch schon wieder weg. Zähneputzen dauert drei Minuten und ein Geburtstag geht viel zu schnell vorbei. Erfahrungen, die auch die kleinsten Besucherinnen und Besucher des Dschungel Wien nachvollziehen können. Die Zeit bleibt niemals stehen, außer, wenn alle drei musizieren. Los, aufwachen! Später, später…oder das Jahreszeitenlied in dem der Winter schon einmal zu Rinder wird, begleiten das Geschehen, sodass die Kinder im Rhythmus mitklatschen oder ein wenig verschnaufen können. Denn zu hören, dass „später bald vor gleich ist und kurz vor dann“ kann einen schon ganz schwindlig im Kopf machen.

Ein zauberhaftes Stück über die Zeit, mit einer fantastischen Zeitmaschine aus allerlei Zahnrädern, in der man sogar in einem Zeitloch stecken bleiben kann, wenn man nicht aufpasst. Was sind eigentlich 50 Minuten? Auf alle Fälle ganz, ganz schnell vorbei.

Weitere Termine hier: „Bis später“ im Dschungel Wien

Wer heiratet, ist selbst schuld

Wer heiratet, ist selbst schuld

„Die falsche Zofe“ von Pierre Carlet de Marivaux in einer Bearbeitung von Nicole Metzger als Ehewarnung im Theater Spielraum

Eine abgehalfterte Existenz, die trotz großer Lebensweisheit dennoch vor menschlichen Überraschungen nicht gefeit ist. Ein jugendlicher Herzensbrecher, der sich die Damen ausschließlich nach ihrer finanziellen Ausstattung aussucht. Eine liebesverblendete Gräfin, die ihre Liebesabenteuer mit Verträgen absichern möchte und eine reiche, junge Frau aus Paris, die sich als Chevalier verkleidet, um ihren Zukünftigen auf die voreheliche Probe zu stellen.

Das sind die vier Charaktere in „Die falsche Zofe“ von Pierre Carlet de Marivaux. Jenem beinahe vergessenen französischen Autor, der wie kein Zweiter die menschlichen Liebesbeziehungen, oder was man gemeinhin für solche hält, psychologisch gnadenlos sezierte. Schon vor einem Jahr war im Theater Spielraum dieser Ausnahmeautor mit einem Werk vertreten. Nach dem Stück „Der Streit“ ist es dieses Mal ein Spiel über vorgetäuschte Emotionen und der berechnenden Missachtung von Gefühlen. Wer heiratet, ist selbst schuld, könnte der Untertitel dieser Aufführung sein. Wie schon in der ersten Marivaux-Aufführung glänzt auch diese mit Wortwitz und schwindelerregenden Handlungsverläufen. Der Genuss daran rührt sicherlich auch aus einer Bewunderung für die schlagfertigen Dialoge, die man in ähnlicher Art auch in französischen oder amerikanischen Gesellschaftskomödien finden kann. Der Kitzel beim Zusehen besteht hauptsächlich aus der Erkenntnis, dass man selbst ein Streitgespräch nie in derart gewählten Worten führen könnte. Eine Bewunderung, die auch heute noch in vollem Maße dem Autor dieser kleinen Meisterwerke gehört.

Die Rolle des Trivelin scheint Christoph Prückner auf den Leib geschrieben

Marivaux´ brillante Denkkaskaden, die nicht nur zu seiner Zeit den gesellschaftlichen Rahmen sprengten, machen einfach Spaß. Dass sich dazu auch noch eine Inszenierung fügt, die diesen in den Vordergrund stellt, verdoppelt den Genuss. Christoph Prückner ist dafür maßgeblich verantwortlich. Mit seiner Figur des Trivelin, einem heruntergekommenen Diener, der sich durch seine vermeintliche Menschenkenntnis und damit zusammenhängende, kleine Erpressungen über Wasser hält, belebt er die Szenerie ungemein. Seine wunderbar komische Erzählung über die erdichteten amourösen Abenteuer der Gräfin mit dem Chevalier unter Zuhilfenahme von Flaschen, lässt das Publikum mehrfach laut auflachen. Dabei kommt ihm ohne Zweifel seine mittlerweile 25-jährige Theatererfahrung zugute. Die Blickkontakte mit dem Publikum wirken nie gekünstelt, seine elegante Aussprache, aber vor allem sein komödiantisches Talent, das er mit einer starken Bühnenpräsenz vereint, ergeben ein schauspielerisches Gesamtpaket, das man gerne kauft.

