Aladin und die Wunder seines Smartphones

Aladin und die Wunder seines Smartphones

„Ich bin O.K“, der Kultur- und Bildungsverein der Menschen mit und ohne Behinderung präsentierte mit über 110 Teilnehmenden das orientalisches Märchen, das gekonnt in die Jetzt-Zeit transferiert wurde.

Wie könnte die Geschichte von Aladin und seiner Wunderlampe heute erzählt werden? Der Verein „Ich bin O.K.“, der seit dem Jahr 1979 ein Bildungs- und Kulturangebot für Menschen mit und ohne Behinderung anbietet, präsentiert in seiner neuesten Produktion „Aladins Erkenntnis“ nicht nur die Geschichte von Aladin und seinem dienstbaren Geist Dschinn. Darin werden am Ende des Stückes dem Publikum aber auch allen Beteiligten Ratschläge für ein gelungenes Leben mitgegeben.

Bis es allerdings soweit ist, erlebt die Hauptfigur Aladin (alternativ mit Alex Stuchlik und Mike Brozek besetzt) allerhand selbst hervorgerufene Abenteuer. Sein Geist kommt jedoch nicht aus einer Wunderlampe, sondern einem Smartphone. Stets hurtig und auf Anruf parat, erscheint Johnny K. Palmer in weiß-grauem Bodysuit mit silbern glänzendem Hut, um seinem Herren jeglichen Wunsch zu erfüllen. In giftig-grünlichen Nebel getaucht, ist er ein wahrer Sympathieträger dieser Figur und gibt zusätzlich einige, von ihm selbst komponierte und getextete Songs zum Besten, die sich auf die Wünsche Aladins beziehen.

Die über 110 Tänzer bzw. Tänzerinnen treten in einzelnen Szenen auf, wobei sie durch eine spezielle Farbsymbolik verschiedene lebens- und charakterbildende Bausteine symbolisieren. Wissen, Gesundheit, innere Freiheit, Entwicklung, Fröhlichkeit, Selbstvertrauen, Freundschaft, Bescheidenheit, Liebe, innere Kraft und Kreativität werden so in unterschiedlichsten Choreografien anschaulich gemacht. Ein aufwändiges Bühnenbild (Fam. Röper, Jakob Kraus) und farbenprächtige Kostüme von Carmen Little und Karin Oébster (Kayiko) machen die Inszenierung richtig kostbar.

Dabei steht eines sichtbar im Vordergrund: Die Freude an diesem Projekt, der Spaß, auf der Bühne zu stehen, ob in feinen Abendkleidern oder lustigen Cowboykostümen. Da wird zwischendrin ins Publikum gewinkt und die Leute zum Mitklatschen animiert. Da sitzen die Kleinsten als Elfen und Insekten mit Flügelchen auststaffiert nach ihrem Auftritt auf der Bühne und schauen ernst bis heiter aber unglaublich berührend in die Runde. Da lachen die Herren im Rollstuhl aus vollem Hals, während ihre fahrenden Hilfsgeräte quer über die Bühne sausen, dass man genötigt ist, bei diesem Spass mitzulachen. Aber es werden auch ernsthaft Schritte gezählt, versucht, Anschluss an den Vordermann oder die Nebenfrau zu halten und das ein- oder andere Mal ist der Abgang hinter die Bühne eine richtige Herausforderung. Wo geht’s da eigentlich hinaus? Diese Frage kann man an den Gesichtern ablesen und in diesem Moment zugleich die große Leistung der Menschen mit Downsyndrom nachempfinden, die dieser Bühnenauftritt für sie darstellt.

Die immer stärker werdende Fokussierung auf elektronische Hilfsmittel wie Smartphones beschäftigte die Truppe sehr. Aus diesem Grund wurde auch ein Auftritt eingebaut, bei dem die Menschen sich nur mehr wie Roboter fortbewegen und keine Notiz mehr voneinander nehmen. Die Tänzerinnen und Tänzer von „Ich bin O.K.“ bringen ihre eigenen Ideen zu jeder Produktion mit, wie auch in der letzten Produktion „Getrennt – vereint“. „Bereits während der Proben durften wir in eine Welt eintauchen, die durch ihren ungewöhnlichen Humor und ihre facettenreiche Fantasie geprägt ist.“ Dieses Statement von Hana & Attila Zanin, die die künstlerische Leitung des Vereines innehaben, zeigt, dass dieses Projekt nicht nur mit, sondern vor allem auch aus den Teilnehmenden selbst heraus entsteht. Eine wunderbare Superman-Persiflage in der in einer Videosequenz Aladin in den Weltraum fliegt und das Abheben einer Rakete in die zuvor die Tänzerinnen und Tänzer einstiegen, bringen zusätzlichen Bühnenzauber ins Geschehen.

Am Schluss erkennt Aladin, dass sein eigenes Ich, seine eigenen Fähigkeiten und sein eigenes Können das ist, was ihn wirklich ausmacht. Keine noch so tolle App mit einem dienstbaren Geist, kein Geld der Welt und keine überzogenen Wünsche.

„Ich bin O.K“ möchte die Begeisterung ALLER für Tanz und Theater entfachen und damit zu einer besseren Lebensqualität beitragen! – ist im Programmheft zu lesen. Für 90 Minuten gelingt dies auf eine Art, die herkömmliches Tanztheater nicht bieten kann. Gibt die Aufführung doch auch einen kleinen Einblick in die Welt von Menschen, die mit einer Spontanität und einer Herzlichkeit ausgezeichnet sind, wie wir diese bei Personen ohne Behinderung kaum einmal finden. Auf einer Bühne stehen, im Mittelpunkt des Publikumsinteresses; zeigen, was man durch die eigene Leistung mit seinem Körper ausdrücken kann; erfahren, wie sich tosender Applaus anhört und anfühlt. Das alles bietet der Verein mit seinem Tanzstudio und seiner Dance Company. Und anlässlich eines Auftrittes wie diesem Menschen ohne Behinderung jede Menge neue Erkenntnisse.

Link: „Ich bin O.K.“

 

Lass das Klopfen sein

Lass das Klopfen sein

Eszter Salamons Stück „Monument 0: Haunted by wars (1913-2013) präsentierte sich im Tanzquartier Wien als dunkles Stück Menschheitsgeschichte aber mit einem Fünkchen Hoffnung.

Es ist so finster, dass der eigene Herzschlag hörbar wird. Und eine sanfte, afrikanische Melodie. Von wem und woher bleibt vorerst unbestimmt. Die Bühne, ganz im schwarzen Nichts (Lichtregie Sylvie Garot), gibt einzelne Umrisse nur schemenhaft wieder. Die Augen müssen sich erst an diesen Ausnahmezustand gewöhnen. Bis er vor uns steht. Dieser große Mann, der so groß ist, dass man sich fragt, ob er ein Mensch aus Fleisch und Blut ist. Mit dieser Frage ist man schon ganz nah am Geschehen. Denn in der neuen Arbeit von Eszter Salamon sind es zwar Menschen aus Fleisch und Blut, die vor dem Publikum tanzen. Sie aber verkörpern alle miteinander nicht das Leben sondern den Tod. Wieder ist es ein Stück, das sich im Tanzquartier Wien zumindest ansatzweise mit dem Ersten Weltkrieg befasst, wie schon zuvor „uncanny valley“ von Paul Wenninger und damit dem Gedenkjahr 2013 etwas verspätet Tribut zollt.

In Monument 0: Haunted by wars (1913 – 2013), so der Titel der neuen Inszenierung, schafft es die Choreografin, das seit dem Mittelalter bekannte Motiv des Totentanzes aus einer neuen Perspektive zu beleuchten. Der personifizierte Tod steht den Menschen näher als sein abstrakter Begriff. Er ist es in ihrer Vorstellung, der sie zu sich holt, erlöst oder auch mitten aus dem Leben reißt. Er tanzt in mittelalterlichen Handschriften und auf bunten Fresken mit jungen Mädchen und alten Frauen, eng umschlungen, damit sie ihm nicht mehr entkommen und in einer Art und Weise, die mehr als Verführung denn als Heimholung empfunden werden kann.

Insgesamt sechs Personen verkörpern bei Salomon diesen Grauen erweckenden Gesellen. In manchen Szenen bedrohlich, dann wieder melancholisch oder sogar erheiternd. Ein ums andere Mal verlöscht das Licht, um wieder eine neue Spielart eines Totentanzes zu präsentieren. Mit Menschen, die in eng anliegenden Anzügen (Vava Dudu) auftreten, auf denen zumindest stilisiert Gerippe erkennbar werden. Ihre Gesichter sind die meiste Zeit über hinter weißen Totenschädelmasken verborgen. Ihre Gebärden folgen ihrem Atem – beinahe das einzige Geräusch an diesem Abend. Musik ist ein Elixier der Lebenden. Salomons Gestalten kommen ohne sie aus, geben den Takt alleine durch ihre lauten Atemstöße von sich.