Dana Proetsch stöckelt in atemberaubenden Highheels als Gräfin über einen Laufsteg, der für sie die Bretter ihrer adeligen Welt bedeutet. „Savoir vivre“, was man im Deutschen noch am ehesten mit dem Wissen um die Etikette übersetzen kann, steht in ihrer Werteskala ganz oben. Sie ist mit einem schwarzen Bustier und einem ebensolchen Taftrock ausstaffiert, durch den jedoch ein Hauch von Goldschimmer blitzt, um auf ihre finanzielle Ausstattung hinzuweisen. Herrlich, wie sie sich geziert um die Gunst des Chevaliers bemüht – zurückhaltend aufgrund der ihr auferlegten Regeln und zugleich verärgert über das Nichtankommen ihrer Liebesbotschaft. Christian Kohlhofer, der sich als Lelio durch einen Vertrag an ihre Liebe gebunden fühlt, erscheint als hartherziger und schmieriger Liebhaber, dem jedoch die Intelligenz zu einem Liebesausstieg fehlt, bei dem er sich nicht in Schulden stürzen muss.

Sprechende Kostüme von superated Peter Holzinger

Seine rot geschminkten Augen zeugen von seiner Intrigenschaft genauso wie von seiner Habgier, die jedes Liebesgefühl verkümmern lässt. Die nur teilweise rot geschminkten Augen von Madame wiederum sind eine proportionale Entsprechung dieser alles berechnen wollenden Beziehung. Superated Peter Holzinger, der für die Ausstattung sorgte, hat hier einen wunderbaren Querverweis auf die letztlich doch sehr ähnliche seelische Interessenlage der beiden Figuren geschaffen. Auch in Katharina Köllers Kostüm findet sich die Erklärung ihrer Motivation, in das Spiel um die Liebesverwirrungen einzusteigen. Ganz in Cremeweiß und Silber ist sie eine perfekte Antipodin für Lelio, dessen schwarzes Hemd, schwarze Kniebundhose und vor allem seine schwarzen Lackstiefel Rückschlüsse auf seine verderbte Handlungsweise geben. Weiss steht hier weniger der Unschuld als vielmehr der Intelligenz der falschen Zofe alias des Chevalier geschuldet, mit der sie ausgestattet ist. Und die Farbe Silber deutet von ihrer weniger noblen Abkunft als die Gräfin, wenngleich das intensive Glitzern ihrer Schuhe auf ihren größeren Reichtum verweist.

Bezüge zum Hier und Jetzt

Dass das Spiel nicht im Gestern verhaftet bleibt, dafür sorgt nicht nur jene Barmusik, die zeitweise das Geplänkel und Gezänk von Lelio und seiner Gräfin untermalt, sondern auch das eingangs gespielte Video von Reinhold Kammerer. Darin wird in rascher Schnittfolge eine witzige Collage von menschlichen Befindlichkeiten rund um das Thema der Ehe und Liebe präsentiert, das so manche gesellschaftlich anerkannte Absurdität demaskiert. Svetlana Schwin ist für eine Lichtführung verantwortlich, die den Raum gekonnt punktuell auch über das Hauptgeschehen auf der Bühne in Szene setzt. Trivelin, aber auch die Gräfin und Lelio versinken im letzten Bild gerade so im Dunkel, dass die Trostlosigkeit ihrer gebrochenen Herzen und die Nichterfüllung ihrer Träume dadurch eine sinnbildhafte Entsprechung erfahren.