Tote tanzen Tänze aus vieler Herren Länder

Afrikanische Stammestänze, Irish Dance, alpenländlerische Schuhplattler oder balinesische Tempeltänze; all das und noch viel mehr ist während der unterschiedlichen Auftritte zu erkennen. Sie versinnbildlichen all jene Länder, die durch den ersten Weltkrieg in Mitleidenschaft gerieten und auch heute noch an dessen Spätfolgen zu tragen haben. Ab und zu trägt eine der Tänzerinnen einen Rock, ab und zu kommen Stöcke zum Einsatz. Doch meist benötigt es keine Requisiten, um alleine, zu zweit oder auch in der Gruppe zu tanzen. Nach vorgegebenen Tanzmustern und Choreografien. Nichts ist dem Zufall überlassen, das, was gezeigt wird, sind Tänze, die sich in den unterschiedlichsten Ländern oft über Jahrhunderte herausbildeten und zum jeweiligen Kulturgut gehören. Wie aus dem Titel ersichtlich, behandelt die ungarische Choreografin, die schon mehrfach mit ihren Arbeiten in Wien zu sehen war, das Thema der Millionen von Menschen, die in den letzten 100 Jahren in Kriegen ihr Leben lassen mussten.

Salamon tut das auf eindrucksvolle Art und Weise. Nicht nur, dass sie den Toten zumindest ihre kulturelle, wenn nicht schon explizit nationale Identität zurückgibt. Sie macht auch deutlich, mit welcher Vehemenz der Tod seine Opfer auf dem Schlachtfeld oder rundherum einforderte und das noch immer tut. Und wieder ist es eine afrikanische Melodie, die hörbar wird. Die sich verdichtet, und plötzlich von allen im Chor gesungen wird. Afrika ist jener Kontinent, der ohne Krieg offenbar nicht existieren kann. Das machen auch die vielen Schilder am Ende der Vorführung deutlich auf denen jeweils das Anfangs- und Endjahr eines Krieges verzeichnet ist. Viele dieser Schilder weisen aber nur ein Datum auf was bedeutet, dass der Krieg noch nicht abgeschlossen wurde.

Nach und nach sind es einzelne Gestalten, die sich von Toten zu Lebenden wandeln. Lebende, die mit den Toten in Reih und Glied tanzen, aber auch solche, die solistisch auftreten. Wie jener schwarze Mann, der schon zu Beginn das Staunen des Publikums auf seiner Seite hatte. Eingehüllt nun in weiße Gewänder mit einem überdimensional großen Hut auf dem Kopf mäht der hünenhafte Corey Scott-Gilbert sukzessive die meisten Kriegsschilder um. Er tut dies im Takt, der ihm von einer Frau vorgegeben wird. Mit einem harten Stöckchen klopf sie ihn auf eine Flasche, sodass dies ein blechernes und eindringliches Geräusch ergibt, das den Mann beständig in seiner Raserei weitertreibt. Der Tod kennt also kein Erbarmen und folgt seinem eigenen, ufer- und endlosen Rhythmus. Bis schließlich der Mensch auf der Bühne, der zuvor ohne Rücksicht auf Verluste durch alle Schlachtfelder trampelte, zur Besinnung kommt. Als ob er sagen würde „lass das Klopfen sein“, hört er nicht mehr darauf. Verloren steht er da, sieht sich an, was er gemacht hat und hört nicht mehr auf den klirrenden, einpeitschenden Rhythmus. Lässt sich nicht mehr ein auf eine den Kopf ausschaltende rhythmische Gehirnwäsche, sondern bestimmt selbst, nicht mehr weiter zu machen. Corey Scott-Gilbert, der schon mit William Forsythe, Jiri Jylian, Sasha Waltz, aber auch in einer Produktion des Cirque du Soleil auftrat, drückt dem Abend seinen unverkennbaren körperlichen Stempel auf. Groß, schlank, muskulös und ausgestattet mit einer Energie, die außerirdisch scheint, ist er sicherlich die optimale Besetzung für diese Rolle.

Es ist der Schluss, der das Stück von Eszter Salamon befriedet. Der ein kleines Fünkchen Hoffnung weitergibt an uns alle, die wir uns jederzeit aus freiem Willen entscheiden können, dem Kriegswahn nicht beizutreten oder aus ihm auszutreten, so er uns schon überrollt hat. Gleichzeitig wird klar, wie sehr der Krieg gerade Afrika heimsuchte und bis heute noch immer heimsucht. Wie sehr das Sterben dort zum alltäglichen Leben gehört während es bei uns in Europa leider nur fast gänzlich verschwunden ist.

Der abwesende Gott ist sichtbar

Der abwesende Gott ist sichtbar

Evgeny Titov inszenierte „Das Missverständnis“ von Camus im Max Reinhardt Seminar als das, was es ist: Ein existentialistisches Lehrstück

„Alles Unglück der Menschen kommt daher, dass sie sich nicht einer einfachen Sprache bedienen. Wenn der Held von Das Missverständnis gesagt hätte: «Ich bin es und ich bin dein Sohn», dann wäre ein Dialog möglich gewesen … Es hätte keine Tragödie gegeben, weil es wie in allen Tragödien nur die Taubheit des Helden ist, die diese Zuspitzung verursacht.“ Diese Zeilen stammen von Albert Camus, der darin kurz die Tragik seines Stückes „Das Missverständnis“ anreißt.

Am Max Reinhardt Seminar hat Evgeny Titov damit sein Vordiplom bestritten. Es ist nach dem „Schlangennest“ und „Elektra“ seine dritte Regiearbeit, die er im Rahmen seines Studiums ablieferte. Das Stück von Camus ist nicht ungefährlich, gibt es doch Inszenierungen, die das mordende Geschehen von Mutter und Tochter wie einen Krimi behandeln. Das wäre allerdings ein klares „Thema verfehlt“, denn schließlich ging es dem Autor um nichts Geringeres, als die von ihm begründetete Philosophie des Absurden zu veranschaulichen. In die Krimi-Falle tappte Titov in keiner Sekunde. Vielmehr legte er großen Wert, die Frage nach Gott, nach der Verantwortung des Menschen für sein Tun und nach der Absurdität des Todes klar zu beantworten, was der Intention des Autors absolut entsprach. Titov erzählt die Geschichte von Jan, der nach 20 Jahren unerkannt ins Haus seiner Mutter und Schwester kommt und von diesen schließlich ermordet wird, in ruhigem, unspektakulärem Ablauf. Prägnante Bilder, ein überaus intelligenter Musikeinsatz und mehrere unerwartete Regieeinfälle prägen den Abend.

Wagemutig setzte er in dem Stück Striche, wenngleich eigentlich jeder einzelne Satz von Camus im Original seine Berechtigung hat. Dies führte anfänglich zu einer Unschärfe der Figur von Maria (Liliane Zillner), der Frau des späteren Opfers Jan. Es sind nicht nur ihre letzten Worte, die auch am Schluss des Abends stehen, die von eminenter Wichtigkeit sind. Denn schon in der Einleitung des Stückes spricht sie aus, was Camus selbst für das Wichtigste in einer rein durch den Existentialismus geprägten Welt hält. Die offene und ehrliche Kommunikation. Durch ihre Sprachlosigkeit, die sie in Titovs Inszenierung zu Beginn zeigt, erklärt sich ihre Motivation, ihrem Ehemann nachzuspionieren, nicht wirklich. Tatsächlich ist die Anfangsszene nicht die stärkste, denn auch der Wutausbruch von Jan gegen seine Frau wirkt aufgesetzt und unerklärlich. Nach einem etwas holprigen Einstieg nimmt die Inszenierung jedoch Fahrt auf.