Das Ende, das mit keinem Sieger und keiner Siegerin aufwartet, ist nicht nur für barocke Zeiten ein gewagtes. Wer sieht sich schon gerne mit Verlierern konfrontiert? Pierre Carlet de Marivaux, von dessen Leben nur einige markante historische verbriefte Stationen bekannt sind, scheute sich nicht vor einem solchen Schluss. Und macht damit sein Werk zeitgeistiger als jeder verkitschte Liebesroman der aktuell Millionenauflagen erzielt.

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Dämonen werden gezüchtet

Dämonen werden gezüchtet

Talk to the Demon von Wim Vandekeybus mit seiner Truppe Ultima Vez als bildgewaltige Nachdenkanimation im Tanzquartier

Ohrenbetäubender Lärm erfüllt den Raum, immer wieder kurz aufflammendes, grelles Licht markiert Explosionen, Menschen laufen schreiend durcheinander, erheben die Arme und ballen ihre Fäuste. Wir befinden uns im revolutionären Ausnahmezustand.

Ein kleiner Junge klettert auf den Rücken eines jungen Mannes und befiehlt ihm, sein Pferd zu sein. Die übrigen anwesenden Erwachsenen degradiert er im Befehlston zu Kühen. Triumphierend lässt sich der Dreikäsehoch – einen Cowboy imitierend – über die Bühne tragen und versucht, die kuhgleichen Menschenviecher mit seinem Lasso einzufangen.

Ein hoch gewachsener Mann mit strähnigen, blonden Haaren erzählt mit raumfüllender Theaterstimme von seinen Kriegserlebnissen als General. Berichtet von den Verwundungen und Verstümmelungen der Soldaten, während neben ihm wie selbstverständlich Männer und Frauen in Zweierkombinationen tanzen. Es ist der Sprechrhythmus der Kriegserzählung, der von ihnen aufgenommen wird und in den sie ihre Bewegungen einbetten. Mit allen Pausen, allen bedrohlichen Anschwellungen und leisen Untertönen – all das spiegelt sich in ihrer Choreografie zeitgleich wieder. Der schwarze Junge, mit dem der Mann eigentlich vorhatte General zu spielen, ist längst vergessen. Die Übermacht des eigenen Egos lässt kein Gegenüber zu.

Unschuld und Schuld von Kindern und Erwachsenen

Dies sind nur drei Szenen aus vielen, die der Choreograf Wim Vandekeybus in seinem neuen Stück „Talk of the Demon“ mit seiner Truppe „Ultima Vez“ vorführt. Drei Szenen, die stellvertretend für jenes Konvolut an Bildern aufgezählt werden kann, mit dem das Publikum an diesem Abend im Tanzquartier in Wien förmlich überschwemmt wird. Eine durchgehende Geschichte erzählt der belgische Ausnahmekünstler, der unter anderem auch für den besonderen Einsatz von Musik in seiner Arbeit bekannt ist, nicht. Vielmehr bietet er lose aneinandergereihte Auftritte an, die dennoch auf einen gemeinsamen Sinn-Nenner zu bringen sind: Evoziert er doch das Nachdenken über kindliche Unschuld, kindliche Tyrannei, erwachsene Hilflosigkeit bis hin zu einem Aggressionsverhalten, das die Beschädigung, ja sogar Tötung von Menschen miteinschließt. Was die Musik betrifft, so bricht Vandekeybus mit dieser Produktion drastisch mit seinen bisherigen Gewohnheiten. Denn Musik, die gibt es an diesem Abend nicht. Allenfalls ein hoch artifizielles, aber effektives Geräusch-Surrounding, das Wohlklang und Dissonanzen adäquat ersetzt.