Ein starkes Bühnenbild, das die Aussage des Autors unterstützt

Die äußerst clever gestaltete Bühne (Nathalie Lutz) verweist in ihren angedeuteten verschachtelten Räumen auf unergründliche Seelenzustände. Es gibt keinen einladenden Platz. Ein weißes WC steht mittig im Vordergrund. Das darüber angebrachte architektonische Element, das eine asymmetrische Kreuzform zeigt, bietet einen optischen Verweis auf den kommenden Leidensweg von Jan. Eine Duschtasse, ein Plattenspieler, Wände, von denen die ehemals weißen Tapeten abblättern, Lutz gestaltete eine durch und durch unwirtliche Umgebung. In ihr hausen die Mutter (Saskia Klar) und deren Tochter Martha (Marie-Luise Stockinger) und warten auf den nächsten betuchten Gast, um ihn zu töten und sein Geld zu stehlen. Stockinger verkörpert zu Beginn eine völlig von ihrer Mutter abhängige Tochter, die das Töten nicht aus Lustbefriedigung treibt, sondern um aus der Öde, in die sie eingeschlossen ist, zu entkommen. Ein Haus am Meer ist ihr Traum. Das WC, das sie manisch putzt, wird später noch eine große Rolle spielen. Martha siezt ihre Mutter, wodurch der emotionale Abstand der beiden Frauen klar ersichtlich wird. Gekleidet in einen grauen, verschlissenen Wollmantel wird die Armseligkeit ihres Daseins zusätzlich noch betont. Saskia Klar hat die schwerste Rolle in der Konstellation am Max Reinhardt Seminar zu spielen. Eine alte, verhärmte und verbitterte Frau, die vom Leben abgenutzt keine Kraft und Energie mehr aufbringen kann. Ihr bodenlanger Cape-Mantel und ihre strenge Frisur erinnern stark an Elisabeth Flickenschild, die, in der Regie von Ludwig Cremer, in den 60er Jahren in einem Fernsehspiel in diese Rolle schlüpfte. Ein wahrlich schweres Erbe das die junge Frau hier antreten muss.

Lennart Lemster gibt den alten Knecht, dessen schicksalsträchtige Handlungen oder besser gesagt Nicht-Handlungen Titov sehr schön herausarbeitet. Er ist es, der zu einer Zeit den Pass von Jan in die Hände bekommt, als es noch möglich wäre, damit aufzuklären, dass sich hier der Sohn und Bruder im Haus befindet. Aber wie in einer antiken Tragödie nimmt im Stück von Camus das Schicksal seinen Lauf. Jan (Silas Breiding) muss bald erkennen, dass die emotionale Leere, die in die Bewohner des Hauses eingezogen ist, eine Preisgabe seiner Identität sinnlos machen würde. Der Regisseur bedient sich eines szenischen Einschubes, bei dem Jan mit seiner Schwester einen mechanischen Geschlechtsakt vollzieht. Nichts daran lässt auch nur einen Funken Lust erkennen, vielmehr weint Jan während der Kopulation ohne Unterlass. Ein kühles „Danke“ seiner Schwester danach macht klar, dass Jan nicht einmal durch den allerletzten Schritt eines Inzests sich in das Herz seiner Schwester einbrennen konnte. Die Familienbande bestehen nicht mehr.

Die Musik von Bach als Subtext zur Gottesfrage

Die eindringlichste Szene, in der Jan betäubt am Boden liegend von seiner Mutter in die Arme genommen und von seiner Schwester dabei nackt ausgezogen wird, zeigt einmal mehr, worin Titovs Stärke besteht. Es ist das körperbetonte Spiel, in dem Nacktheit nicht zu einem voyeuristischen Akt verkommt. Vielmehr verweist er dadurch auf jenen ungeschützten Seinszustand in dem nichts mehr beschönigt werden kann, sondern das Innerste eines Menschen mit seinem Äußeren deckungsgleich wird. Der alte Knecht stimmt während dieses Bildes, das christliche Konnotationen einer Pietà hervorruft, „erbarme dich mein Gott“ aus der Matthäuspassion an, um schon nach wenigen Takten rüde von Martha gestoppt zu werden. „Es reicht“, schleudert sie ihm entgegen. Gott existiert für sie nicht. Während sich Martha daran macht, die Verankerung der Kloschüssel aufzuschrauben, um den Körper ihres Bruder darunter in den Kanal gleiten zu lassen, löst der alte Knecht wortlos einen Tapetenfetzen nach dem anderen von der Stirnwand. Darunter kommen sie zum Vorschein: Die Namen jener, die zuvor durch die Hand der beiden Frauen den Tod fanden. Rudi, Viktor, Christoph, Felix, Max, Wilhelm, Oliver… Es sind so viele, dass man sie nicht zählen kann.
Geschickt operiert Titov mit dieser Geste, die, so unspektakulär sie auch seinen mag, einen umso größeren Gänsehauteffekt erzeugt.

Das Ende – der Suizid von Mutter und Tochter, deren Befreiung aus dem Zustand der Knechtschaft in Armut nur kurz andauerte und durch einen Kostümwechsel noch unterstrichen wurde, wird drastisch dargestellt. Marie-Luise Stockinger brilliert in allen Facetten ihrer Tochterfigur. Egal ob unterwürfig, befreit oder, wie zum Schluss panisch. Zillner darf im Abgesang noch nach Gott rufen, der prompt in der Gestalt des alten Knechtes erscheint. „Sie haben mich gerufen“ – ist sein erster Satz, den er in diesem Stück spricht, um gleich darauf seine Hilfe zu verweigern. Mit Bachs Fuge „Ich ruf zu dir, Herr Jesus Christ“, in einer Klavierinterpretation, endet das Spiel. Titov schließt den Kreis um die Gottesfrage damit ganz unaufdringlich. Er evoziert mit dieser letzten die Idee auch, dass sich zumindest die Musik und damit im übertragenen Sinn die Kunst als möglicher, wenn nicht sogar einziger Lebenssinn erkennen lässt. Gewiss eine individuelle Interpretation, aber gerade dieses Angebot, seine eigene Erfahrung in das Gesehene einbringen zu können, macht einen guten Regisseur aus.

Dosen sind zum Spielen da. Und Ketchup auch!

Dosen sind zum Spielen da. Und Ketchup auch!


 „Blechgeflüster“ vom Theater der Figur bezauberte die Allerkleinsten bei einem Gastspiel im Lilarum in Wien

Na das ist ja unglaublich, was diese bunten Dosen da so anstellen! Schau mal, die tanzt! Und die Blaue da, nein, das ist ja ein Blauer – der balanciert doch tatsächlich auf einem Seil. Hoch hinauf, zu seiner verehrten Gelben.

 Rot, gelb, weiß, grün und blau sind sie. Und zwei Augen haben sie und einen roten Mund. Klein sind sie und mittelgroß und gaaaanz groß, die bunten Dosen im Stück „Blechgeflüster“ vom Theater der Figur aus Nenzing in Vorarlberg. Mit dem musikalischen Theaterstück für Kinder ab 3 Jahren gastierte es im Lilarum in Wien und verzauberte das junge Publikum im Handumdrehen. Dabei beginnt doch alles ganz unspektakulär. Ein Mann geht in den Supermarkt einkaufen – Dosen klarerweise. Wieder und wieder kommt er, und die Dame an der Kasse macht, was alle Kassendamen so machen. Sie zieht eine Dose nach der anderen über die Registrierung, die jedes Mal laut piepst. Jedes Kind kennt diese Ausgangssituation. Hat es sie auch schon ungezählte Male selbst erlebt.

Doch dann geschieht etwas Unerwartetes. Die Kassierin steckt ihre Arme in zwei gelbe Dosen und beginnt ein kleines Dosenballett zu den Klängen einer Rumba. Jetzt ist der Alltagstrott durchbrochen und die Dosen sind unter der Patronanz von Sabine Wöllgens und Johannes Rausch die Hauptdarsteller in einer kleinen Revue. Sie schaukeln auf Wippen und heben damit in die Lüfte ab, versuchen eine Schräge zu erklimmen, ohne dabei abzurutschen, oder präsentieren unter Trommelwirbel einen Balanceakt. Als es der Blauen schließlich gelingt, das Seil hinter sich zu lassen und sich neben die verehrte Gelbe auf sicheren Boden zu stellen, applaudieren die Kinder laut.

Schwuppdiwupp – schon verändert sich die Szenerie zu einem Fußballfeld. Ganz wie in den großen Arenen erklingen Schlachtgesänge der Fans, aber auch eine feine Interpretation des international bekannten Fußballliedes Olé und gleich darauf die Melodie „Auf in den Kampf“ aus Bizets Carmen. Zwar haben die Kleinen hier noch keinen auditiven Wiedererkennungswert, aber den Erwachsenen macht eine so liebevoll gestaltete musikalische Begleitung natürlich großen Spaß. Matthias Bitschnau hat mit dieser Musik Witz und Feingefühl zugleich bewiesen.