„Was soll das sein? Ist das noch Theater? Dafür haben Sie bezahlt?“ wird das Publikum während des Stückes einmal von der Bühne her gefragt. Und tatsächlich wird, nicht nur in diesem Moment, ganz im Sinne einer Einbindung versucht, die Grenze zwischen den Aktiven auf der Bühne und den nur passiv Zusehenden zu durchbrechen. Dafür begleiten auch gleich zu Beginn zwei Kinder, ein kleiner weißer Junge und ein ein paar Jahre älterer dunkelhäutiger, einen der Akteure. Der stellt dann auch prompt die Frage, wer denn von den beiden Kindern an diesem Abend aktiv teilnehmen soll. Der Abstimmung im Publikum enthalten sich erstaunlicherweise viele. Vielleicht, weil sie schon durch verschiedene Trailer von dieser Befragung Kenntnis haben, vielleicht aber auch, weil die Frage angesichts der Anwesenheit der beiden Jungen anmaßend ist. Später wird die Publikumsentscheidung von Jerry Killick, dem ein Hauptpart in der Show zufällt, als falsch deklariert werden. Als etwas, das man in gutem Glauben herbeiführte, was sich aber letztlich aus seiner Sicht ins Negative kehrte. „Ein Bühnengesetz sagt, man solle nie mit Kindern oder Tieren auftreten, dieser Junge ist aber beides“, schiebt er noch eine Belehrung nach und tatsächlich ist es der kleine, zarte Luke de Bolle, dessen Diktat sich die Tänzerinnen und Tänzern zumindest scheinbar unterwerfen.

Monster werden gezüchtet

Grandios gestaltet sich dabei jene Szene, in der Elena Fokina als gesichtsloses, zottelhaariges Monster dem verängstigten Luke erscheint. Mit der Körpersprache eines wilden, wenngleich desorientierten Tieres, versucht sie beständig, den Buben zu fangen. Sein versuchter Ausbruch aus dieser irrealen Traumsituation wird nur mit einer noch bedrohlicheren beantwortet. Hinter dem Vorhang wartet auf ihn ein Riesenmonster. Schließlich sind es zwei zentrale Fragen, die der kleine Schauspieler stellt, um die sich das gesamte Universum dieser Aufführung dreht: „Do you love me?“ und „When will I die?“ Zwei elementare, lebensbestimmende Fragen, mit denen sich jeder Mensch konfrontiert sieht. Die Zurückweisung von Liebe endet – wie plastisch vor Augen geführt, in permanenter Gewalt; die Nicht-Auseinandersetzung, die permanente Verdrängung des eigenen Todes hingegen in seelischen Deformationen. Beides wird in Überfülle gezeigt. Menschen, die andere einsperren, zu Tode prügeln, mit Steinen wutentbrannt gegen eine Mauer werfen und solche, die wie Marionetten an Gummifäden hängen, ohne zu erkennen, wie sehr sie einer gesellschaftlichen Abhängigkeit unterliegen. Vandekeybus zeigt aber auch das Herdenverhalten von Menschen und mehrfach dabei jene Momente, in denen Gewalt wie ein Funke von einem zum anderen überspringt. Seine menschlichen Dämonen kommen aber nicht von ungefähr, denn sie werden regelrecht gezüchtet. Ob bewusst oder unbewusst spielt dabei nur eine sekundäre Rolle.

Samuel de Lille, der schwarze Junge, der zu Beginn abgewählt worden war, erscheint im Laufe des Abends wieder und sät im Nu reihum ein schlechtes Gewissen. Seinem Wunsch, nach seinem Tod ein Clown zu sein, wird dramaturgisch entsprochen. Das letzte Bild, mit dem sich die Truppe verabschiedet, könnte eindringlicher nicht sein. Pierrots und Clowns, getaucht in tiefes, rotes Licht, betreten die Bühne zaghaft, ja ungläubig und schauen um sich. „Das soll Theater sein, was wurde hier gespielt?“, scheinen sie sich zu fragen. Eine Referenz auch an das historische Kostüm-Theater, das hier noch einmal wie aus fernen Zeiten zumindest für wenige Minuten lang aufglüht.