Nach all diesem Dosengeplänkel geht es jetzt erst richtig zur Sache, denn auf der Bühne erscheint der eigentliche Herrscher über dieses bunte Blechreich – eine Ketchup-Flasche. Sie bringt gehörig Unruhe in die bunte Schar, schafft es aber schließlich doch, dass alle in Reih und Glied stehen und sich schrecklich vor ihr fürchten. Bis auf die Allerkleinste. Rot ist sie, so wie die Ketchup-Flasche selbst und vielleicht deswegen mit so viel Mut ausgestattet. Denn sie ist es nicht nur, die der Ketchup-Flasche Paroli bietet, sondern auch gegen die riesige Dosenquetsche in den Kampf zieht, die die bunten Freunde bedroht. Donner und Regenprasseln stimmen das junge Publikum darauf ein, dass jetzt ein dramatischer Augenblick kommt – und tatsächlich herrscht im Saal plötzlich Stille. In den ungleichen Kampf zwischen David und Goliath mischt sich schließlich doch noch die Ketchup-Flasche ein und rettet – in letzter Sekunde, das kleine Döschen durch wildes Bespritzen der Todesmaschine mit rotem Ketchup. Unter lautem Gejohle der Kinder – das versteht sich fast von selbst.

Im Anschluss an die Vorführung durften die Kleinen auf die Bühne und die blechernen Darstellerinnen und Darsteller auch angreifen. „Das sind ja richtige Dosen!“ rief ganz erstaunt ein Dreikäsehoch. Gibt es ein bezaubernderes Lob?

Unbekannte machen Angst

Unbekannte machen Angst

Eine Tänzerin und ein Mann mit einem Kontrabass betreten die Bühne. Staunen bei den Kindern. Nur wenige haben so ein großes Instrument schon einmal ganz nahe gesehen. Dann beginnt die Vorstellung, wie man es sich von einer Tanzperformance erwartet. Der Mann spielt, die Tänzerin tanzt. Wäre das alles, das Publikum, in diesem Fall Kinder im Alter zwischen fünf und sieben, wäre schon nach kurzer Zeit unaufmerksam. Aber dann geschieht es. Ein großes, weißes Monster erhebt sich und macht die Szenerie unsicher.

„Duo Duu“ nennt sich das Stück von Anu Sistonen, das von Dance Development aus Luxemburg anlässlich des 18. Tanzfestivals Szene Bunte Wähne im Dschungel Wien gezeigt wurde.
Darin erleben die Kinder, wie es ist, jemanden Fremden kennenzulernen, der anfänglich als Bedrohung erscheint, dann aber zum Freund wird. Genauer gesagt zur Freundin. Denn Jennifer Gohier und Julie Barthélémy tanzen zwei Mädchen, die Freundschaft schließen, von denen eines sich jedoch erst einmal aus der Monsterverkleidung herausschälen muss, nachdem es auch beim Publikum zuvor für wohlige Angstschauer sorgte.

Marc Demuth am Kontrabass beginnt nach einer Aufwärmübung mit einer rhythmisch klaren, klassischen Barockkomposition und spielt sich im Laufe der Vorstellung einmal quer durch die Musikgeschichte. Tanz steht neben der Erzählung, in der es um Freundschaftschließen, aber auch um einen gewaltigen Streit geht, im Vordergrund der Inszenierung. Im Mittelteil können die Kinder sogar nachvollziehen, wie Schrittkombinationen eingeübt werden und nach und nach ein komplettes Tanzstück daraus wird. Bis Julie Barthélémy genug hat und ihrer neuen Freundin kurzerhand das hübsche Kleid zerreißt. Die Reaktion des jungen Publikums macht deutlich, dass es sich mit dieser aggressiven Aktion, aber auch mit der wunderbar gespielten Trauer von Jennifer Gohier gut identifizieren kann.

Einen Fehler wieder gut zu machen, ist gar nicht leicht. Auch das wird in dieser Vorstellung vermittelt. Es dauert viele Entschuldigungsversuche und viele abgelehnte Geschenke, bis das Vertrauen zwischen den beiden wieder hergestellt ist und sie wieder gemeinsam tanzen. Solange, bis erneut etwas Unerwartetes geschieht und ein zweites weißes Monster auftaucht.

Die clevere Lichtregie (Eric Vanpouille), die die Szenerie von kühlem Blau manchmal in bedrohliches Rot eintaucht, sowie die Komposition von Emre Sevindik, in der auch zeitgenössische Klänge auftauchen, die Kinderohren vielleicht noch nicht oft gehört haben, machen die Inszenierung zu einem kleinen Gesamtkunstwerk.

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