Einziger Wermutstropfen des Abends war eine gefühlte Überlänge in der zweiten Hälfte, hauptsächlich hervorgerufen durch die Kriegsschilderung von Jerry Killick. Eine Straffung hätte hier auch dem inhaltlichen Zusammenhalt des Stückes gut getan. Gala Moody, Yassin Mrabtifi, Luke Jessop und Manuel Ronda waren die weiteren Tänzerinnen und Tänzer, die, so wie man es von Ultima Vez Auftritten kennt, bis an die Grenze ihrer physischen Belastbarkeit gehen mussten.

Ein intensiver, bilderreicher Abend mit choreografischen Höhepunkten und vielen gedanklichen Pfaden, die dem Publikum als Interpretationsangebote gelegt wurden. Dass es deren mehrere gibt, macht auch den Reiz dieser Produktion aus.

Alles auf die Bühne!

Alles auf die Bühne!

„Symposion“ von Elisabeth B. Tambwe wurde im Tanzquartier Wien uraufgeführt. Ein Lehrstück über vorgefasste Meinungen und versteckte Realitäten

Bei vielen Menschen aus dem Publikum herrscht erst einmal Irritation. Die Sitzreihen sind mit Bändern abgesperrt, der Weg führt nicht in einen bequemen Stuhl, in dem man sich zurücklehnt und abwartet, was passiert. Vielmehr findet man sich unversehens mitten auf der Bühne. Gemeinsam mit Bühnentechnikern, Adriana Cubides, Radek Hewelt und Elisabeth B. Tambwe.

Letztgenannte liebt es, das Geschehen rund um eine Tanzperformance zu hinterfragen, zu dekonstruieren und Erwartungshaltungen des Publikums zu brechen.

Wer nicht krampfhaft nach zusammenhängenden Inhalten sucht, wird belohnt

In ihrem neuesten Stück „Symposium“, das im Tanzquartier Wien uraufgeführt wurde, kommen all jene auf ihre Kosten, die sich rasch von vorgefassten Ideen im Kopf, was denn Tanztheater sei, befreien können. Eine Sensation folgt der nächsten, einen roten Faden vermisst nur der, der ihn krampfhaft zu suchen beginnt. Da bezaubert und verblüfft gleich zu Beginn die zarte Cubides mit einer furiosen Choreografie mit, auf und unter einer kleinen Stehleiter. Wie sie mit ihr verwächst, über die Bühne hoppelt, sich mithilfe eines T-Shirts an sie bindet, ist sehenswert. Gut, dass man nahe neben ihr stehen kann. Während sie an ihrer akrobatischen Einlage arbeitet, stopft sich Radek Hewelt eine Unmenge an Papier in sein Kostüm. Bald sieht er aus wie ein Muskelprotz, der sich ungeachtet einer Verletzungsgefahr wild in allen möglichen Positionen auf den Boden wirft. Tambwe ist damit beschäftigt, das Publikum zu platzieren und mit einzelnen ein kurzes Gespräch zu führen.

Spätestens zu diesem Zeitpunkt ist klar: Das was hier zu sehen ist und noch sein wird, hat nur bedingt mit den herkömmlichen Gesetzen eines Tanzabends zu tun. Elisabeth B. Tambwe, geboren im Kongo, aufgewachsen in Frankreich, lebt und arbeitet seit einigen Jahren in Wien. Mit Robyn Orlin oder Faustin Lyniekula, um nur zwei Bekannte aus der Tanzszene zu nennen, hat die resolute Tänzerin und Choreografin schon zusammengearbeitet. Auftritte in Frankreich, Belgien, Holland und Österreich hat sie bereits absolviert. In „Symposium“ zeigt sie zu Beginn eine Situation, in der das Ensemble für einen Auftritt eigentlich noch gar nicht bereit ist. Diese Situation hält durchgehend an. Zwar dürfen die Zusehenden nach einer Zeit doch auf den Stühlen Platz nehmen, das heißt aber nicht, dass sie dort auch in Ruhe gelassen werden.

Tambwe fordert von ihren Tänzerinnen und Tänzern Einsatz bis zur Verausgabung. Besonders in jener Szenerie, in welcher sie ihre eigene Profession kräftig aufs Korn nimmt. Schneller, schneller, intensiver, intensiver feuert sie die beiden Agierenden an und treibt sie von links nach rechts immer wieder und wieder über die Bühne. „Brich in Tränen aus“ verlangt sie von Hewelt, der nicht mehr als ein betroffenes Gesicht zu machen imstande ist. Dabei bekommt man einen Eindruck davon, wie sehr die Ausbeutung im Tanzbetrieb zur Realität geworden ist. Zählt man das klassische Ballett dazu, dann sollte man nicht vergessen, dass diese Ausbeutung immer ein Teil des Betriebes war. Tambwe macht jedoch sichtbar, was tunlichst kaschiert wird.

Tambwe, Tänzerin und Choreografin zwischen den Welten, kritisiert mit eindrucksvollen Bildern und Aktionen

Das gelingt ihr auch mit der Verteilung von Porno-Heften aus den 80er Jahren. In jedes einzelne hat sie zu den masturbierenden Protagonistinnen Sprechblasen montiert, auf denen eine Rede von Nicholas Sarkozy nachzulesen ist. Gehalten 2007 in Dakar, ist sie laut Tambwe genauso pervers, wie die Abbildungen in den Heften selbst. Shit zu shit sozusagen und tatsächlich stockt einem der Atem, beginnt man alleine schon die ersten Zeilen dieses unsäglichen Pamphlets zu lesen. Mehr Imperialismusgehabe, Kulturchauvinismus und westliche Überheblichkeit ist kaum möglich. Auf einer Leinwand verschlingt eine Boa Constrictor in unglaublicher Geschwindigkeit ein schwarzes Tier. Eine grauenhafte und einprägsame Metapher, die weit über diesen Abend im Kopf bleibt. Zeigen, was normalerweise versteckt wird, könnte man als ein Motto aus dem Abend filtern. Ob es das gemeinsame Betrachten von Pornoheften ist, wie es das Publikum tut, nachdem es diese ausgehändigt bekommen hat, ob es stilisierte Masturbationen sind oder ob es der kontinuierliche Aufbau eines Objektes ist, das erst ganz zum Schluss für wenige Minuten zum Einsatz kommt.

Die Zurschaustellung des Zustandes der Hoffnungslosigkeit und Desillusionierung, in die sich Hewelt vor einem Mikrofon begibt, oder der Schlussauftritt von Cubides, in welchem sie nackt hüpfend dem Publikum von ihren Erfahrungen in diesem Zustand berichtet – es sind immer Aktionen, die nicht nur unerwartet auftreten, sondern teilweise auch solche, die eine gehörige Portion Mut brauchen, um sie darzustellen. Oder auch eine gehörige Portion Kreativität. Das lässt sich ganz einfach mit der Frage an sich selbst verifizieren, wie man selbst denn Hoffnungslosigkeit dargestellt hätte. Nicolâs Spencer, Spezialist im Bauen von „komplizierten, ungewöhnlichen und unpraktischen Maschinen“, wie man aus dem Programmheft entnehmen kann, schuf während des Abends ständig sichtbar, eine große, aus verschiedenen Holzbalken zusammenmontierte Skulptur. Darin wurden alle möglichen Versatzstücke aus den verschiedenen Szenerien mit verwoben, ein sichtbares Amalgam, das vergängliche Bewegung und Aktion konserviert.

Elisabeth Tambwe fordert ihr Publikum auf, hinter die Kulissen zu schauen. Sie möchte vorgefasste Meinungen im Kopf aufbrechen, eventuelles Schubladendenken zerstören und bietet den Menschen dabei die Möglichkeit, eine ganze Reihe an neuen Erfahrungen zu machen. DenTransfer außerhalb des Kulturbetriebes – die Möglichkeit, Menschen ohne Ressentiments und unvoreingenommen zu begegnen – muss letztendlich jede und jeder für sich selbst bewältigen.

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